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Martin Hinteregger im Porträt: „Ich könnte kein Japaner sein“

Martin Hinteregger war ein Fußballsuperstar, millionenschwer und Europacupsieger. Doch dann wollte er im besten Fußballeralter nur noch eines: zurück in sein 300-Seelen-Heimatdorf in Kärnten. Porträt eines Aussteigers.

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Als der Fußballstar aus dem Milliardengeschäft ausstieg und in sein Heimatdorf zurückkehrte, ging er gleich einmal auf ein „Zaunbier“. Martin Hinteregger marschierte von Gartenzaun zu Gartenzaun und trank Bier mit den Nachbarn. Das sei „gesellig“, sagt er. Und das, wonach er sich lange gesehnt hatte: ein „normales Leben“ in seiner Heimat, dem 300-Seelen-Dorf Sirnitz in den Kärntner Nockbergen. Wer Ruhe sucht, wird hier fündig: Es gibt einen Supermarkt, ein Kirchlein, ein Wirtshaus, Berge, Wiesen, wenige Menschen. Zuletzt zog sich Hinteregger drei Tage auf die Hochrindl-Alm, keine fünf Minuten von Sirnitz entfernt, zurück. Allein. Er wanderte, genoss die Stille, entfachte nach Sonnenuntergang ein Lagerfeuer – und briet eine Knackwurst. 

Fußballstars sonnen sich gern auf Luxusinseln, sitzen auf Yachten und verspeisen goldene Steaks. Auch Hinteregger hat Millionen verdient, war in Deutschland ein Superstar und Coverboy der Medien – doch dann wollte er im zarten Fußballeralter von 29 Jahren nur noch eines: zurück nach Hause. Jeder weitere Monat im Fußballzirkus hätte ihn „zugrunde gerichtet“, erzählt er. Hinteregger wurde zum bekanntesten Aussteiger Österreichs. Und zu einem der wenigen Fußballprofis, die offen über die Schattenseiten der Branche sprechen – über Depression, Alkohol, sich vor Druck übergebende Kicker. Nun will er endlich seinen wahren Lebenstraum verwirklichen. Wer ist der junge Mann, der zum millionenschweren Fußballstar aufstieg und dann ansatzlos aufstand und nach Hause ging? Und was hat er vor?

„Ich komme nicht mehr gerne ins Training“

Vor seinem Rücktritt war Martin Hinteregger auf dem Karrierehöhepunkt: Fanliebling bei Eintracht Frankfurt, Europapokalsieger, der Schlagerstar Ikke Hüftgold textete ein Lied mit der Zeile: „Wer ist der größte Checker? Martin Hinteregger!“ Kurz darauf trat er zurück. „Oli, ich komme nicht mehr gerne ins Training“, hatte er seinem Trainer Oliver Glasner während der Saison offenbart. Seine Eltern weihte er erst zwei Tage vor seinem Rücktritt ein. „Meine Mama und meine Schwester waren glücklich“, sagt er. Sein Vater hingegen habe schon den Gedanken gehabt: Hoffentlich wird er das nicht einmal bereuen. 

Wer Hinteregger besuchen will, fährt an unzähligen Kühen vorbei, die entspannt am Straßenrand grasen. Oft ist er derzeit in seinem Büro auf Burg Taggenbrunn nahe St. Veit an der Glan anzutreffen, wo er eigene Projekte vorantreiben will. Hinteregger, mittlerweile 30 Jahre alt, öffnet etwas zerknautscht die Tür, er sieht aus wie zu Spielerzeiten, ein paar Kilo mehr vielleicht, strohblondes Haar, Dreitagebart, um seinen Oberkörper hat er eine Ziehharmonika geschnallt. Er wollte gerade ein wenig üben, sagt er. 

Hobbymusiker Hinteregger

In seiner Freizeit ist er als Jäger unterwegs, seine Lieblingsfernsehserie: „Der Bergdoktor“.

