"Die Europäer sind nicht nur militärisch, sondern auch moralisch schwach"
INTERVIEW: ROBERT BUCHACHER
profil: Eine "Spiegel"-Titelgeschichte befasste sich zu Weihnachten mit Gemeinsamkeiten und Trennendem zwischen Christentum und Islam. Befinden wir uns in einer Phase der Entfremdung? Henckel Donnersmarck: Nein. Nach seiner berühmt gewordenen Regensburger Vorlesung vom September 2006 versuchte Papst Benedikt XVI. alles, um das zu verhindern. Er hatte in dieser Rede ein Zitat des byzantinischen Kaisers Manuel II. verwendet, das völlig missverstanden wurde. Es kam zu heftigen Protesten, zu Mordaufrufen gegen den Papst, einzelne Priester und Nonnen wurden umgebracht.
profil: Manuel II. wies auf die Gewaltbereitschaft im Islam hin, nachdem Mohammed laut Koran die Verbreitung des Glaubens mit dem Schwert verlangt hatte. Henckel Donnersmarck: Aber der Rationalist Ratzinger hat sich in seiner Rede davon distanziert. Sein Ziel war die Rettung der Vernunft in allen Religionen. Den Protesten lag also ein grobes Missverständnis zugrunde. Papst Benedikt bat daraufhin die Botschafter der islamischen Staaten zum Gespräch, woraus ein dauerhafter Dialog zwischen Christentum und Islam entstanden ist, den auch Papst Franziskus unterstützt. Das sind "good news", die in der medialen Erörterung untergehen. Aber Sie haben recht: Ein Wort wird gesprochen, und Gewalt folgt.
profil: Das Muster scheint immer dasselbe zu sein: Durch religiöse Führer aufgestachelte Massen toben gegen Reden oder Schriften, die sie gar nicht kennen. Der indisch-britische Autor Salman Rushdie musste sich nach der Veröffentlichung seines Romans "Die satanischen Verse" viele Jahre lang verstecken, weil ihn der iranische Revolutionsführer Khomeini wegen angeblicher Gotteslästerung mit einer Fatwa belegt und alle Muslime zum Mord an Rushdie aufgerufen hatte. Henckel Donnersmarck: Der Mordaufruf war sicher abwegig. Trotzdem halte ich es aus christlichem Eigeninteresse für grundsätzlich falsch, dass wir in der westlichen Welt keinerlei Schutz für religiöse Gefühle mehr kennen. Diese Gefühle von Christen, Juden, Muslimen, auch Buddhisten, Hindus sind empfindlich, daher gibt es ein berechtigtes Schutzbedürfnis.
profil: Wie denken Sie über den Mordanschlag auf Redakteure der Pariser Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" vor drei Jahren? Henckel Donnersmarck: Natürlich finde ich es grauenhaft, was dort als muslimische Reaktion geschehen ist. Trotzdem hätte ich nie gesagt "Ich bin Charlie", weil ich die Art und Weise, wie diese Zeitschrift über religiöse Gefühle und Glaubensinhalte herzieht, für falsch halte. Die katholischen Bischöfe in Frankreich haben jahrzehntelang immer wieder gegen "Charlie Hebdo" geklagt, weil dort auch das Christentum bloßgestellt, verspottet, niedergemacht wird. Sie haben natürlich nur zu rechtlichen Mitteln gegriffen und nicht zu Gewalt. Leider fanden ihre Klagen im laizistischen Frankreich kein Gehör.
profil: Natürlich haben Bischöfe das Recht, sich gegen Verunglimpfung ihrer Religion zur Wehr zu setzen. Aber ist die blutig erkämpfte freie Meinungsäußerung nicht ein ebenso verteidigungswürdiges Recht? Henckel Donnersmarck: Zweifellos. Wir sollten alles tun, um dieses hohe Recht zu verteidigen. Aber es ist kein absolutes Recht, das sich gegen alle anderen Rechte durchsetzt. Wir haben schließlich auch ein Taktgefühl gegenüber anderen Menschen. Ich bin sehr froh, dass das Judentum in unseren Ländern nicht verspottet wird, weil Holocaust und Nazi-Katastrophe die herabwürdigende Darstellung und Beschreibung von Juden ausgetilgt haben.
