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Gerald Knaus zu Migration: Wen soll Europa hereinlassen?

Es gibt Vorhersagen, die sich mit großer Sicherheit treffen lassen. Dazu gehört diese: Europa steht vor einem historischen Flüchtlingswinter.

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Gastkommentar von Gerald Knaus

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Seit den 1940er-Jahren gab es noch nie so viele Menschen, die in Europa Schutz suchten wie in diesem Jahr. Dafür gibt es, allen jüngst aufgeflammten Debatten um Migration aus Afrika und Asien zum Trotz, einen Hauptgrund: Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Zahl der dabei Vertriebenen stellt jene aller irregulär in die EU kommenden Asylsuchenden aus anderen Teilen der Welt weit in den Schatten. Anfang März dieses Jahres kamen täglich mehr Ukrainerinnen in die EU als bisher im ganzen Jahr 2022 irreguläre Migranten über das Mittelmeer. Debatten über die Migration über den Balkan sind eine Ablenkung von der wirklichen Herausforderung.

In wenigen Monaten hat die Kriegsführung Putins jeden dritten Ukrainer vertrieben. Vier Millionen Ukrainer haben in der EU seit 24. Februar um temporären Schutz angesucht. Allerdings sind auch Millionen Ukrainer in die Ukraine zurückgekehrt. Dort gibt es mehr als sechs Millionen Binnenvertriebene.

Ungeprüft Hunderttausende Russen in die baltischen Staaten zu lassen, erscheint den dortigen Regierungen angesichts der Drohungen aus Moskau unverantwortlich, schreibt Knaus.

Macht Putin seine Drohungen von noch mehr Gewalt wahr? Wird Russland noch aggressiver als bisher die Lebensgrundlagen der Ukrainer zerstören oder gar Massenvernichtungswaffen einsetzen? Dann kämen wohl schnell Millionen zusätzliche Flüchtlinge in die EU. Und es gibt weitere Unsicherheiten: Muss die Regierung in Kiew Geld drucken, um sich bei ausfallenden Steuereinnahmen über Wasser halten zu können? Kann die Ukraine, deren Regierung derzeit finanziell derzeit vor allem von den USA und nicht von der EU über Wasser gehalten wird, eine Hyperinflation und damit einhergehende Massenverarmung in diesem Winter vermeiden?

Natürlich kann es anders kommen. Als die ukrainischen Streitkräfte die russische Armee bei Kiew nach einigen Wochen zum Rückzug zwangen, haben sich Millionen aus der EU wieder auf den Weg in ihre Heimat gemacht. Letztlich entscheidet auch die Unterstützung Europas-militärisch und finanziell-,ob in diesem Winter weitere Millionen fliehen oder Flüchtlinge zurückkehren werden.

Was bedeutet all das für die Diskussion über asylsuchende Russen? In den letzten Tagen führte ich in Warschau und auf der schwedischen Insel Gotland viele Gespräche mit Politikern aus Polen und den baltischen Staaten. Alle waren entschlossen, an ihren Grenzen zu verhindern, was in den letzten Wochen in Georgien zu sehen war: Zehntausende Bürger Russlands aufzunehmen, die vor der am 21. September verkündeten Mobilmachung flohen.

Wäre es nicht im Interesse Europas, wenn diese jungen Russen nicht auf Ukrainer schießen würden? Ist es nicht die rechtliche und moralische Pflicht von Demokratien, Schutzsuchenden eine Chance zu geben? Ja. Doch wie soll das konkret gehen, in einer Situation, in der Russlands Nachbarn schon sehr viele Ukrainer aufgenommen haben und noch sehr viel mehr kommen könnten? In Polen haben 1,4 Millionen Ukrainer:innen Schutz erhalten. Allein in der Stadt Warschau sind es 140.000, mehr als in Baden-Württemberg mit seinen elf Millionen Einwohnern. Dort werden Turnhallen in Unterkünfte verwandelt, tagen Krisengipfel. Deutschland hat eine Million ukrainische Flüchtlinge im Land. Wären es so viele wie in Tschechien (430.000),müssten es mehr als drei Millionen sein. Die baltischen Staaten haben pro Kopf viel mehr Ukrainer aufgenommen als Deutschland oder Österreich. Würden diesen Winter Millionen zusätzliche Ukrainer in die EU fliehen, könnten diese dort nur schwer eine Unterkunft finden. Sie müssten weiterziehen. Allerdings haben bis jetzt in Frankreich, Italien und Spanien zusammen weniger Ukrainer Schutz erhalten als in Tschechien.

Die Kosten dafür tragen die Aufnahmeländer fast allein. Die Unterbringung so vieler Menschen ist nur durch eine historische Mobilisierung der Zivilgesellschaft möglich. In den baltischen Staaten und in Polen gibt es aber keine Bereitschaft, zusätzlich Hunderttausende Bürger Russlands aufzunehmen. Auch in Deutschland oder Österreich existieren dafür keine Pläne.


