Genderpolitik: In der Hitze des Geschlechts
Der Einfluss von Sauerstoff bei der Neubildung von Hirnzellen schwach elektrischer Fische ist ihr eigentliches Spezialgebiet. Wahrscheinlich hatte sich die promovierte Biologin Marie-Luise Vollbrecht gewünscht, sie wäre bei der Wahl ihres Dissertationsthemas geblieben. Ihr Vortrag mit dem Titel „Warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ wurde nämlich ein klassischer Fall von „Cancel Culture“ im Rahmen der „Langen Nacht der Wissenschaften“ an der Berliner Humboldt-Universität Ende Juni. Über Nacht wurde Vollbrecht zur Hassfigur der Szene und unfreiwillig zur bekanntesten Biologin Deutschlands.
Die Studierendenvertretung hatte ihr wegen ihres rein biologischen Ansatzes „Transfeindlichkeit“ vorgeworfen und mit begleitenden Demonstrationen gedroht. Die Humboldt-Direktion hatte aus Angst vor Eskalationen den Vortrag aus dem Programm genommen, zwei Wochen später durfte Vollbrecht ihn dann doch halten, verweigerte aber danach, an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen, wo die Wogen auch ohne ihre Anwesenheit dementsprechend hochschlugen: Redefreiheit und Freiheit der Wissenschaft versus Diskriminierung von Trans-Personen, für die Geschlecht keine biologische Bestimmung, sondern ein soziales, individuell gestaltbares Konstrukt ist. Der Aufruhr um den Vortrag ist nur ein prototypisches Beispiel aus der Hitze des Geschlechts-Gefechts, das seit Monaten die gesellschaftspolitische Nachrichtenlage prägt. Der Konflikt nährt sich vor allem aus einem unterschiedlichen Verständnis, was Geschlecht genau bedeutet.
Tatsächlich gehen die Aktivistinnen und Aktivisten von einem Begriff aus, den die französische Schriftstellerin und Feminismus-Pionierin Simone de Beauvoir schon 1949 in ihrem bahnbrechenden Klassiker „Das andere Geschlecht“ propagierte, als sie in der Einleitung schrieb: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet.“
Der so revolutionäre wie polemische Gedanke einer Frau, die offen ihre Bisexualität auslebte und mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre eine Beziehung frei von Monogamie und Besitzdenken lebte, gilt bis heute als Grundlage der Gender-Forschung und läutete die zweite Welle des Feminismus ein.
Die Beauvoir-These, die sich gegen das traditionelle Verständnis stemmt, wie eine Frau zu sein hat, was Mutterschaft („die größte Form der Sklaverei“) und ihr vom Patriarchat verordnete Rollenbilder betrifft, hilft auch beim Verständnis des aktuellen Transgender-Diskurses. Trans-Personen wollen nicht so sein, wie der Cis-gepolte Mainstream das – zumindest in Teilen – gern von ihnen hätte, und sie gestalten ihre Geschlechtsidentität selbst. Unter dem Dachbegriff Transgender sammeln sich all jene Menschen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht nicht identifizieren können, sich somit der „Binär- oder Cisnormativität“ entziehen wollen oder „intersexuell“ sind, also mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen ausgestattet sind.
Geschlecht wird in einer liberalen Zivilgesellschaft zu einem offenen System und ist kein Schicksal, dem man sich zu fügen hat. Es obliegt der Selbstbestimmung, im Idealfall ohne Diskriminierung, im gesetzlichen Schutzraum von gleichen Rechten und rechtlichen Sanktionen gegen Abwertung und Herabwürdigung aufgrund von Identitätszugehörigkeit.
Um einem gängigen Missverständnis in der Diskussion vorzubeugen: Der aus dem Englischen stammende Begriff Gender entspricht nicht der sexuellen Orientierung, darum geht es auch in der aktuellen Debatte nicht. Auch ein non-binärer Mensch kann heterosexuell, homosexuell oder bisexuell sein. Um nur drei Möglichkeiten aufzuzählen. Doch das Spektrum der Möglichkeiten ist vielfältig (was in der Sprache der Aktivisten mit einem * gekennzeichnet ist), wachsend und auch verwirrend.
