Wenn Frauen zu Mörderinnen werden
Vergangenen Montag stellte sich kurz nach 23 Uhr eine 59-jährige Frau in der Polizeiinspektion Pappenheimgasse im 20. Wiener Gemeindebezirk. Sie gab an, kurz zuvor einen Mann mit einem Messer in den Rücken gestochen zu haben. Das Opfer, ihr Ex-Mann, war mit der Tatwaffe im Rücken aufgefunden und ins Spital gebracht worden. Die Frau hatte, wie sie den Kriminalbeamten gestand, dem Mann im Stiegenhaus seines Wohnhauses aufgelauert, in der Absicht, ihn zu töten.
Einen Tag darauf ereignete sich in Wien die nächste Messerattacke einer Frau: In einem Lokal am Alsergrund stand kurz vor Mitternacht eine Frau von einem Tisch auf und ging einem Mann nach, um ihm noch im Lokal zwei lebensgefährliche Stichverletzungen in der Halsgegend mit einem Küchenmesser zuzufügen. Danach schloss sie sich im Damenklo ein und verletzte sich selbst schwer. Laut Ermittlungen standen Täterin und Opfer in keiner Beziehung zueinander. In diesem Fall vermuten die Beamten eine Psychose, also eine Irreleitung des Gehirns in Form von Wahnvorstellungen.
Wären diese Messerattacken von Männern ausgeführt worden, hätten sie wenig Markanz besessen. Eifersüchtige Männer, die abtrünnige Partnerinnen oder Rivalen niederstechen, niederschießen oder würgen, sind in den medialen Chronikteilen an der Tagesordnung. Doch direkt ausgelebte Aggressivität bei Frauen ist eine Seltenheit, die aufhorchen lässt.
"Es gibt dazu noch keine validen Studien", so die deutsche Psychologin und Autorin von "Psychopathinnen", Lydia Benecke, "aber in der Fachpresse liest man immer wieder, dass in den letzten Jahren Frauen vermehrt Schusswaffen und Messer benutzen, was man sich mit der wachsenden Emanzipation erklären könnte."
"Hintergründig männerfeindliche" Rechtssprechung?
Dass sich die Forschung bislang mit größerer Verve der Untersuchung männlicher Täterwelten zugewandt hat, ist statistisch zu argumentieren. Die deutsche forensische Psychiaterin Hanna Ziegert, die gemeinsam mit ihrer Tochter Nora Ziegert, einer Juristin, ihre beruflichen Erfahrungen mit der weiblichen Dimension des Bösen in dem Buch "Die Schuldigen" niederschrieb, geht sogar so weit, die Rechtssprechung in einem "Weltwoche"-Interview als "hintergründig männerfeindlich" zu bezeichnen: "Nicht nur im Umgang mit Straftätern wird deutlich, dass wir allzu oft Mann und Frau in bewährte Täter- und Opferrollen einordnen, ohne ihr Handeln im Einzelnen zu hinterfragen."
Dennoch: Im Vergleich zu männlichen Tätern ist die Zahl weiblicher Tötungsdelikte minimal. In den letzten vier Jahrzehnten, so eine Studie der Universität Boston, in der sämtliche Morddaten des FBI im Zeitraum 1976 bis 2015 analysiert wurden, waren in 75 Prozent der Fälle sowohl auf Täter-wie auch auf Opferseite Männer involviert. Etwa 90 Prozent aller Täter waren männlich, aber auch die Opfer waren zu 81 Prozent Männer. Wenn Frauen töteten, dann waren die Leidtragenden zu 78 Prozent ebenfalls Männer. Das statistische Fazit der Autoren James Alan Fox und Emma E. Fridel, die damit eine erste Langzeit-Studie zum geschlechtsspezifischen Verhalten bei Tötungsdelikten in den USA vorlegten: Männer begehen zehn Mal so oft Morde wie Frauen, werden aber auch vier Mal so oft Opfer einer tödlichen Gewalttat. Der geschlechtsspezifische Motivunterschied, so die Bilanz des Duos, die sich auch mit den anderen Interview-Partnern deckt: "Frauen benutzen Gewalt in der Regel als letzten Ausweg, Männer, um ihre Macht zu demonstrieren." Zurzeit sitzen in deutschen Gefängnissen 3100 Frauen und 51.000 Männer ihre Strafe ab. Laut der Statistik der Gewaltschutzzentren Österreichs waren die insgesamt 24 Opfer der mit 2017 datierten Beziehungsmorde ausschließlich Frauen; 2016 wurden 18 Frauen von Partnern oder Ex-Partnern getötet, aber nur zwei Männer von ihren ehemaligen oder aktuellen Gefährtinnen. Dennoch ist die forensische Psychiaterin Heidi Kastner, die unter vielen anderen die "Eissalon-Mörderin" Estibaliz Carranza begutachtete, überzeugt: "Frauen stehen Männern in ihrer Gewaltbereitschaft um nichts nach, nur haben sie, körperlich bedingt, nicht die gleiche Möglichkeit, ihre Aggressionen auszuleben."