Szenen wie diese haben Hinteregger Kultstatus beschert. Er war ein Fußballer, wie es sie eigentlich nicht mehr gibt: volkstümlich und uneitel. Die Branche dominieren nichtssagende Männer, die penibel auf ihre Frisuren achten. Hinteregger trägt gerne Käppi, setzt er es ab, fährt er sich kurz durch sein verstrubbeltes Haar. Während seine Kollegen mit Designertäschchen in die Kabine stolzierten, trug er zuweilen Trachtenjanker. Hinteregger besaß lange nur ein altes Tastenhandy, in seiner Freizeit ist er als Jäger unterwegs, seine Lieblingsfernsehserie: „Der Bergdoktor“. Die öffentliche Figur war schnell gezeichnet: Ein Bauernbub schaffte es in die große Fußballwelt. Doch Hinteregger auf einen Hinterwäldler zu reduzieren greift zu kurz. Um ihn (und seinen Ausstieg) verstehen zu können, muss man sein Leben genau durchleuchten. 

„Sinnlose Regeln“

In Sirnitz wuchs er Mitte der 1990er-Jahre in eine kleine Dorfgemeinschaft hinein: Der Vater ist Gemeindeamtsleiter, die Tante betreibt den einzigen Supermarkt im Ort, seine Großcousine das Wirtshaus. Er selbst tollte mit Freunden auf Bergen und Wiesen umher. Wenn er davon erzählt, klingt das wie ein Leben aus einem Heimatfilm. „Eine schönere Kindheit kann man nicht haben“, sagt er. Doch dann endet diese abrupt, Hinteregger ist gerade 13 Jahre alt. Bis dahin spielte er für die SGA Sirnitz, doch er ist einfach zu gut: Red Bull Salzburg klopft an, er wechselt ins dortige Fußballinternat.

Seine Freunde beneiden Hinteregger, der auf dem Weg zum Fußballprofi ist. Hinteregger aber beneidet seine Freunde, die im Freibad und auf Volksfesten Spaß haben, während er an jedem Wochenende zu Nachwuchsspielen in ganz Österreich tuckert. „Das hat wehgetan“, sagt er. Es habe viele Tage gegeben, „an denen ich nicht glücklich war“. Im Fußballinternat herrschen strenge Regeln. Nach 21 Uhr wird das Internet abgedreht, gerade dann, wenn er mit seinen Freunden in Sirnitz chatten will. Er besorgt sich einen Internetstick – und wird abgemahnt. Hinteregger schüttelt noch heute darüber den Kopf. „Ich halte nichts von sinnlosen Regeln“, sagt er. Seinen Kindern werde er einmal „keine Regeln vorschreiben: Weil ich Regeln hasse.“ 

Hinteregger gilt als freiheitsliebend. Manchmal, so wird erzählt, ging er tagelang nicht an sein Handy. Zuletzt wurde er für eine Autogrammstunde gebucht, eine Stunde lang hätten alle an ihm herumgerissen. „In solchen Momenten“, sagt er, „bin ich froh, dass ich nicht mehr Fußballprofi bin und einfach abhauen kann.“ 

Wenn ein Hochleistungssportler jede Woche säuft, dann wird es schon schwierig.
 