Schätzungen gehen davon aus, dass sich der Prozentsatz der betroffenen Weltbevölkerung zwischen 0,5 und einem Prozent in dem Spektrum jenseits der Cis-Normen bewegt. Trotz dieser geringen Zahl an Menschen, die sich nicht in ihrem biologischen Geschlecht „verorten“ lassen wollen, fliegen im identitätspolitischen Debatten-Land die Fetzen mit immer größerer Intensität: Podcasts, Talkshows, das Feuilleton und besonders die Blasen-Gemeinschaft von Twitter mutieren zu einem Austragungsort für unerbittliche Meinungskriege. Unter der vermeintlichen Flagge der Toleranz ist besonders auf dem digitalen Pranger der 140-Zeichen-Botschaften „dort jeder dem anderen Wolf“, wie ein Aktivist feststellt. Die österreichische Autorin Gertraud Klemm schrieb im „Standard“, dass die Meinungskrieger einander vor allem „sperrige Kürzel an den Kopf werfen, die die Hälfte der Bevölkerung noch nie gehört hat“. Auch innerhalb der Community gibt es Kräfte, die zur Mäßigung der Debatten-Temperatur aufrufen. Der amerikanische Trans-Mann, Aktivist und Filmemacher Buck Angel antwortete auf die profil-Frage, wie er zum gegenwärtigen Aggressionslevel stehe: „Um ehrlich zu sein, machen mir die Trans-Aktivisten mehr Angst als alle anderen, und ich bin transsexuell. Das sollte Ihnen etwas darüber sagen, was in der Trans-Gemeinschaft wirklich passiert.“ Der Trans-Raum sei von Aktivisten regelrecht „gekapert“ worden, die sehr indoktrinär vorgehen.
Der Flächenbrand des Diskurses steht für eine statistisch kleine Gruppe von Menschen. In neueren Studien in Belgien und den Niederlanden gaben
2,2 bis 4,6 Prozent der gebürtigen Männer und 1,9 bis 3,2 Prozent der Frauen an, eine „ambivalente Genderindentität“ zu erleben.
Verbürgte Statistiken über die Zahl jener Menschen, die in Österreich außerhalb der Cis-Norm leben, existieren nicht. Laut Schätzung der österreichischen Sozialversicherung (Stand: Ende 2020) leben rund 500 Menschen „geschlechtsinkongruent“ in Österreich. Andere Schätzungen belaufen sich auf 600 Trans-Frauen und 300 Trans-Männer. Trotz der statistischen Marginalie gilt die Republik als weltweiter Vorreiter, was das Meldegesetz betrifft: Nach dem Entwurf einer Novelle kann man künftig aus sechs Möglichkeiten wählen: „männlich“, „weiblich“, „divers“, „inter“, „offen“ und „keine Angabe“. Das Kreuz darf jedoch nicht nach Lust und Laune gesetzt werden, sondern kann erst nach Vorlage eines Fachgutachtens, das die geschlechtliche Positionierung der jeweiligen Person bestätigt, nach eigenem Gutdünken gemacht werden.
Deutschland und Spanien gingen jetzt noch einen Schritt weiter: In diesen Ländern tritt demnächst das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz in Kraft, das Jugendlichen ab dem Alter von 14 Jahren die Möglichkeit gibt, mit Einwilligung der Sorgeberechtigten, ihren Geschlechtsstatus und Vornamen amtlich zu ändern. Nach einem Jahr besteht auch die Möglichkeit, die Änderungen wieder rückgängig zu machen. Die Empörung gegen die in der Ampel-Koalition verabschiedeten Reform des 40 Jahre alten Transexuellen-Gesetzes schnellte nicht nur im konservativen Lager hoch.
Vor allem die deutsche Feminismus-Ikone Alice Schwarzer schoss im Rahmen ihrer Interviewtournee anlässlich einer Filmdoku über ihr Wirken und ihres 80. Geburtstags vor einigen Wochen auf allen Kanälen gegen das neue Gesetz und äußerte ihre Befürchtung, dass junge Mädchen überstürzt zu körperverändernden Maßnahmen wie Pubertätsblockern oder Hormontherapien greifen könnten, obwohl sie „nur ein Unbehagen in ihrer Frauenrolle“ verspüren würden. Trans-Identität werde so zu einer Modewelle, in der gesamten westlichen Welt sei die Zahl der jungen Menschen unter 25, die sich von ihrem biologischen Geschlecht verabschieden wollen, um 4000 Prozent gestiegen. Dass Schwarzer den Verhaltenskodex der Trans-Szene wenig respektiert und das Etikett „Terf“ verdient, bewies sie auch mit der Tatsache, dass sie die Trans-Frau und grüne Abgeordnete Tessa Ganserer mit ihrem „Deadname“ Markus ansprach und sich darüber aufregte, dass Ganserer einen Frauenquotenplatz belege. Ganserer und ihre grüne Trans-Kollegin Nyke Slawik waren im Juni als erste Trans-Frauen in den Bundestag eingezogen.