Eine Ansicht, die der langjährige Potsdamer Strafverteidiger Veikko Bartel, der die Lebenswelten seiner Täterinnen anonymisiert in dem kürzlich erschienen Band "Mörderinnen" schildert, im profil-Interview so kommentiert: "Ich bin überzeugt davon, dass Frauen eine weitaus größere Leidensfähigkeit besitzen und weit mehr Kränkungen hinnehmen, ehe sie sich in einer Tat entladen." Aber sie seien manchmal durchaus in der Lage, "dieses Kraftdefizit" durch "besondere Hinterhältigkeit und Perfidie" auszugleichen: "Vereinfacht ausgedrückt: Männer schlagen sich zwar vielleicht gegenseitig den Schädel ein, können aber danach durchaus auf ein Bier miteinander gehen. Frauen bringen jemand um und foltern den posthum auch noch."
Die größte Gefahr für beide Geschlechter bergen in jedem Fall jene Menschen, die von ihnen verlassen wurden oder sich in aufrechter Beziehung betrogen und hintergangen fühlen.
"Da war Schmerz, Schock, Eifersucht, alles."
Der dritte Fall weiblicher Gewalt in der vergangenen Woche in Österreich manifestierte sich medial in Form von Prozessberichten: In Sankt Pölten wurde eine 35-jährige Tschechin zu 24 Monaten teilbedingt wegen versuchter Körperverletzung verurteilt. Sie war in Waidhofen an der Ybbs auf ihren Ex mit seiner neuen Freundin mit dem Auto zugefahren, die beiden konnten gerade noch rechtzeitig zur Seite springen. Umbringen, so Dagmar M. schluchzend im Gerichtssaal, wollte sie den Mann damals mit Sicherheit nicht, nur "dass er merkt, dass ich auch noch da bin". Der Rechtfertigungsgrund der Verlassenen: Als sie erfahren hatte, dass ihre Nachfolgerin bereits die Mutter kennt und die neue Beziehung also ernster war, als sie erhofft hatte, habe sie rot gesehen: "Da war Schmerz, Schock, Eifersucht, alles." Die wichtige Fußnote zu diesem Fall ist die Tatsache, dass Dagmar M. im Vorfeld von ihrem späteren Opfer immer wieder geschlagen worden war und sie deswegen sogar ins Krankenhaus musste.
In seiner Dokumentation "Überleben in Armut" lässt der Filmemacher Kurt Bauer eine vielfache Mutter und einfache Mörderin in Rumänien zu Wort kommen, die ihren Mann mit dem Bügeleisen erschlagen und ihm danach die Kehle durchgeschnitten hatte. Domna Elisabetha ist nach sechs Jahren in Haft wieder auf freiem Fuß und erzählt emotionslos in die Kamera von der Vorgeschichte zur Tat, von den Misshandlungen und Vergewaltigungen, die sie und ihre Kinder seitens des Mannes zu erdulden hatten. Ihr Bericht endet mit den noch immer von einem gewissen Stolz getragenen Worten: "Und dann war er kaputt."
Solche Geschichten, denen eine langjährige via dolorosa voller Demütigungen vorangegangen ist und die Explosion in die Tat als eine nahezu logische Konsequenz erscheinen lassen, stellen nur eine Facette weiblicher Gewalt dar. Aber das gängige Klischee unter Forensikern, dass Opfer von sexuellem und körperlichem Missbrauch sich im späteren Leben die Kontrolle über ihr Schicksal wieder zurückerobern wollen, indem sie zu Tätern werden, hat in vielen Fällen seine Richtigkeit. Die statistisch schockierende Erkenntnis: Nur bei einem Opfertypus sind Täterinnen Tätern zahlenmäßig weit überlegen: Für Kinder können Mütter wesentlich gefährlicher werden als Väter. Zwei Drittel aller Kindsmorde werden von der Mutter ausgeführt, bei Tötungsdelikten von Kindern unter einem Jahr erhöht sich die Zahl sogar auf 80 Prozent, die häufigste Methoden sind dabei Ersticken oder Ertränken.
Die Frau, die ihr Kind kochte, war auch jener Fall des Strafverteidigers Veikko Bartel, gegen dessen Übernahme seine gesamte vorrangig weibliche Crew anfangs heftig protestiert hatte: "Ich verteidige nie die Tat, sondern immer nur den Menschen. Schrifsteller und Strafverteidiger sind sich ähnlich: Die Strafakte ist ja wie das Ende eines Romans, und die Geschichte muss dann rückwärts erzählt werden, um zu begreifen, wie was passieren konnte." Jene Elvira P., die in den Boulevardmedien als "Monster, das ihr Baby kochte" vorgeführt wurde, litt mit ihrem Mann an großen finanziellen Sorgen. Sie bekannte während des Prozesses voll Selbsteinsicht: "Wir sind arm und dumm." Aber sie besaß de facto ein intaktes Familienleben: zwei Kinder, eine liebevolle Beziehung mit ihrem immer wieder arbeitslosen Mann. Aus Angst, ihren prekären Job in einer Großküche zu verlieren, musste sie ihrem Chef sexuell zur Verfügung stehen. Dass sie im Zuge dieser Demütigungsakte von ihrem Vorgesetzten schwanger wurde, lernte sie erst begreifen, als alles schon zu weit fortgeschritten war. Sie brachte das Kind allein in einer Kammer zur Welt und erstickte den männlichen Säugling, kaum dass er das Licht der Welt erblickt hatte. Später warf sie den Leichnam des Babys in einen Kochtopf in der Großküche und kippte ihn danach in die Toilette. Nach zwei Jahren Haft wegen Totschlags wurde die Frau vorzeitig entlassen. "Für sie war das Kind immer nur ein Ding gewesen, dessen man sich entledigen musste", so Bartel. "Als der Hintergrund herauskam, warum sie so gehandelt hatte, hat jedoch kein Reporter mehr ein Wort darüber verloren. Davor haben sie genüsslich über das Monster berichtet."