Hinteregger über die ständige Absturzgefahr

Abhauen – das ist etwas, um das sich Hintereggers ganzes Leben dreht. Schon auf dem Weg zum Profi flüchtete er regelmäßig in sein Heimatdorf. Als er einmal eine Partie der SGA Sirnitz besuchte, fehlte ein Spieler, er sprang mit dem Pass eines anderen ein, schoss zwei Tore und trank danach Bier – so stellt er sich spaßigen Fußball vor. Doch es ging zurück in eine andere Welt. Mit 18 unterschrieb er seinen ersten Profivertrag, der ihm 10.000 Euro brutto monatlich einbrachte. Privat hing er mit Leuten ab, „die mich ein bisserl verarscht haben“, erzählt er. Sie drehten mit seinem Flitzer Spritztouren, wenn er nicht da war. Und ließen ihn im Club die komplette Rechnung bezahlen. Hinteregger sagt, er sei einsam gewesen. Nächtelang saß er im örtlichen Casino, plauderte mit dem Croupier, verspielte ein paar Hunderter. Aus Angst, in die Spielsucht zu kippen, zog er weg aus Salzburg – ins 70 Kilometer entfernte Flachau, eine 3000-Einwohner-Gemeinde. Er fand Freunde, ging wandern, Ski fahren, auf Volksfeste. Alles fast so wie zu Hause in Sirnitz.  

Hinteregger, 1,86 Meter, fast 90 Kilo, sagt, dass seine Erscheinung täusche, er sei eigentlich ein sensibler Mann, der erst einmal Vertrauen fassen muss. Doch gerade als er sich bei RB Salzburg heimisch zu fühlen begann, meldete sich die Deutsche Bundesliga. Er wechselte zu Borussia Mönchengladbach, war oft verletzt, schoss Eigentore und hatte Heimweh. Anvertrauen konnte er sich niemandem. „Der Fußball ist auf Männlichkeit und Härte aufgebaut“, sagt er. „Wenn du da Schwäche zeigst, bist du weg.“ Er habe nie erlebt, „dass in der Kabine über etwas Sensibles geredet worden wäre. Nach außen müssen alle gleich sein. Es wird auch nie gehen, dass einer sagt: ‚Ich bin schwul!‘ Man schaut die ganze Karriere nur auf eines: nur nicht angreifbar machen.“
Er selbst ignorierte diese goldene Regel weitgehend: In Salzburg stritt er mit seinem Trainer Peter Zeidler und wurde suspendiert. Über den gegnerischen Coach Didi Kühbauer sagte er öffentlich, dieser sei „der gleiche Koffer wie als Spieler“. Er verschlief Trainingseinheiten, übte öffentlich Kritik, trank über den Durst. Vor einem Länderspiel feierte er die ganze Nacht ausgelassen seinen Geburtstag und wurde aus dem Kader gestrichen. Es entstand der Eindruck: Man kriegt Hinteregger aus dem Volksfest, aber das Volksfest nicht aus Hinteregger. 

„Das beste Essen, die besten Hotels“

2016 weigerte er sich aus Verbundenheit mit seinem Ex-Klub Salzburg, zu dessen Partnerklub nach Leipzig zu wechseln. RB Leipzig mache Salzburg kaputt, polterte er, weil die Deutschen sich ständig die besten Kicker einverleibten. Zudem seien im Red-Bull-Stall, so erzählt er heute, die Spieler zu sehr verwöhnt worden: „Es gab das beste Essen, die besten Hotels, sogar die Schuhe sind geputzt worden.“ Er wechselte zum Abstiegskandidaten FC Augsburg, wo er selbst zur Schuhbürste greifen musste. „Ich wollte einen normalen Fußballverein kennenlernen“, sagt er. Glücklich wurde er dort trotzdem nicht. Augsburg spielte schlechten Fußball, Hinteregger sagte über seinen Trainer: „Ich kann nichts Positives über ihn sagen und will auch nichts Negatives sagen.“ 

Bei den Interviews habe ich so viel gelogen, wie nur geht.
 

