Franz Beckenbauer: „Was wollt ihr denn noch mehr?“
Jahrhundertfußballer Franz Beckenbauer über die wichtigste Neben- und einige Hauptsachen der Welt: Warum Österreichs Kicker viel besser sind als ihr Ruf und die deutschen die Zukunft verschlafen haben. Das Interview erschien 2001.
Franz Beckenbauer ist tot. Die deutsche Fußball-Legende starb am Sonntag im Alter von 78 Jahren. Weltweit gehörte Beckenbauer zu den Allergrößten im Fußball und wurde als Spieler und Trainer Weltmeister.
Was ist für Sturm Graz nach dem Sieg gegen Panathinaikos Athen in der Champions League noch drin?
Beckenbauer
Die zweite Runde der Champions League zu erreichen, das ist für einen Klub aus so einem kleinen Land eigentlich schon mehr, als man erwarten darf.
Mehr ist nicht realistisch?
Beckenbauer
Schauen Sie: Die Erwartungen in Österreich sind viel zu hoch. So ein kleines Land, so ein kleiner Markt, daher wenig Geld, dazu eine lange Winterpause: Was wollt ihr denn noch mehr?
Wahrscheinlich wollen wir wieder ein Wunderteam.
Beckenbauer
Ein Wunderteam wird's nie mehr geben. Dazu sind die finanziellen Unterschiede zwischen den kleinen und den großen Fußballländern viel zu groß geworden. Damals und auch 1954, als Österreich WM-Dritter war, gab es fast nur Amateure. Da hat das Geld keine Rolle gespielt. Daher waren die Unterschiede zwischen den großen und den kleinen Ländern nicht so groß. Aber heute müsst ihr euch mit den Kleinen vergleichen, mit der Schweiz oder mit Norwegen. Und im Vergleich zu denen steht Österreich ohnehin sehr gut da.
Wir vergleichen uns halt so gern mit Deutschland.
Beckenbauer
Mit den fünf großen Fußballländern, mit Spanien, Italien, England, Frankreich und Deutschland, wird Österreich nie mehr mitkönnen. Die Zeiten sind vorbei. Da habts ihr keine Chance.
Zweitklassig auf ewig?
Beckenbauer
Was heißt da zweitklassig: Ich kann die Klagen der Österreicher nicht verstehen, die ewige Jammerei, wie schlecht euer Fußball angeblich ist. Was Sturm Graz international erreicht hat, ist doch super. Wer hätte das je für möglich gehalten?
Was würden Sie tun, wenn Sie Teamchef Otto Baric wären?
Beckenbauer
Otto Baric ist um seinen Job nicht zu beneiden. Wie gesagt: Die Erwartungen sind zu hoch, das Geld ist zu wenig.
Der deutsche Bundesliga-Abstiegskandidat Energie Cottbus bekommt heuer bereits mehr Geld für die TV-Rechte seiner Spiele als alle Vereine der österreichischen Bundesliga zusammen. Wo wird das enden?
Beckenbauer
Die finanziellen Unterschiede werden noch größer werden. Selbst wir in Deutschland holen aus den Fernsehrechten zu wenig heraus. Die Briten, Spanier und Italiener kassieren viel mehr, weil die viel mehr Pay-TV haben. In diese Richtung wird's gehen, und da sind die kleinen Länder natürlich benachteiligt. Aber es geht nicht anders, das ist der Trend. Da kommen kleine Länder einfach nicht mit.
Andererseits ist Wien die einzige Fast-zwei-Millionen-Stadt Europas ohne europäischen Spitzenklub. Panathinaikos Athen, der Champions-League-Gegner von Sturm Graz, hat ein dreimal so hohes Budget wie Rapid Wien. Und Athen ist nicht größer als Wien, und Griechenland hat auch nur zehn Millionen Einwohner.
Beckenbauer
Früher hätte ich gesagt, Wien hat zu viele Klubs. Aber das ist ja heute nicht mehr der Fall.
Was ist dann der Grund?
Beckenbauer
Ich weiß es auch nicht. Aber vielleicht gibt's einfach zu viel Kultur in Wien, sodass der Sport zu wenig Beachtung findet.
profil: Würde eine Europameisterschaft im eigenen Land Österreichs Fußball was bringen?
Beckenbauer
Natürlich, genauso wie die WM 2006 für Deutschland eine Menge bringen wird.
profil: Wird diese WM dem deutschen Fußball wirklich nützen?
Beckenbauer
Sicher. Erstens ist Deutschland als Veranstalterland automatisch bei der WM dabei, wir brauchen uns also nicht zu qualifizieren. Das ist ja schon was. Zweitens bringt die WM natürlich auch neue Stadien, eine bessere Infrastruktur und so weiter.
profil: Weit ist's gekommen, dass Deutschland Angst haben muss, in der WM-Qualifikation möglicherweise zu scheitern!