Noch sind Trans-Personen als Abgeordnete ein Exotikum, doch sie werden immer mehr. Auch in Mexiko wurden kürzlich erstmals die zwei Transfrauen Salma Luévano und María Clemente García Moreno ins Parlament berufen, die einen starken Aktivismus-Agenda fahren wollen. Trauriges Kuriosum am Rand: Im Vorfeld zu den Wahlen im vergangenen Herbst haben sich 17 männliche Kandidaten als gefakte „Frauen“ aufstellen lassen, um die Frauenquote zu erfüllen. Mexiko ist genauso wie Brasilien und die USA ein Land, wo Transfrauen eine Lebenserwartung von 35 Jahren haben – im Gegensatz zur Durchschnittslebenserwartung bei Cis-Frauen von 77 bis 80 Jahren. Besonders schwarze Trans-Frauen sind in den Vereinigten Staaten am häufigsten Opfer von Gewaltverbrechen. Die höchste Mordrate an Trans-Personen im weltweiten Vergleich muss Brasilien verbuchen: Allein 2021 waren 1600 Trans-Personen Mordopfer. Und das, obwohl die rechtliche Situation für Selbst-Identität dort erstaunlich liberal ist: In Brasilien kann das Geschlecht ohne vorhergehende Therapie geändert werden. Der Staat kommt sogar für die geschlechtsangleichende Operation auf, unter der Voraussetzung einer zweijährigen psychologischen Unterstützung im Vorfeld.
Selbstmord oder Selbstmordgedanken* sind keine Seltenheit bei Jugendlichen in Transitionsprozessen. In einer im Juni publizierten kanadischen Studie gaben 14 Prozent dieser Jugendlichen an, in den letzten zwölf Monaten schon einmal ernsthaft an Selbstmord gedacht zu haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass Trans-Jugendliche ihrem Leben ein Ende setzen, ist fünf Mal so hoch wie bei Cis-Teenagern. Bei der „Gay Pride Parade“ im London gingen Aktivisten und die Familie der 20-jährigen Amerikanerin Alice Litman mit Transparenten auf die Straße, die das Bild der jungen Trans-Frau zeigten. Sie war 1023 Tage auf einer Warteliste für eine geschlechtsangleichende Operation ohne Erfolgsaussichten vorgemerkt und hatte im Sommer ihrem Leben ein Ende gesetzt.
All diese schockierenden Statistiken und Wahrheiten verschwinden vom Radarsystem der öffentlichen Wahrnehmung und machen in den Echokammern der sozialen Medien regelrechten Meinungsräuschen um theoretische und terminologische Spitzfindigkeiten Platz. Das Pendel schlägt oft in
paradoxe Richtungen aus und wird durch die Kampagnisierung zu einem terminologischen wie destruktiven Hickhack, der von den dramatischen Konfliktherden wie Gewaltverbrechen an Transpersonen und der außergewöhnlich hohen Selbstmordrate unter jungen Transidenten ablenkt.
Die Gründe, warum das Thema gerade jetzt die Emotionen in allen weltanschaulichen Lagern dermaßen hochschlagen lässt, sind komplex: Die neuen Möglichkeiten der Selbstgestaltung der menschlichen Intimzone machen Angst, vor allem dem rechten Rand der Gesellschaft. Dort wird das neue Geschlechtsverständnis gerne als „akademisch, künstlich, elitär und degeneriert“ apostrophiert, wie die deutsche Soziologin und Expertin für Gender-Studies Paula-Irene Villa Braslavsky in der Berliner „taz“ konstatiert. Wahrscheinlich löst es dort heute ähnliches Unbehagen wie der feministische Kampf um Gleichberechtigung in den 1970er-Jahren aus. Außerdem ist die Existenz eines dritten Geschlechts in der westlichen Welt nicht kulturhistorisch verankert, wie das in vielen Ländern Asiens der Fall ist, siehe etwa Thailands Ladyboys.
