Fußball-EM

Heiliger Foda, bitte für uns Sünder!

Die erste Woche der Fußball-Europameisterschaft ist vollbracht. Sebastian Hofer hat einen alten Heiland und eine neue Fußballwelt gesehen - und endlich wieder einmal etwas gehört.

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Unter den zahllosen Wundern, die der Jesus von Funchal im Lauf seines irdischen Wirkens vollbracht hat, war dieses gewiss nicht das geringste: Am vergangenen Dienstag verwandelte Cristiano Ronaldo Coca-Cola zu Wasser. Es kostete ihn nur einen Handgriff sowie ein Lausbubengrinsen, schon war die Sponsorenlimonade vom Pressekonferenztisch, und stattdessen war da: "Agua".Die Leichtigkeit, mit der es geschah, irritierte auch die internationalen Börsen, und mit gutem Grund. Immerhin wurde an diesem Dienstag der uralte Vertrauensgrundsatz zwischen Geld und Fußball, die zentrale Schnittmenge von Arbeit, Sport und Spiel, erschüttert. Am Ende stand für die Coca-Cola Company ein (wohl vorübergehender und vielleicht sogar anderweitig erklärbarer) Kursverlust von vier Milliarden US-Dollar, und keiner redete mehr vom eigentlichen Wunder jenes Dienstags: Herr Ronaldo hatte seine Tore in der Vorrundenpartie gegen Ungarn in einem vollbesetzten Stadion geschossen. Und alle, die zugesehen hatten, hatten es mit eigenen Ohren gehört: Jubel! Brüllen! Fußball!

Die um ein Jahr verspätete Euro 2020 hat also ihre erste Woche hinter sich. Es war nicht nur für die beteiligten Sponsoren eine erstaunliche Erfahrung, aber für diese doch ganz besonders. Nicht nur, dass sie sich die Bandenwerbung neuerdings mit Digital-Start-ups und chinesischen Schriftzeichen teilen müssen. Es ist auch eine gewisse weltanschauliche Dissonanz zum Werbepublikum zu spüren. Man ist einander nicht mehr ganz grün. Selbst der Volkswagenkonzern, der sich doch so redlich um Ehrlichkeit und Elektroantriebe bemüht, bekam vor dem Spiel zwischen Deutschland und Frankreich eine moralische Klimaschutzklatsche ab, die freilich ein bisschen in die Hose ging, weil ein Greenpeace-Aktivist seinen Gleitschirm nicht unter Kontrolle hatte. Gut, sagen wir: unentschieden-und entschuldigen uns für die schiefen Metaphern im vorigen Satz, aber man kommt vor lauter TikTok ja gar nicht mehr zum Nachdenken. Zum Glück funktioniert die Welt zumindest im ORF-Studio noch anständig analog, wo Herbert Prohaska seelenruhig für Kontinuität in die mittleren 1990er-Jahre sorgt.

Der Kanzler dagegen, ein Kind der 1980er-Jahre, erklärte am Donnerstag ohne jeglichen Fußballzusammenhang, aber doch allen Ernstes, dass bald alles, was Spaß mache, wieder stattfinden werde. Man kann das durchaus als Signal an die Generation TikTok verstehen. Fußballzuschauer wussten zu dem Zeitpunkt schon seit fünf Tagen, dass zwar alles Mögliche Spaß macht, aber alles lächerlich ist, wenn man an den Tod denkt. Der Herzstillstand des dänischen Kapitäns Christian Eriksen im Spiel gegen Finnland hat die Perspektive auf diese Europameisterschaft schon am zweiten Matchtag doch drastisch verändert.