Die Imame würden sich gläubige Christen als Gesprächspartner wünschen, finden stattdessen aber nur eine belanglose Allerweltsgesellschaft vor, der jede Religion verdächtig ist.
profil: Sollten wir dem Islam mit gleicher Rücksicht begegnen? Henckel Donnersmarck: Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass man weltweit sagt, was wir den Juden berechtigterweise zubilligen, sollten wir anderen Religionen auch gewähren, um sie nicht in die Gewalt zu treiben.
profil: Empfindlichkeiten sind etwas anderes als Mordanschläge und blutiger Aufruhr. Henckel Donnersmarck: Die Verletzung von Empfindlichkeiten führt zur Gewalt. Dazu möchte ich ein Erlebnis schildern, das ich in der großen Moschee in Wien hatte: Im Jahr 2011 nahm ich dort an einer Tagung teil, die der Wiener Psychiater Raphael Bonelli über Islamophobie veranstaltet hatte.
profil: Auch Sie haben dort ein Referat gehalten? Henckel Donnersmarck: Ja, und als während der Diskussion nach meinem Referat der Muezzin vom Minarett zu rufen begann, fragte ich den Moschee-Vorsteher Al Fayed, wie wir uns verhalten sollen. Er bat, während der Muezzin-Rufe zu schweigen und zu beten. In der Pause kommt Al Fayed auf mich zu, umarmt mich und sagt: "Herr Abt, dieses Haus ist Ihr Haus! Sie sind hier stets willkommen, denn Sie respektieren unseren Glauben, und Sie bekennen Ihren eigenen. Beides erleben wir sonst in Österreich nie." Die Imame würden sich gläubige Christen als Gesprächspartner wünschen, finden stattdessen aber nur eine belanglose Allerweltsgesellschaft vor, der jede Religion verdächtig ist.
profil: Die "belanglose Allerweltsgesellschaft" hat große zivilisatorische Errungenschaften hervorgebracht, wie Menschenrechte, den laizistischen Staat, das Recht auf freie Meinungsäußerung, freie Wahlen, Freiheit der Wissenschaft, der Kunst und der Religionsausübung. Hier kann nicht ein Ajatollah unter Androhung der Todesstrafe bestimmen, was wir zu glauben, zu denken und wie wir zu leben haben. Wenn wir die Veränderungen im Verhältnis zwischen österreichischer Mehrheitsbevölkerung und hier lebenden Muslimen betrachten, müssen wir auch die Veränderungen in der islamischen Welt sehen: vor allem das Ende des Kemalismus und die Re-Islamisierung der Türkei sowie die Ausbreitung des Fundamentalismus in vielen islamischen Staaten. Henckel Donnersmarck: Im Jugoslawien-Krieg wurden plötzlich auf europäischem Boden Moscheen zerstört, auch Kirchen, um die kulturell-ethnische Identität der jeweils anderen auszuradieren. Das hat natürlich in der muslimischen Welt, von Marokko bis Indonesien, ungeheure Empörung ausgelöst.
profil: Weltweites Entsetzen gab es wegen des von christlichen Soldaten verübten Massakers an mehr als 7000 muslimischen Männern in Srebrenica. Danach breitete sich in Bosnien ein von Saudi-Arabien unterstützter radikaler Islamismus aus, die meisten europäischen IS-Kämpfer in Syrien kamen aus Bosnien. Auch in Indonesien schüren die Saudis einen radikalen Islam. Henckel Donnersmarck: Ja, das Inselreich geht derzeit im Fundamentalismus unter. Im Frühjahr wurde dort der Bürgermeister von Jakarta, ein chinesischstämmiger Christ, wegen Blasphemie zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er hatte seinen politischen Gegnern vorgeworfen, sie würden Koran-Suren verfälschen, um daraus im Wahlkampf politisches Kapital zu schlagen. Das Gericht stand unter massivem Druck der Fundamentalisten. Mit der Religionsfreiheit in dem Riesenreich dürfte es vorbei sein.
