Europas verzerrte Wahrnehmung

Fußballkolumne: Europas verzerrte Wahrnehmung

Cristiano Ronaldo ist Europameister. Aber deswegen ist er nicht plötzlich besser als Lionel Messi.

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Auf einmal ist er allen ein bisschen sympathisch, der so gerne geschmähte portugiesische Superstar: Cristiano Ronaldo sorgte bei der EURO in Frankreich nicht vorrangig mit überragenden Leistungen für Aufsehen, sondern mit der Tatsache, dass auch er nur ein Mensch zu sein scheint – und gar nicht einmal ein so schlechter, wie viele vorab zu glauben meinten. Der 31-Jährige posierte während des Turnierverlaufes unprätentiös mit Flitzern, schenkte eher aufdringlichen Ballkindern ein nettes Lächeln und zeigte im Finale Teamplayer-Qualitäten, nachdem er zuvor unter Tränen den Platz hatte verlassen müssen. "Aus Maschine wird Mensch“ titelte eine österreichische Gratis-Zeitung diese Woche, um im gleichen Atemzug zu verlautbaren, dass Ronaldo nun endgültig seinen Dauerrivalen Lionel Messi ausgestochen habe.

Warum eigentlich? Hat CR7 in Frankreich wirklich so fantastisch agiert? Hat man gar übersehen, dass parallel zur Europameisterschaft im fernen Amerika ebenfalls ein Fußball-Turnier stattgefunden hat? Ein Turnier, das von der Qualität der Einzelspieler her nicht viel schlechter besetzt war als jenes in Frankreich?

Europa gefiel sich während des Turnieres in Frankreich in der Rolle als einzig relevanter Kontinent der Fußballwelt.

Kurz für alle, die es tatsächlich nicht mitbekommen haben sollten: Vom 3. bis 26. Juni fand in den USA die „Copa América Centenario“ statt, bei dem die zehn besten Teams Südamerikas und die sechs besten der CONCACAF-Zone (Nordamerika/Zentralamerika/Karibik) den Kontinentalmeister ermittelten. Chile setzte sich schlussendlich im Finale gegen Argentinien durch (4:2 nach Elfmeterschießen) – Lionel Messi vergab seinen Penalty und verkündete kurz danach den Rücktritt aus dem Nationalteam. Zuvor hatte er in drei Turniereinsätzen fünf Treffer für die Nummer 1 der FIFA-Weltrangliste erzielt (zum Vergleich: Cristiano Ronaldo kam bei seinen sieben EURO-Spielen auf drei Treffer).

Trotzdem wird dem Portugiesen nun nach dem EM-Sieg seiner Mannschaft kurzerhand das Zepter für die alleinige Weltherrschaft im Fußball überreicht. Das verwundert nicht wirklich: Europa gefiel sich während des Turnieres in Frankreich sichtlich in der Rolle als einzig relevanter Kontinent der Fußballwelt. Je nach Formkurve und Turnierverlauf wurden wahlweise Zlatan Ibrahimović, Robert Lewandowski, Gareth Bale oder Antoine Griezmann spontan zum „besten Stürmer der Welt“ gekürt – ohne auch nur ansatzweise darauf hinzuweisen, dass es andernorts auch noch Kaliber wie Neymar, Luis Suarez, Sergio Agüero, Alexis Sánchez oder Gonzalo Higuaín gibt. Ein Schelm, der dabei einen leichten Rückfall in längst vergessen geglaubtes Kolonial-Denken vermutet.