Hinteregger über seine Nöte mit der großen Öffentlichkeit

Hinteregger sitzt jetzt vor einem großen Glas Apfelsaft und sagt: „Ich könnte kein Japaner sein. Alle, die ich kenne, sagen zu allem Ja und Amen.“ Dabei hätte er sich viel Ärger erspart, wenn er zumindest wie David Alaba wäre, der in Interviews konsequent nur Floskeln drischt. Hinteregger schmunzelt und sagt: „Das ist der perfekte Profi, er ist richtig gescheit. Aber ich frage mich immer, warum Journalisten ihn überhaupt interviewen wollen – da kann ich ja gleich die Zirbe da hinten interviewen. Die sagt gleich viel.“ Hinteregger trauert der urigen Fußballzeit der 1980er-Jahre nach – als Fußballer noch mit einem Bier in der Hand zum Interview kamen, tobten, schimpften, aber trotzdem kein Skandal daraus wurde. „Im Fußball und in der Politik“ werde doch deshalb „nur noch gelogen“, beklagt er. „Weil sich niemand mehr seine Meinung zu sagen traut. Die schlimmsten Interviews geben Sportdirektoren – die müssen bei jeder Frage lügen, damit keine Unruhe entsteht.“ Viele würden denken: Er, der Kult-Hinti, habe immer offen seine Meinung gesagt. Doch das stimme nicht. „Einmal im Jahr vielleicht, aber bei den anderen 100 Interviews habe ich so viel gelogen, wie nur geht. Hauptsache, am nächsten Tag steht nichts in der Zeitung.“ 

Nachwuchstrainer Hinteregger

Der schnellste und ballsicherste der Buben trägt ein Haaland-Trikot.

Als er 2019 zu Eintracht Frankfurt wechselte, einem Traditionsklub mit großer Öffentlichkeit, stieg Hinteregger zum Superstar auf. Doch das hatte auch Schattenseiten. Bei Erfolgen schrien alle „Hinti, Hinti“, nach Niederlagen riefen Fans: „Du bist fett geworden“ oder „Sauf nicht so viel.“ Wurde er angetrunken in einer Bar fotografiert, lachte er am nächsten Tag aus der „Bild“-Zeitung. Hinteregger fiel in ein Loch. Er konnte nicht mehr schlafen, verfiel in eine Depression. Als er mit Frankfurt bei seinem Ex-Klub Augsburg spielte, wurde er 90 Minuten lang „niedergepfiffen“. Abends lag er im Hotelbett, starrte die Decke an, ging nicht mehr ans Telefon. „Manche Spieler kotzen vor dem Spiel, weil der Druck so enorm ist“, erzählt er. „Ich wäre mit einem Zehntel von meinem Gehalt zufrieden gewesen, wenn alles ein bisschen normaler gewesen wäre.“ Jahrelang schlief er nur zwei oder drei Stunden, war mitten in der Nacht plötzlich putzmunter. Dann begannen die Gedanken in seinem Kopf zu kreisen: Was schreiben die Medien? Was sagen die Fans? Was sagt der Trainer? 

Hinteregger flüchtete, zog sich nach Flachau zurück, wo er nächtelang mit Freunden unterwegs war. „Man trinkt einfach“, sagt er, „um zu vergessen.“ Im Internet tauchten Bilder und Videos von ihm auf, die ihn lallend und torkelnd zeigten. Seine Freunde hätten „alle dreimal so viel getrunken“, erzählt er heute. „Aber wenn ein Hochleistungssportler jede Woche säuft, dann wird es schon schwierig.“ Auf dem Feld blieb er trotzdem in Hochform und zählte zu den torgefährlichsten Verteidigern Europas. Der Weltverein AC Milan wollte ihn verpflichten. Doch dann passierte etwas Einschneidendes: Hinteregger verletzte sich, fiel mehrere Wochen aus – und konnte plötzlich „durchschlafen“. „Ich habe gesehen, wie schön das ist, wenn du keinen Druck hast“, sagt er, „das ist das Schönste, was es gibt.“ 

„Rechte Verbindungen“

Er begann, seinen Ausstieg zu planen, den er in Sirnitz verkünden wollte – bei einem von ihm organisierten Fest samt Hobbyturnier: dem „Hinti-Cup“. Dann aber tauchte wieder eine Schlagzeile auf: „Die rechten Verbindungen des Martin Hinteregger“. Der Hintergrund: Hinteregger plante das Fest mit dem als „extremem Rechten“ beschriebenen Heinrich Sickl, der ebenso aus Sirnitz stammt. Hinteregger verteidigte sich: Er sei kein Nazi, habe Sickl nur als FPÖ-Politiker, aber nicht als Rechtsextremen wahrgenommen – und: Er verurteile „rechtes, intolerantes und menschenverachtendes Gedankengut auf das Schärfste“. Doch die Milch war verschüttet: Wochenlang beschäftigte das Thema den deutschen Boulevard.