Beckenbauer
So schlecht sind wir ja auch wieder nicht: Im Klubfußball sind wir nach wie vor gut. In der Nationalmannschaft haben wir Probleme, das stimmt. Aber die haben wir schon viel länger, als sie der Öffentlichkeit bewusst sind. Wir sind ja schon 1994 im Achtelfinale der WM ausgeschieden. Dann sind die Schwächen noch einmal kaschiert worden durch den Europameistertitel 1996. 1998 ist dann endgültig jedem das Licht aufgegangen, dass etwas nicht stimmt.
profil: Was ist falsch gelaufen in Deutschland?
Beckenbauer
Wir haben uns zu lange zurückgelehnt. Jahrzehntelang haben alle den deutschen Fußball und das deutsche Nachwuchsförderungssystem, das ja einst gut war, kopiert. Und dann haben sie uns überholt, weil sie unser System weiterentwickelt haben. Vor allem die Franzosen sind uns heute voraus.
Was machen die Franzosen so viel besser als die Deutschen oder die Österreicher?
Beckenbauer
Sie haben viel mehr Internate und fußballbezogene Schulen, übers Land verteilt sind es über 400. Wenn du dort kein Internat hast als Spitzenklub, kriegst du gar keine Lizenz.
Warum braucht man unbedingt eigene Fußballschulen und Internate? Früher gab's die ja auch nicht.
Beckenbauer
Die Fußballschulen braucht man, weil man heute die Kinder über die Schule an den Fußball heranführen muss. Zu meiner Zeit war's noch so, dass wir selber irgendwo hingegangen sind und gefragt haben, ob wir mitspielen dürfen. Wir haben jeden Tag zwei, drei Stunden Fußball gespielt als Kinder, sonst gab es ja nicht viel. Heute gibt es so viele andere Unterhaltungsmöglichkeiten für die Kinder, heute muss man sie ködern und ihnen das Fußballspielen in der Schule schmackhaft machen. Und die Internate sind nötig, um echte Elitespieler heranzubilden.
Kann man die Balltechnik, die Fußballer wie Sie von frühester Kindheit an beim täglichen Kicken auf der Wiese oder auf der Straße gelernt haben, überhaupt in einer Fußballschule lernen?
Beckenbauer
Ja, aber die Jungen müssen schon sehr früh ins Internat, am besten mit zehn, spätestens mit zwölf Jahren.
profil: Was kann ein Mini-Land wie Österreich machen, um wieder bessere Fußballer zu bekommen?
Beckenbauer
Im Prinzip das Gleiche wie Deutschland: den Nachwuchs besser ausbilden. Frank Stronach, den ich einmal in Kitzbühel getroffen habe, probiert das ja.
Aber kann jemand wie Stronach, der nie wirklich was mit Fußball zu tun gehabt hat, etwas weiterbringen?
Beckenbauer
Wenn er die richtigen Leute hat und auf sie hört, dann schon. Nur als er gemeint hat, Österreich kann Weltmeister werden, da hab ich gesagt: Frank, das ist ein Blödsinn, das geht nicht.
Warum, glauben Sie, freuen sich eigentlich die Österreicher, wenn die deutschen Fußballer verlieren?
Beckenbauer
Alle freuen sich nicht, glaube ich.
Aber die meisten.
Beckenbauer
Das ist halt die besondere Rivalität zwischen Nachbarn.
Es soll ja auch Bayern geben, die sich freuen, wenn die Ösis eins aufs Dach kriegen.
Beckenbauer
Kann schon sein, dass es da immer wieder ein paar hämische Kommentare gibt ...
Was sagen Sie denn als Deutscher, der in Kitzbühel wohnt, zu dem, was sich in Österreich politisch abgespielt hat in den vergangenen zwölf Monaten?
Beckenbauer
Ich hab den ganzen Rummel um den Haider völlig übertrieben gefunden: Es ist doch verrückt, wenn sich ganz Europa vor einem einzigen Menschen fürchtet, vor einem aus einem Land mit acht Millionen Einwohnern.
Vielleicht fürchtet sich Europa ja nicht so sehr vor Österreich, sondern davor, dass etwas Ähnliches wie Haiders Aufstieg bei Ihnen in Deutschland passieren könnte.
Beckenbauer
Das, worauf Sie anspielen, wird in Deutschland mit Sicherheit nicht mehr passieren. Wir haben unsere Lektion aus der Geschichte gelernt. Glauben Sie mir das.
Was hat sich denn im Fußball seit der Zeit, als Sie noch gespielt haben, am meisten verändert?
Beckenbauer
Am stärksten hat sich auf jeden Fall die Medienlandschaft verändert. Als ich angefangen habe, das war 1963, da haben beim Training eine Hand voll Rentner zugeschaut, die hast du alle gekannt und gegrüßt. Heute können die Spieler kaum aus dem Auto aussteigen, wenn sie zum Training kommen, weil da zehn Fernsehkameras sind, dutzende Fotografen und dutzende Reporter. Heute sind beim Training des FC Bayern 2000 Zuschauer, in der Ferienzeit 5000, mehr als bei euch bei so manchem Bundesligaspiel.