Die traditionellen Feministinnen (siehe Streitgespräch) wiederum fürchten angesichts der Dimension der gesellschaftspolitischen Debatte, dass noch immer virulente Themen auf der Agenda des Feminismus wie Pay-Gap, Altersarmut und Kinderbetreuung dadurch ins Hintertreffen geraten. Außerdem sind jetzt die Generation Z und die Millennials am Wort, die mit Bewegungen wie Black Lives Matter, dem Kampf um die Rechte für Ehe und Familiengründung von homosexuellen Paaren und dem verschärften Klimaaktivismus sozialisiert wurden und ein verschärftes Woke-Bewusstsein besitzen. Der Begriff „woke“ stammt ursprünglich aus der US-Antirassismus-Bewegung in den 1930er-Jahren und bedeutet so viel wie „aufgewacht“ oder „wachsam“ gegenüber der Diskriminierung von Minderheiten.
Die Wut der Jungen prallt auf Gesellschaftskonventionen der „Boomer“, sprich der Eltern und Großeltern, die sich angesichts der heftigen Transdebatte oft kopfschüttelnd abwenden und die Gegenfrage stellen: „Was geht mich das an?“ Viel. Denn es geht um Menschenrechte, den Kampf gegen Diskriminierung und die Abschaffung des Leids für Trans-Menschen, ihre Identitätskämpfe im Verborgenen ausfechten zu müssen. Das kann aber nur durch eine wachsende gesellschaftliche Akzeptanz erreicht werden. Und es geht in Folge um eine offene Gesellschaft, die Frauen, Homosexuelle und TransMenschen schützt und für deren Gleichberechtigung kämpft.
Auch im weltweiten Aufschrei gegen die Aufhebung des Rechts auf Schwangerschaftsunterbrechung in den USA fühlten sich Teile der Trans-Community diskriminiert, da sie sich in der kollektiven Empörung nicht inkludiert sahen. Bislang konnten Trans-Frauen kein Kind zur Welt bringen. Der indische Arzt Narendra Kaushik will diesen Frauen mit einer medizinisch aufsehenerregenden Operation helfen. Geht es nach dem Leiter des „Premier Transgender Surgery Institute“ im indischen Neu-Delhi, sollen mittels Gebärmutter-Transplantation demnächst auch Trans-Frauen biologische Mütter werden können. Trans-Männer können schwanger werden, wie die Weltöffentlichkeit erstmals 2008 erlebte, als der Amerikaner Thomas Beatie sein erstes Kind austrug; inzwischen ist er vierfacher Vater; drei seiner Kinder brachte der Börsenmakler selbst zur Welt, weil seine damalige Frau nicht schwanger werden konnte. Heute sagt er: „Meine Kinder selbst geboren zu haben, ist für mich wie eine Auszeichnung.“
Die britische BBC lud vor einigen Monaten lesbische Frauen zu einer TV-Gesprächsrunde ein, die sich auf ihr Recht berufen wollten, nicht als transfeindlich zu gelten, wenn sie nicht mit Trans-Frauen schlafen wollten. Im „Falter“ gab die grüne, lesbisch deklarierte Abgeordnete Faika El-Nagashi kürzlich ein Interview mit der Überschrift „Das Wort Frau darf nicht verschwinden“ und wurde dafür unter anderem von der deutschen Assistentin eines grünen EU-Abgeordneten auf Twitter harschest angepfiffen: „Tonepolicing“ vom Feinsten, zwitscherte Clara Schweighofer und tadelte, dass in diesem „transphoben, von Klischees und Vorurteilen nur so triefenden“ Gespräch noch immer auf die Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling hingewiesen werde, „deren Feminismus längst Farce ist und die offen faschistischen Accounts applaudiert“. El-Nagashi hatte es gewagt, über die Radikalisierung der Szene zu sprechen und die oftmals aggressive Kritikunverträglichkeit im Aktivismus angeprangert.
Rowling ist neben Alice Schwarzer das Lieblingsfeindbild der Trans-Ideologen. Ihr Tweet im Sommer 2020, wo sie der Debatte um Definitionsspitzfindigkeiten rund um den Begriff Frau den süffisanten Kommentar entgegensetzte: „Wie soll ich jetzt sagen? Menschen, die menstruieren?“ führte zum weltweiten Bashing der Autorin, das in so gefährlich-absurden Aktionen wie der öffentlichen Verbrennung der Harry-Potter-Bücher gipfelte.