Es gäbe Vergewaltiger und Pädophile, sagt Hinteregger heute, aber er sei verfolgt worden, weil Medien „guten Profit mit mir machen“. Hinteregger hatte genug – von Schlagzeilen, unvorteilhaften Fotos, vom Fußballgeschäft. „Ich habe einen Sturschädel“, sagt er und macht ein ernstes Gesicht. „Wenn ich nicht mehr mag, dann mag ich nicht mehr. Wer weiß, ob ich noch ein Jahr oder fünf Jahre lebe – warum soll ich alles auf die Spitze treiben, nur wegen dem Finanziellen.“

Seit einem Jahr lebt er wieder zu Hause. Er spielt Fußball in der fünften Liga bei der SGA Sirnitz, dort, wo alles begonnen hat. Oft darf er – so wie in Kindheitstagen – sogar als Stürmer ran. „Nach den Spielen sitzen wir noch drei, vier Stunden in der Kantine und haben eine Gaudi“, erzählt er. Er müsse halt jetzt seine Ausgaben zurückschrauben – von 20.000 Euro im Monat auf etwa 2000. „Aber das ist gut für die Entwicklung als Mensch“, sagt er. „Millionen machen nicht glücklich, weil du dir immer Gedanken machen musst.“ Manchmal gehe er noch zu wenig sorgsam mit dem erwirtschafteten Reichtum um, sagt er: Beim ersten „Hinti-Cup“ sei er „auf 200.000 Euro sitzen geblieben“. Und: „Wenn mich wer fragt, ob er ein paar Tausend Euro haben kann, borge ich schon was her.“ 

„Jede scheiß Millionenshow“

Anfangs fiel es ihm schwer, sich von der öffentlichen Figur zu lösen, da habe er „jede scheiß Millionenshow“ zugesagt. Nun aber möchte er nicht mehr das Gefühl haben „überall angeschaut zu werden“. Er hat eine neue Freundin, kein mondänes Starlet, sondern „die arbeitet da unten auf der BH“, erzählt er. Sein perfektes Leben beschreibt er kurz und knapp: „Essen, wenn man hungrig ist. Schlafen, wenn man müde ist.“ Berufliche Zukunftspläne schmiedet er trotzdem. Er hat die MH13 GmbH gegründet, betreibt mit dem Ex-Skispringer Thomas Morgenstern eine Helikopter-Firma und ist an einem Restaurant in Frankfurt beteiligt. Doch auch im neuen Leben müsse er sich mit Problemen herumschlagen: Bürokratie, Buchhaltung, Bilanzen.

Er fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht. Oft sind es die Kleinigkeiten, die ihn aufregen. Beim heurigen „Hinti-Cup“ stand um halb vier Uhr in der Früh die Polizei vor den Festzelten und verwies auf die Sperrstunde. „Da habe ich gesagt: Wir sind in einem Dorf, geht heim und kümmert euch um was anderes.“ Viele Menschen würden nur mehr wie Lemminge funktionieren, kritisiert er, ohne Fingerspitzengefühl und ohne „aufeinander zuzugehen“. Zuletzt geriet er in eine Auseinandersetzung mit einer Lehrerin, als er mit seinem Hund Chewbacca auf einer Alm unterwegs war. Die Pädagogin forderte, dass er den Hund anleinen solle. Als Hinteregger beschwichtigte, „der tut nix“, habe die Lehrerin ihre Schulkinder aufgestachelt, erzählt er. „Plötzlich haben mir alle nachgeschrien: ‚Hund anleinen‘“, sagt Hinteregger und ergänzt: „Das ist das Problem unserer Gesellschaft: Einer sagt etwas, und alle schreien nach.“ 