Eher mentaler Natur war dagegen der Aussetzer des Marko Arnautović, aber auch dieser hat die erste Turnierwoche geprägt, weil er ein Schlaglicht auf das Verhältnis von Fußball und Welt geworfen hat, beziehungsweise auf die Grundsatzfrage, ob man das eine nun mit dem anderen verwechseln soll oder lieber nicht. Der serbischstämmige Österreicher Arnautović hat also den albanischstämmigen Nordmazedonier Ezgjan Alioski rassistisch beleidigt, was dieser nachher zwar nicht so schlimm fand wie viele, die davon aus den Medien erfahren hatten. Arnautović entschuldigte sich trotzdem und meinte: "Ich bin kein Rassist und werde niemals einer sein. Natürlich sind da Worte gefallen, die auch mir wehgetan haben. Es war einfach ein emotionales Gefecht." Ein Anti-Rassismus-Volksbegehren würde Arnautović wohl-wir spekulieren jetzt-mit reinstem Gewissen unterzeichnen, gesperrt wurde er trotzdem-aber nicht wegen Rassismus, sondern wegen Beleidigung des Gegners. So viel Scheinheiligkeit muss sein.

Wir lernen: Fußballspieler sind nicht mehr nur Spitzensportler und Werbemillionäre, sondern auch Gesundheitsapostel und Lebensstilvorbilder. Der Schweizer Nationaltorwart Yann Sommer ist gleich nach dem 0:3 seiner Mannschaft gegen Italien auf unbestimmte Zeit abgereist. Nicht, weil er sich über die Gegentore so geärgert hätte, sondern weil er bei der Geburt seines zweiten Kindes dabei sein wollte, was wenig später auch der Franzose Kingsley Coman als Grund für seine vorzeitige Heimreise angab. Die Welt hat sich halt doch weitergedreht in dem Jahr, das dieses Turnier zu spät dran ist, und die weniger korrekten Seiten dieses schönen Spiels wurden währenddessen weniger tolerierbar, als sie es vielleicht früher einmal waren. Das wissen inzwischen nicht nur die Leute, die einst mit leichtem Entsetzen auf die halt oft nur teilzivilisierte Fußballwelt geblickt haben, sondern auch jene, die völlig in dieser Welt aufgehen. Wobei: Als die englischen Teamspieler vor ihrem Match gegen Kroatien als Ausdruck ihres Antirassismus kurz auf die Knie gingen, ernteten sie dafür ein Pfeifkonzert. So viel Steinzeit muss sein.

Trotzdem erinnert diese EURO ein bisschen an den Song Contest, was natürlich einerseits an den paneuropäischen Klischees liegt, mit denen sie vermarktet wird; aber doch auch an der gründlich inklusiven, durch und durch familiären Stimmung, die dabei entsteht. Was natürlich, ganz klar, ein Fortschritt ist-aber halt noch ziemlich ungewohnt. Sogar die All-Male-Panels der Sendeanstalten werden laufend diversifiziert, der ORF bietet neben der großen Alina Zellhofer diesmal mit Anna-Theresa Lallitsch erstmals auch eine Live-Kommentatorin auf. Zudem lässt der Sender seine Fachexperten Helge Payer und Roman Mählich neuerdings auch während der einzelnen Partien mitreden und somit verhindern, dass sich zum Beispiel Thomas König in irgendeine subjektive Annahme allzu sehr hineinsteigert.

Unsere sehr subjektive Sicht auf die deutsche Trainerbank wiederum sagt uns: Jogi Löw strahlt heuer eine derart unerschütterliche Traurigkeit aus, dass sie sich auch mit den schönsten Wuchteln nicht weghumorisieren lässt, und wenn sich die "Süddeutsche Zeitung" noch so bemüht und Joshua Kimmich nach der Niederlage gegen Frankreich "eine Körperspannung wie ein Käfighuhn" attestiert, was zum Beispiel Marko Arnautović nie im Leben passieren könnte, aber ihn deshalb gleich einen Gockel zu nennen, möchten wir aus Gründen des Antisexismus sowie des Selbstschutzes ausdrücklich nicht empfehlen.

Und Österreich? Österreich hat uralte deutsche Tugenden ausgepackt und ein mieses Spiel (gegen Nordmazedonien) erstaunlich hoch gewonnen, woraufhin der aus Deutschland stammende Trainer des österreichischen Nationalteams mit einem Bekenntnis zum modernen Spektakelfußball verblüffte: "Auf ein Remis können italienische Teams spielen." Italiens Team gewann seine ersten beiden Partien übrigens recht unspektakulär mit 3:0, aber man kann nicht alles haben. Am Montag müssen wir halt die Ukraine schlagen. Also bitte, das wird man doch wohl noch sagen dürfen!

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.