Wenn wir den Saudis erlauben, in Österreich Moscheen zu bauen, dann müssten die Saudis uns erlauben, in Saudi-Arabien Kirchen zu bauen.
profil: Auch in Österreich war das Verhältnis zwischen hier lebenden Muslimen, großteils Türken, und der Mehrheitsbevölkerung schon einmal entspannter. Henckel Donnersmarck: Seit 1912 ist der Islam in Österreich staatlich anerkannt. Damals ging es um Bosniaken, heute sind es Zuwanderer aus verschiedenen Ländern Nordafrikas und des Vorderen Orients. Inzwischen gibt es ein neues Islamgesetz, das die Unterstützung österreichischer islamischer Gruppen durch ausländische Organisationen verbietet.
profil: Damit wollte man die jahrzehntelange Unterwanderung von türkischen Gastarbeitern durch national-konservative islamische Organisationen wie die Millî-Görüş-Bewegung stoppen. Ein kemalistischer türkischer Diplomat beschrieb es in den 1990er-Jahren so: "Ihr Österreicher ahnt gar nicht, wie sich der Fundamentalismus unter den hier lebenden Türken ausbreitet." Henckel Donnersmarck: Das ist eine Seite, ich sehe es von einer anderen. Ich war fünf Jahre lang Direktor der Päpstlichen Missionswerke in Österreich. Das ist eine Solidaritätsinitiative, die notleidende Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika durch Priesterausbildung, Bibelübersetzungen, Kirchenbau, Religionsunterricht etc. unterstützt. Ich glaube, wir sollten den Muslimen eine Reziprozität vorschlagen: Wenn wir den Saudis erlauben, in Österreich Moscheen zu bauen, dann müssten die Saudis uns erlauben, in Saudi-Arabien Kirchen zu bauen.
profil: Ein interessanter Gedanke, wenn auch fern jeder Realität: In Österreich herrscht Religionsfreiheit, in Saudi-Arabien nicht. Der saudische liberale Blogger Raif Badawi wurde 2013 verhaftet und zu 1000 Peitschenhieben verurteilt, weil er in einem Posting gefordert hatte, den Islam mit anderen Religionen gleichzustellen. Internationale Proteste konnten verhindern, dass Badawi zu Tode gefoltert wurde, aber er sitzt noch immer im Gefängnis. Abkehr vom Islam wird in vielen islamischen Staaten mit dem Tod bedroht. Henckel Donnersmarck: Man muss hinzufügen: derzeit. Wir sollten - weil wir dazu stark genug sind - in diesen Fragen immer von uns aus den ersten Schritt tun und sagen: Es ist jetzt eure Aufgabe, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Vermutlich geht auch der Dialog, den Papst Benedikt auf Augenhöhe angestoßen hat, in diese Richtung. Reziprozität ist Benedikt und auch seinem Nachfolger Franziskus ein echtes Anliegen.
profil: Aber es gibt noch viel Trennendes aus dem Weg zu räumen. Der größte Brocken sind die mittelalterlichen Kreuzzüge, die in den Muslimen ein kollektives Trauma hinterlassen haben. Henckel Donnersmarck: Wir haben bei den Kreuzzügen eine sehr selbstkritische eurozentrische Schuldhaltung eingenommen. Eigentlich unverständlich, denn die Kreuzzüge waren die Reaktion auf die zunehmende Unterdrückung und Vertreibung von Christen, die 600 Jahre lang das Gebiet von Persien bis Marokko dominiert hatten. Den Kreuzzügen ist ein jahrhundertelanger islamischer "Kreuzzug" gegen das Kreuz vorangegangen. Christen wurden vertrieben, zwangsislamisiert oder gemeuchelt. Ich lehne Gewalt ab, aber am Beginn des "Islamischen Staates" in Syrien hatte ich plötzlich Verständnis für den Ruf nach einem militärischen Eingreifen, als die Christen in Syrien um Hilfe riefen.
Europa hat sich durch Empfängnisverhütung und Freigabe der Tötung ungeborener Menschen im Mutterleib in einen Selbst-Genozid gebracht.
profil: Hätte die EU militärisch intervenieren sollen? Henckel Donnersmarck: Nein! Die Europäer sind nicht nur militärisch, sondern auch moralisch schwach, es gibt ja hier auch keine echten Christen mehr. Europa hat sich durch Empfängnisverhütung und Freigabe der Tötung ungeborener Menschen im Mutterleib in einen Selbst-Genozid gebracht. Und wo ein Vakuum entsteht, entsteht ein Sog. Die Industrie braucht Arbeitskräfte, und die stehen in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten millionenfach bereit. Dabei will die Kirche keinerlei Demografie betreiben, sondern es geht ihr um die Würde von Frau und Mann in der Ehe und das Recht auf Leben.
