Adi Hütter, der Trainer der Stunde
Der deutsche Fernsehkommentator war fassungslos. Eintracht Frankfurt lag im Europa-League-Viertelfinale bei Benfica Lissabon 1:4 zurück und spielte nach einer roten Karte mit einem Mann weniger. Anstatt das eigene Tor zu verteidigen, stürmte das Team von Adi Hütter wie von Sinnen nach vorn. Der Fernsehsprecher flehte, man solle doch um Himmels willen das Ergebnis verwalten und auf das Rückspiel hoffen. Doch der österreichische Trainer wollte alles oder nichts; und sein Plan ging auf. Sein Team erzielte einen zweiten Treffer, der im Rückspiel für den Einzug ins Halbfinale reichte – dem größten Erfolg des Vereins seit beinahe 40 Jahren.
Adi Hütter, 49, geboren in Hohenems, 14-facher österreichischer Teamspieler, ist der neue Trainerstar der Deutschen Bundesliga, obwohl er im Gegensatz zum Fußballphilosophen Pep Guardiola, dem cholerischen Krieger Jürgen Klopp oder dem lustigen Christian Streich nicht zur Medienfigur taugt. Hütter wirkt wie ein korrekter Geografie-Lehrer, ist höflich, freundlich und kontrolliert. Sein wertvollstes Atout ist inhaltlicher Natur: Er lässt aufregenden Rambazamba-Fußball spielen – und hat damit sein eigenes Geschäftsmodell geschaffen.
Der Weg zum Erfolg wird im modernen Fußball sehr unterschiedlich definiert. Es geht um Grundsätzliches. Die einen denken: Der Schlüssel zum Sieg liege im Verteidigen des eigenen Tors. Nach dem Motto: Hinten dicht machen und kontern bedeutet weniger Risiko als vorne draufgehen und ausgekontert werden. Es gibt aber immer mehr Trainer, die eine Gegenthese vertreten: Angriff ist die beste Verteidigung. Auch Adi Hütter ist überzeugt, dass das zögerliche Abwarten im eigenen Strafraum riskanter ist, als das gegnerische Tor unter Beschuss zu nehmen. Sein Credo klingt, als wäre es einem Lebensratgeber entnommen: „Mut zum Risiko, keine Angst vor dem Scheitern.“
"Das offensive Spiel passt zu meiner Denkweise“
Als der Vorarlberger – seine Frau und Tochter leben in Salzburg – im vergangenen Sommer nach Frankfurt kam, änderte er sofort die Programmierung der Mannschaft, die unter seinem Vorgänger Niko Kovač defensiven Konterfußball praktiziert hatte. „Das offensive Spiel passt zu meiner Denkweise“, erklärt Hütter im profil-Gespräch. Offensichtlich passt es auch zu seiner Mannschaft. Mit mutigem Angriffsfußball hat Hütter den traditionsreichen deutschen Mittelständler, den Neunten der ewigen Bundesliga-Tabelle, ins Europacup-Halbfinale und auf einen Champions-League-Platz geführt. Einige aktuelle Kennzahlen seiner Arbeit: 7:1 gegen Düsseldorf, 4:1 gegen Lazio Rom, 4:0 gegen Olympique Marseille. Unter seinem Vorgänger hatte der Verein den DFB-Pokal gewonnen und den respektablen achten Platz in der Liga erreicht, doch nun spielt sich die Eintracht in neue Dimensionen vor: sportlich und ästhetisch. „Hütter denkt total mutig“, beschreibt es Jan Christian Müller, Sportjournalist bei der „Frankfurter Rundschau“: „Und davon hat die gesamte Mannschaft, hat jeder Spieler profitiert.“ Der serbische Stürmer Luka Jović trifft unter Hütter am laufenden Band – und wird der Eintracht bald viel, viel Geld einbringen. Hütters erfrischender Fußballstil erfreut nicht nur das Publikum, sondern auch die Vereinskasse.