Essen, wenn man hungrig ist. Schlafen, wenn man müde ist.“

Hinteregger über seine Vorstellung vom perfekten Leben

Auch deshalb habe er die „Martin Hinteregger Stiftung – Chancen leben“ gegründet. Er wolle Kindern die Möglichkeit geben „ihre eigene Persönlichkeit und Meinung zu entwickeln“. Sozial benachteiligte Buben und Mädchen etwa sollen mit Schriftstellern oder Musikern zusammenkommen, „um ihre Talente zu entdecken“. Kinder, die in ihrer Entwicklung hinterherhinken und im Fußballbetrieb früh aussortiert würden, möchte er geduldig „vielleicht doch noch an den Profibereich heranführen“ – und sie auch ein wenig beschützen. „Es lauern viele Aasgeier, die schon bei den Buben mitschneiden wollen“, sagt er, „vor allem Berater, die wenig tun und viel kriegen.“ Viele seiner Ideen lassen eine soziale Ader erkennen. So schwebt ihm ein Generationenzentrum, eine Art simulierte Dorfgemeinschaft, vor. Der Hintergrund: Mit seiner Oma sei es nach dem Tod des Großvaters „bergab gegangen“. Dann aber begann sie im Supermarkt-Café seiner Tante auszuhelfen, „hat so wieder eine Aufgabe gehabt und ist mit 83 in der Blüte ihres Lebens“. Hinteregger blüht bei diesen Themen auf. „Mich hat Politik nie interessiert“, sagt er, „aber langsam werde ich zu einem politischen Menschen. Ich möchte in der Gesellschaft etwas verändern, aber wahrscheinlich müsste ich dafür Bundeskanzler werden.“ Ob ihn ein politisches Engagement reize? „Ich kann mich mit keiner Partei identifizieren“, sagt er. Da müsste man schon „die vernünftigen Grünen mit den vernünftigen Blauen zusammentun, dann kommt vielleicht was Gescheites raus“. 

Genug politisiert. Kurz nach 15 Uhr schnappt Hinteregger seinen Hund und fährt von seinem Büro ins drei Minuten entfernte Kraig, ein 451-Einwohner-Dorf. Dort trainiert er eine Handvoll Buben, rund um den Platz grasen Kühe. Hinteregger, der bislang etwas schwermütig wirkte, macht nun Späße. Die Buben bemühen sich, wollen ihrem Idol zeigen, wie gut sie sind. Der schnellste und ballsicherste von ihnen trägt ein Haaland-Trikot. Sie alle haben einen großen Traum: es dorthin zu schaffen, wo Hinteregger schon war. Der möchte nun lieber bald ein Haus bauen, eine Familie gründen, ein paar Kinder bekommen, mit Freunden kicken, trinken, wandern, ausschlafen. Die Spiele der Nationalmannschaft hat er zuletzt nicht einmal mehr im TV verfolgt. „Ich habe so viel mit Profifußball zu tun gehabt“, sagt er, „ich muss mich nicht auch noch vor den Fernseher setzen.“ Ob er nicht wehmütig wird, wenn seine Ex-Kollegen über den Rasen tollen? „Für ein 90-Minuten-Spiel zehn Tage im Hotel herumsitzen?“, fragt er. „Das ist ja gestört.“ Dann schüttelt er den Kopf und sagt: „Ich weiß ja schon, dass das a Schas a ist.“ 

Fotos: Karlheinz Fessl 

Gerald Gossmann

Gerald Gossmann

Freier Journalist. Schreibt seit 2015 für profil kritisch und hintergründig über Fußball.