"Betörender wie verstörender Gegenentwurf zur männlichen Gewalt"
"Verdeckte Gewalt" (Lydia Benecke) und "versteckte destruktive Aggression" (Hanna Ziegert) seien durchaus verbrecherische Facetten, in denen Frauen den Männern überlegen sind - vor allem in den Domänen Manipulation, Raffinesse und Erfindungsreichtum. In Asien tötete zum Beispiel eine Frau ihren Mann, indem sie ihm beim Küssen eine Zyankalikapsel in den Schlund stieß. Das "Münchhausenby-Proxy-Syndrom", zur Zeit die It-Störung in TV- Serien (z. B. in der HBO-Serie "Sharp Objects"), wo Frauen Schutzbefohlene wie Kinder oder Patienten langsam vergiften oder verletzen, um selbst mehr Anerkennung zu bekommen und diese Menschen abhängig zu machen, ist eine nahezu ausschließlich weibliche Domäne. Die "tötende Frau", so der deutsche Experte für Serienkiller und Düsseldorfer Kriminalhauptkommissar Stephan Harbort, der in seinem vierten Buch "Killerfrauen" das Phänomen weiblicher Serienmörder untersucht, "ist der so betörende wie verstörende Gegenentwurf zur männlichen Gewalt, die als gesellschaftlicher Maßstab für Normverletzung und Unterdrückung gilt."
Lange Zeit war es ein weit verbreiteter Mythos, dass serielles Morden bei Frauen kaum vorkommt. Dass Aileen Wuornos, die US-Prostituierte, die sieben Männer erschossen hatte und 2002 nach zehn Jahren Haft mit einer Giftspritze in Florida hingerichtet wurde, mit dem Etikett "erste weibliche Serienkillerin" versehen worden war, war ein PR-Gag für die Filmpromotion von "Monster" (mit Charlize Theron in der Rolle der Mörderin) und entsprach nicht der Wahrheit. In der jüngeren Kriminalgeschichte stehen 185 bekannte Serienkiller 38 weiblichen Pendants gegenüber. Die erste dokumentierte Serienmörderin ist die gebürtige Norwegerin Belle Gunness, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA 16 Menschen, darunter ihre beiden Kinder und ihren Ehemann, vergiftet hatte. Wäre Estibaliz Carranza, die als "Eissalon-Mörderin" 2012 in die österreichische Kriminalgeschichte einging und sowohl ihren geschiedenen Mann als auch den Lebensgefährten erschossen und ihre Leichenteile in der Kellerwand einbetoniert hatte, nicht durch einen Zufall gestellt worden, hätte sie durchaus das Zeug zur Serienkillerin gehabt. Ihre psychiatrische Gutachterin Heidi Kastner klassifizierte die zu lebenslanger Haft Verurteilte als "brandgefährlich" und attestierte ihr eine "Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, histrionischen und dissozialen Elementen."
Eine Histrionikerin, wie aus dem Bilderbuch der Persönlichkeitsstörungen entsprungen, war auch die inzwischen verstorbene "Schwarze Witwe" Elfriede Blauensteiner, deren größte Enttäuschung 1996 nicht die lebenslange Haft war, sondern die Tatsache, dass nicht Liz Taylor, sondern "nur" Christiane Hörbiger sie in einer Verfilmung darstellen sollte. Nachgewiesen konnten Blauensteiner drei Giftmorde werden, unter Verdacht stand sie auch bei weiteren mysteriösen Todesfällen.
Als die "Killer-Omi", wie sie im Boulevard gerne bezeichnet wurde, während des Prozesses vom Richter gefragt worden ist, warum sie, als der angeblich so geliebte Mann Friedrich Döcker bereits im Sterben lag, munter das Casino besuchte und bereits ein neues Kontaktinserat geschaltet hatte, antwortete sie kalt in die Menge lächelnd: "Zur Zerstreuung Was soll ich denn machen? Ich kann ja nicht ins Kaffeehaus gehen, weil ich den Kaffee nicht vertrag. Und rauchen tu ich auch nicht."
Der Kommissar und Serienmörder-Spezialist Stephan Harbort ist überzeugt, dass "allein in Deutschland geschätzte 20 Serienkillerinnen unentdeckt ihr Unwesen treiben". Bevorzugte Methode nach wie vor: Gift.
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