Seine Vorliebe für mutigen Fußball entwickelte Hütter schon während seiner Spielerkarriere, in der er oft von ängstlichen Männern trainiert wurde, die nicht an die eigene Mannschaft glaubten. Hütter hat diese Haltung immer abgeschreckt. Inspiriert habe ihn dagegen der Slowene Milan Miklavic beim Grazer AK, der ein Fan von dominantem Pressing-Fußball war – jener Stilrichtung, bei der Fußballer wie Krieger losstürmen und Gegenspieler im Stile wild gewordener Stiere anlaufen.
Als Trainer wurde Hütter schnell klar, dass er das Publikum nicht mit Schlafwagen-Fußball langweilen wollte. Das klappte besser als gedacht: Mit dem Salzburger Dorfklub SV Grödig schaffte er 2013 mit gepflegtem Kombinationsspiel den Aufstieg in die Bundesliga. Aber Hütter gab sich damit noch nicht zufrieden und entwickelte eine Strategie, um gegen die Großen zu bestehen. „Ich wollte keinen Außenseiter-Fußball spielen lassen“, sagt Hütter, „sondern auch als Aufsteiger alle angreifen.“ Viele im Verein, auch die Spieler, schüttelten den Kopf, als Hütter den besten Torschützen des Teams verkaufte, weil dieser für die neue Spielweise zu langsam war. Doch Hütter behielt recht und wurde mit Grödig hinter den Ligagrößen Red Bull Salzburg und Rapid Wien sensationell Dritter. „Wir haben im Hanappi-Stadion so hohes Pressing gespielt, dass sich die Rapidler gar nicht mehr ausgekannt haben.“
Teil der Salzburger Wunderelf
Hütter ärgert sich noch heute, dass er als Spieler diesen Mut nicht hatte. Als er in den 1990er-Jahren vom damals furios aufspielenden SV Salzburg zu 1860 München hätte wechseln können, zog er das gemachte Nest in Österreich dem Abenteuer in Deutschland vor. Hütter war Teil der Salzburger Wunderelf, die 1994 bis ins UEFA-Cup-Finale stürmte, ein rustikaler Mittelfeldmann mit hartem Schuss. Er galt als Leithammel, der bei seinen Mitspielern Gehör fand. Seine Eltern stammen aus der Steiermark, wanderten aber früh nach Vorarlberg aus, um in den Nachbarländern auf Jobsuche zu gehen. Er selbst lernte den Beruf des Großhandelskaufmanns. Heute, sagt Hütter, möchte er seinen Spielern „die Haltung vermitteln, an etwas zu glauben“. Dafür versucht er, ihre Denkroutinen neu zu programmieren. Unter seinem Vorgänger liefen die Spieler nach Ballverlust zurück, um zu verteidigen. Nun sollen sie sofort wieder angreifen – ein Reflex, dessen Umpolung viel Übung benötigt. Manchmal klingt Hütter wie ein Guru, wenn er von der Implementierung einer Siegermentalität spricht. Es gehe nicht darum, ein Spiel nicht zu verlieren, sagt er, „sondern darum, es zu gewinnen“.
Während einstige Fußballhelden oft noch als Trainer gerne aufs Feld laufen würden, um ein Spiel höchstpersönlich zu drehen, begann Hütter bereits am Ende seiner Spielerkarriere, wie ein Coach zu denken. „Als Trainer kann ich mehr bewegen als zu Spielerzeiten“, betont er. Schnell erkannte er, dass „der Job komplett anders ist als der des Fußballers. Man darf sich nicht nur darauf verlassen, was man als Spieler gelernt hat, sondern muss das Trainer-Handwerk erlernen.“ Hütter lernte schnell.