profil: In vielen muslimischen Ländern ist die Geburtenrate vor allem deshalb hoch, weil dort Bildung für Frauen verpönt ist. Das Geheimnis sinkender Geburtenraten sind überall auf der Welt gebildete Frauen. Henckel Donnersmarck: Gerade die Kirche tut sehr viel für die Bildung der Frauen! In seiner Blütezeit war der Islam eine Bildungs-, Wissens-und Kulturgroßmacht. Die aufgeklärten Kalifen von Bagdad und Córdoba sammelten das Wissen der Antike und beschäftigten die besten Mediziner, Mathematiker und Astronomen der damaligen Zeit. Ohne ihren Wissenstransfer hätten wir nicht diese Kenntnis von der antiken Kultur, die wir heute haben. Thomas von Aquin zum Beispiel hätte ohne diesen Wissenstransfer nicht auf Aristoteles aufbauen können.
profil: Was hat dann den Niedergang des Islam ausgelöst: die Schlacht bei Tours und Poitiers im Jahr 732? Henckel Donnersmarck: Zumindest wurde dort der Vormarsch der muslimischen Reiter gestoppt und auf Spanien zurückgeworfen. Ein zweiter Wendepunkt war die Ablöse der weltoffenen und noblen Kalifen von al-Andalus durch die barbarischen Berberstämme der Almoraviden und Almohaden.
profil: Die katholische Rückeroberung Spaniens, die Reconquista, verlief auch nicht gerade zimperlich. Henckel Donnersmarck: Die Schlacht vor Wien am 12. September 1683 war auch ein kriegerisches Ereignis!
profil: Weniger bekannt ist ein Faktum, das die islamische Welt in ihrer Entwicklung um Jahrhunderte zurückgeworfen hat: die Ablehnung des Buchdrucks durch osmanische Gelehrte. Begründung: Der heilige Koran sei das einzig zulässige Buch für Muslime. Bis heute verzeichnen die islamischen Länder die geringste Bücherproduktion der Welt. Kaum bekannt ist auch, dass sich alle drei monotheistischen Weltreligionen, Judentum, Christentum, Islam, auf den gleichen Urvater Abraham berufen. Der Koran erwähnt Jesus (Issa) und Maria (Marjam). Henckel Donnersmarck: Und zwar durchaus positiv. Allerdings ist Jesus im Koran nicht Gottes Sohn, sondern ein besonderer Mensch, der Wunder wirkt. Maria kommt dort sogar ausführlicher vor als in der Bibel.
profil: Im Juni des Vorjahres gab der Kronprinz von Abu Dhabi der nach ihm benannten Scheich-Mohammed-Bin-Zayed-Al-Nahyan-Moschee den Namen "Marjam Umm Issa" ("Maria, Mutter Jesu"). Der Kronprinz wollte damit ein Zeichen der religiösen Annäherung setzen. Henckel Donnersmarck: Ein bemerkenswerter Schritt! Auch wir sollten zuerst einmal respektvoll über den Propheten Mohammed reden. Das erleichtert den Dialog, den wir dringend brauchen, um uns den Muslimen verständlich zu machen und sie aus ihrem Ghetto herauszuholen. Das Christentum hat in der Neuzeit eine schwere Krise durchgemacht, welche die katholische Kirche stärker betroffen hat als die evangelische, nämlich die historisch-kritische Erforschung der Heiligen Schrift. Wir haben das als Bedrohung empfunden, aber es war ein reinigender Prozess. Diese schwere Krise durch Erforschung der Heiligen Schrift Koran steht dem Islam noch bevor. Wir Christen könnten den Muslimen in dieser Frage vielleicht sogar helfen.
Gregor Henckel Donnersmarck, 74, in Breslau geborener Spross einer schlesischen gräflichen Familie, brachte es nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften bis zum Geschäftsführer eines Speditionsunternehmens. Im Alter von 34 Jahren trat er als Novize ins Zisterzienserstift Heiligenkreuz ein. 1982 wurde er zum Priester geweiht, von 1999 bis 2011 war er Abt des Stiftes. Anlässlich seiner Emeritierung kündigte er an, sich mit dem Islam zu beschäftigen.