Sie selber haben dank dieses Medienrummels in Deutschland einen Status erreicht wie in Österreich Hans Krankl, Hermann Maier und Niki Lauda zusammen.
Beckenbauer
Das kann ich nicht beurteilen.
Auf jeden Fall werden Sie vom SPD-Bundeskanzler genauso hofiert wie vom CSU-Ministerpräsidenten.
Beckenbauer
Das hängt weniger mit mir als mit der gesellschaftlichen Aufwertung des Fußballs zusammen. In den fünfziger Jahren haben sie den FC Bayern in Luxushotels nicht hineingelassen, eine Fußballmannschaft hatte dort nichts verloren. Der Fußball ist erst in den siebziger Jahren gesellschaftsfähig geworden.
Wie haben Sie den sozialen Aufstieg persönlich erlebt?
Beckenbauer
Mein erster Vertrag beim FC Bayern war ein Halbprofi-Vertrag, mit 400 Mark im Monat. Einige Jahre später, in der Bundesliga, hab ich dann ein paar tausend Mark verdient, dann wurde es mehr, später kamen die Werbeeinnahmen dazu. Ich bin sozusagen gemeinsam mit dem Fußball sozial aufgestiegen.
Der Unterschied zu heute?
Beckenbauer
Der Hauptunterschied ist, dass schon bei den Jungen das große Geld im Spiel ist. Deshalb kann man einem jungen Spieler oft gar nicht böse sein, wenn er den Boden unter den Füßen verliert.
Es hat aber auch vor 30 Jahren schon geheißen, das Geld macht den Fußball kaputt.
Beckenbauer
Ja, und er lebt immer noch hervorragend.
Wie sehen Sie denn rückblickend den Fall Daum, jetzt, nachdem Daum zugegeben hat, Kokain konsumiert zu haben?
Beckenbauer
Darüber ist schon so viel gesagt und geschrieben worden, dass ich keine Notwendigkeit für neue Kommentare sehe.
Sie und der FC Bayern haben aber doch maßgeblich daran mitgewirkt, dass Daums Kokain-Geschichte bekannt und er nicht Bundestrainer wurde. Wie würden Sie reagieren, wenn er irgendwann sagt: So, ich bin jetzt weg von dem Zeug, jetzt will ich Bundestrainer werden?
Beckenbauer
Er ist ein ausgezeichneter Trainer. Ich hoffe, dass er seine persönlichen Probleme in den Griff kriegt und irgendwann auch wieder als Trainer zurückkommt.
Kann er irgendwann noch deutscher Bundestrainer werden?
Beckenbauer
Diese Frage stellt sich derzeit nicht.
War die ganze Drogendiskussion um Christoph Daum nicht von einer furchtbaren Scheinheiligkeit geprägt?
Beckenbauer
Scheinheiligkeit sehe ich keine. Was mich betrifft, hab ich vielleicht ein bisserl zu viel geredet. Den Vorwurf kann man mir machen. Aber wenn ich im Stadion bin und es fragt mich jemand, dann geb ich halt eine Antwort. So bin ich halt.
profil: Aber Sie kennen doch sicher, genauso wie ich, eine Menge Leute, die ab und zu mal koksen.
Beckenbauer
Ich kenne überhaupt niemand.
Das glaub ich Ihnen nicht.
Beckenbauer
Nein, ich kenn keinen. Kennen heißt, dass man es sicher weiß. Nicht, dass man es nur vermutet aufgrund irgendwelcher Gerüchte. Und die Medienhysterie, die um den Fall Daum entstanden ist, für die kann ich nichts.
Ihr eigenes Privatleben ist wegen Ihres jüngsten Sohnes vor einigen Wochen von den Medien auch ziemlich ausgebreitet worden.
Beckenbauer
Manchmal passiert halt was im Leben, womit man nicht rechnet, und dann muss man da durch. Ich steh halt in der Öffentlichkeit, und da ist es klar, dass sich die Presse mit Begeisterung draufstürzt auf so etwas. Aber eigentlich ist das natürlich alles Privatsache.
Andere wären wohl länger durch den Kakao gezogen worden als der Kaiser der Fußball-Monarchie Deutschland.
Beckenbauer
Ich hab die Zeitungsberichte gar nicht so verfolgt. Aber wenn man sich anschaut, mit welcher Hysterie sich die Medien auf die Becker-Scheidung gestürzt haben, dann ist das natürlich alles ein Wahnsinn.
Wie geht's eigentlich Ihrem älteren Sohn? Von dem hat es ja geheißen, er könnte einmal ein Spitzenfußballer werden.
Beckenbauer
Er hat sogar in der Bundesliga gespielt. Jetzt ist er Jugendtrainer beim FC Bayern.
Einen zweiten Weltklasse-Fußballer mit dem Namen Beckenbauer wird es also nicht geben?
Beckenbauer
So schnell noch nicht.
Interview: Reinhard Christl