Schon Ende 2019 war Rowling ins Aktivismus-Visier gekommen, als sie sich hinter die britische Wissenschafterin Maya Forstater gestellt hatte. Forstater hatte sich gegen ein von der britischen Regierung geplantes Gesetz ausgesprochen, das es Menschen ohne medizinische oder psychologische Indikation erlaubt hätte, auf dem Papier ihr Geschlecht zu ändern. Forstater sah dadurch Schutzräume für Frauen – Toiletten, Umkleidekabinen, Frauenhäuser – als Gefahrenzonen. Sie handelte sich einen Shitstorm ein und verlor ihren Job bei einem Thinktank. Rowling ließ ihre 14 Millionen Follower wissen: „Zieht euch an, wie es euch gefällt. Nennt euch, wie immer ihr wollt. Schlaft mit jedem willigen Erwachsenen, mit dem ihr müsst. Lebt das beste Leben in Frieden und Sicherheit. Aber Frauen aus ihrem Job zu drängen, weil sie sagen, dass Geschlecht real ist?“
Die Schutzraumdebatte eskalierte vergangene Woche, als ruchbar wurde, dass eine 27-jährige Trans-Frau in einem Frauengefängnis in New Jersey zwei Mitinsassinnen geschwängert hatte. Sie wurde in eine Haftanstalt für jugendliche Straftäter verlegt. Wie es ihr dort ergehen mag, kann man sich leider ausmalen.
Die Angst, die unter traditionell denkenden Feministinnen manchmal geschürt wird, dass „gebärende Menschen“ oder „Menschen mit Vaginas“ (so die bisweilen absurden Begriffsfindungen im Aktivismus-Jargon) von Trans-Frauen an Orten wie Toiletten, Umkleidegarderoben oder in Frauenhäusern Gewalt ausgesetzt werden könnten, ist rein statistisch betrachtet unbegründet. Der mit Abstand größten Gefahr sind Frauen, egal ob cis oder transident, noch immer in den eigenen vier Wänden seitens des Partners oder Ex-Mannes ausgesetzt.
Die Popkultur und Kunstszene ist ein Seismograf für tektonische Verschiebungen, deren Auswirkungen mit zeitlicher Verzögerung in der gesellschaftlichen Mitte ankommen. Die transsexuelle dänische Malerin Lili Elbe (1882–1931), die sich bereits in den 1910er-Jahren öffentlich als Frau zeigte (und 2015 in dem Biopic „The Danish Girl“ von dem Briten Eddie Redmayne dargestellt wurde), war eine der Ersten, die sich einer operativen Geschlechtsanpassung unterzog, überwacht übrigens vom umstrittenen deutschen Sexualwissenschafter Magnus Hirschfeld, und nach dem vierten Eingriff auch an den Folgen der OP verstarb.
Inzwischen zeigt der Hollywoodschauspieler und Transmann Elliot Page auf YouTube stolz seinen nackten Oberkörper nach einer Brustentfernung. Und einer der erfolgreichsten Rapper in Österreich ist Mavi Phoenix, der mittels Testosteron-Therapie seine Transition 2019 eingeleitet hatte.
David Bowie, Prince und Marc Bolan öffneten im Pop-Biz die Lust an der Eliminierung normativer Geschlechtergrenzen. Typen wie Superstar Harry Styles, dessen genderfluides Styling zur Trademark und zum Welterfolg wurde, haben einen Einfluss auf das Selbstbewusstsein von identitätsverunsicherten Jugendlichen, der gigantisch ist. „Denk nie daran, was andere über dich denken“, ist sein Credo. Eine schwierige Übung, aber Harry ist damit ziemlich weit gekommen.
____________________________________
* Wenn Sie an Suizid denken, sich um jemanden sorgen oder einen Menschen aufgrund eines Suizids verloren haben, finden Sie auf suizid-praevention.gv.at Notfallkontakte und Hilfsangebote in Ihrem Bundesland. Bleiben Sie bei Suizidgedanken nicht allein! Holen Sie sofort Hilfe, etwa bei den 24h-Notrufnummern der Telefonseelsorge (142) oder der Rettung (144)!