Dazu kommen Sicherheitsbedenken. Vilnius und Riga sind in den letzten Jahren zu Zentren der belarussischen und russischen Opposition geworden. Hier leisten die baltischen Staaten viel. Diese Woche erklärte mir Andrius Kubilius, der ehemalige litauische Ministerpräsident, wie wichtig es für die EU sei, die russische Opposition weiter zu unterstützen und an der Hoffnung auf eine Demokratisierung Russlands wie Belarus' festzuhalten. Doch ungeprüft Hunderttausende Russen in die baltischen Staaten zu lassen, erscheint den Regierungen in Tallinn, Riga und Vilnius angesichts der Drohungen aus Moskau unverantwortlich. Diese Debatte verläuft ähnlich wie in Israel nach dem Ausbruch der Kämpfe in Syrien 2011. Israel blieb bis heute der einzige Nachbarstaat Syriens, der kaum Flüchtlinge aufgenommen hat.

Hinzu kommt auch der Zusammenbruch des Flüchtlingsschutzes an den meisten Außengrenzen der EU. Zwischen August und Oktober 2021 beschlossen Polen, Litauen und Lettland die Legalisierung von illegalen Zurückweisungen, auch von Kindern, über die Grenze nach Belarus. Diese Politik steht im Widerspruch zu gültigem Europarecht. Nur: Wer setzt dieses Recht durch? Im letzten Herbst hat keine einzige Regierung in der EU die Politik Warschaus an der Außengrenze kritisiert. Es gab kein Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen diese Gesetze. Die Kommission gewann ein solches Verfahren gegen Ungarn im Dezember 2020 vor dem Europäischen Gerichtshof. Ungarn ignorierte jedoch das Gerichtsurteil und setzte seine Politik fort. Angesichts dieses Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit an den Außengrenzen der EU ist offensichtlich: Weder die EU-Kommission noch andere Mitgliedstaaten könnten Polen und andere Nachbarn Russlands dazu bringen, die Grenzen für Russen offen zu halten. Die Politik an den Außengrenzen der EU ist de facto nationalisiert. Das ist ein Problem, das weit über die Frage nach dem Umgang mit russischen Dissidenten hinausgeht.

Was aber bedeutet das für Bürger Russlands, die sich einer Beteiligung an einem verbrecherischen Krieg entziehen wollen? Für Menschen, die nach Protesten gegen den Krieg als Bestrafung in diesen Krieg geschickt werden? Noch können (manche) nach Georgien oder Kasachstan fliehen. Dabei ist unklar, wie lange der russische Staat dem noch zusieht. Am 28. September schätzte Bloomberg die Gesamtzahl der Geflüchteten auf über 200.000. Am 5. Oktober schrieb die "New York Times" über "Zehntausende junge Russen, die aus Angst davor, in die Kämpfe in der Ukraine gezogen zu werden, nach Zentralasien" flohen.

Eine Möglichkeit für die EU wäre, diesen Ländern bei der Aufnahme zu helfen. Und etwa-nach Prüfungen vor Ort-russische Dissidenten von dort aus legal einreisen zu lassen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass EU-Staaten in ihren Konsulaten weiterhin humanitäre Visa vergeben. Davon profitieren würden eher Tausende, nicht Hundertausende. Russische Dissidenten und Anführer der Opposition gegen Putin, mit denen ich diese Woche sprach, hoffen auch darauf, dass viele ihrer Mitbürger den Einberufungsbefehl verweigern. Sie hoffen, dass der Funke ihres zivilen Widerstands auch in Russland ein Feuer entfacht. Das verlangt allerdings Mut, den man nicht von außen einfordern kann. Manche haben diesen Mut, wie Alexei Nawalny und Vladimir Kara-Murza, die beide im Wissen nach Moskau zurückkehrten, dort verhaftet zu werden, und die jetzt im Gefängnis sitzen. Auch viele Bürger Belarus' zeigten enorme Zivilcourage. Sie zahlten allerdings auch oft einen hohen Preis. In einem stimmen die Dissidenten aus Russland und Belarus, die Politiker aus dem Baltikum und aus Moldau überein: In diesem Fluchtwinter muss die EU der Ukraine vor allem dabei helfen, den Krieg zu gewinnen. Das schafft die Voraussetzung dafür, dass auch Russen künftig nicht mehr vor einem autoritären Regime fliehen müssen, das Angriffskriege führt. Und dass so auf diesen bitteren Winter ein Frühling ohne Vertreibungen folgt.

Gerald Knaus

ist ein österreichischer Sozialwissenschafter und Autor von "Welche Grenzen brauchen wir?" (Piper, 2020).Er ist Gründungsvorsitzender der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" mit Sitz in Berlin, Istanbul und Wien. Knaus arbeitete unter anderem in der Ukraine, Bulgarien, Bosnien Herzegowina und der Türkei.
 

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