Sein Plan, einmal einen deutschen Bundesligisten zu trainieren, wurde immer realistischer. Die Erfolge beim SV Grödig weckten das Interesse von Ralf Rangnick, dem RB Salzburg-Sportchef und großen Förderer des überfallsartigen Pressing-Stils. Hütter hatte mit seiner Spielweise eine Marke geschaffen, die ihn auf die Wunschzettel großer Vereine brachte. Von Salzburg wechselte er nach dem Gewinn der Meisterschaft und zahlreichen Einmischungen des pedantischen Rangnick in die Schweiz zu YB Bern, wo Hütter tat, was er immer tut: seinen Hauruck-Fußball implementieren. Bern wurde nach 32 Jahren erstmals wieder Meister, und Hütter verfestigte seinen Ruf als moderner Offensivapostel.
Noch vor wenigen Jahren waren österreichische Trainer im Ausland nicht sehr gefragt. „Übertrieben gesagt, müsste ich mit der Admira die Meisterschaft gewinnen, Champions League spielen und dort ins Viertelfinale kommen“, beklagte Didi Kühbauer einmal seine fehlenden Chancen im globalen Fußballgeschäft. Die Zeiten haben sich geändert. Peter Stöger trainierte den 1. FC Köln und Borussia Dortmund, Ralph Hasenhüttel RB Leipzig und derzeit in England den FC Southampton, Oliver Glasner wechselt in der kommenden Spielzeit vom Linzer ASK zum VfL Wolfsburg.
Österreichische Trainer begehrt
Früher fischten Fußballklubs in den immer gleichen Gewässern. Meistens wurde ein verdienter Ex-Spieler auf die Betreuerbank gesetzt. Heutzutage wird der Trainermarkt nach genau definierten Anforderungsprofilen durchleuchtet. „In Frankfurt haben sie viele Informationen über mich eingeholt“, erzählt Hütter, „und meine Spielweise war ihnen natürlich bekannt.“ Die Tageszeitung „Die Welt“ titelte zuletzt: „Trainer aus den Alpen ersetzen deutsche Platzhirsche“. Die Vereine orientieren sich nicht mehr an Nationalitäten, sondern an Konzepten.
Hütters Spielweise ist zu seinem Geschäftsmodell geworden, das er immer weiter optimiert. Als Fußballer soll er es mit dem Zapfenstreich nicht immer so genau genommen haben, erzählen langjährige Weggefährten. Doch als der Spieler zum Trainer wurde, wandelte sich auch der Mensch Adi Hütter. Heute legt er Wert auf Disziplin und Professionalität. Wenn er seine Fußballer beim gemeinsamen Essen ohne Vereinskleidung erwischt, könne er ungemütlich werden. Mit derselben Strenge trieb er sich selbst voran.
Er erkannte, dass er als Coach anfangs zu emotional agierte. Nun erklärt er: „Ich würde niemals wie ein Hampelmann an der Seitenlinie rumturnen. Das macht die Spieler nervös.“ Wer Hütter beobachtet, bemerkt einen starken Hang zur Selbstoptimierung. Einmal ließ er sich bei einer Mannschaftsbesprechung filmen und befand sein Auftreten als nicht ausreichend. „Man entwickelt sich nur weiter, wenn man ständig reflektiert“, sagt er. Hütter hat einen eigenen Medienberater; er umgibt sich mit Sportpsychologen und Fachexperten verschiedener Disziplinen. Als er zuletzt im ZDF-„Sportstudio“ zu Gast war, konnte man sehen, wie sehr er selbst in Live-Situationen an seiner Außendarstellung feilt. Vor jeder Antwort schien er innerlich sein Gesicht durchzuschütteln, um kurz darauf den gewünscht entschlossenen Blick aufzusetzen.
In Frankfurt ist man vom perfektionistischen Hütter begeistert. „Er wird hier unglaublich geachtet“, schwärmt der Sportjournalist Christian Müller. Am Donnerstag muss der Verein im Rückspiel des Europa-League-Halbfinales an die Stamford Bridge zum englischen Weltklub FC Chelsea. Natürlich will Hütter dort „nicht nur verteidigen, sondern mutig spielen“. Tausende Frankfurter Fans werden mit nach London fliegen. Egal ob die Eintracht gewinnt oder verliert – auf eines können sie sich verlassen: Ihr Verein wird sie nicht langweilen.