Grischka Voss: "Man ist sich selbst die beste Liebhaberin"
Ihren 13-jährigen Sohn wird Grischka Voss, 50, nicht in „Bulletproof“ schicken, ihre „offensive One-Woman-Performance“, die am 13. Jänner im Wiener Theater in der Drachengasse uraufgeführt wird. Es würde ihn möglicherweise verstören, seine Mutter so zu sehen. „Es geht hier schon ans Eingemachte“, sagt Voss. Wie in ihren früheren Theaterarbeiten ist die Tochter des Burgstars Gert und der Dramaturgin Ursula Voss (beide starben 2014 innerhalb weniger Monate) auch diesmal schonungslos exhibitionistisch. Mit „Bulletproof“ führt Voss, die immer frei arbeitete und sich nie im konventionellen Theaterbetrieb niederlassen wollte, ihre künstlerische Expedition in das weite, manchmal für sie noch unerforschte Land weiblicher Sexualität.
INTERVIEW: ANGELIKA HAGER
profil: In Ihrem neuen Stück erzählen Sie von der Reise durch das „Vulvaland“ einer mitteljungen Frau namens Amanda. Voss: Sie ist eigentlich nichts Besonderes – eine Frau, die es geil findet, einen Mann zu ficken und ihm Lust zu bescheren. Aber nach dem Orgasmus will sie gehen. Ich wollte all diesen präpotenten Männertypen aus den Romanen von Michel Houellebecq und Frédéric Beigbeder, die mich so aufregen, endlich ein weibliches Pendant entgegensetzen.
profil: Wie viel Autobiografie schwingt darin mit? Voss: Alle meine Arbeiten sind autobiografisch. Ich hatte bis vor nicht allzu langer Zeit eine emotionale Behinderung, die es mir nicht möglich machte, Sex und Liebe miteinander zu verbinden. Das war insofern praktisch, als ich auf diese Weise sexuelle Erfahrungen sammeln konnte, ohne Gefahr zu laufen, mich dabei zu verlieben. Auch ich fand es geil, einen Mann zu ficken. Auch ich holte mir Selbstbestätigung dadurch, dass ich begehrt wurde. Auch ich wollte nach dem Orgasmus gehen, sonst wäre es mir zu persönlich geworden. Ich wollte einfach gar nicht so viel empfinden. Verliebt habe ich mich dann eher in schwule oder auch asexuelle Männer, die irgendwie unerreichbar waren. Da waren dann plötzlich die großen Gefühle im Spiel.
profil: Wie haben Sie dieses Muster durchbrochen? Voss: Nach dem Tod meiner Eltern bin ich zu einer Therapeutin gegangen, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass ich mich dem Mann, den ich jetzt liebe, zu öffnen imstande bin. Diese Form von Verschmelzung erlebe ich das erste Mal in meinem Leben. Zuvor hatte ich immer wieder versucht, zu diesem Punkt zu kommen, bin aber daran gescheitert. Ich bin wirklich dankbar, dass ich das noch erleben kann.
profil: Amanda ist auch eine sehr kaputte Figur. Voss: Sie wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit vergewaltigt. Und sie ist natürlich auch verzweifelt auf der Suche nach Liebe, kann sich aber nicht öffnen.
profil: Sie haben in „Wer nicht kämpft, hat schon verloren“, Ihrem Buch über Ihre Familie, auch über den Missbrauch durch Ihren Großvater erzählt. Ging die Unfähigkeit, Gefühl und Sexualität miteinander zu verbinden, auf diese Erlebnisse zurück? Voss: Mit Sicherheit hat mich das sehr geprägt. Es war außerdem nicht der einzige Missbrauch, den ich erlebt habe. Es ist mir immer wieder passiert – wahrscheinlich, weil ich naiv und auch noch megahöflich war.
profil: Es gibt Menschen, die durch so verstörende Erlebnisse sexuell verschlossen bleiben. Voss: Ich glaube, dass Sexualität eine solche Kraft- und Energiequelle ist, dass jene, die dieses Ventil nicht öffnen können oder wollen, böse und aggressiv werden müssen.
profil: Oder sie sublimieren, wie Freud es nannte. Voss: Auch ich hatte Perioden der Dürre absolviert, in denen ich künstlerisch extrem produktiv war. Aber wenn ich meine Lust wiederentdeckte, war alles andere zweitrangig.
Prinzipiell bin ich der Meinung, dass man gar keinen Partner braucht, um guten Sex zu haben.
profil: Sexualforscher bezeichnen die Unlust als prägende Sexualkrankheit einer durch und durch permissiven Gesellschaft. Voss: Das kann ich nicht bestätigen. Aber bei meinen Recherchen habe ich herausgefunden, wie viele junge Frauen heute schon ganz früh mit dem exzessiven Konsum von Pornos beginnen.
profil: Und der Pornokonsum bedingt auch den Wunsch immer mehr junger Frauen, sich die Schamlippen operieren zu lassen. Voss: Diesen Vorschlag wollte mir ein Gynäkologe einmal machen. Er sah mich bei der Untersuchung ganz mitleidig an und fragte, ob ich mir meine Schamlippen nicht verkürzen lassen wolle. Ich dachte mir: Geht’s noch? Die waren ja nicht so, dass ich draufgestiegen und drüber gestolpert bin.
profil: Sextoys und Vibratoren in allen Variationen sind inzwischen schon bei Teenagern Teil der sexuellen Alltagskultur. Voss: Da kann ich nicht mitreden. Ich habe mir einmal einen Vibrator bestellt, aber der kam nie an. Mit dem hatte dann wohl wer anderer Spaß. Das Schrägste, was ich in einem Sexkatalog gesehen habe, war übrigens eine riesige hellblaue Latexwindel. Ich habe es sexuell aber sowieso lieber pur, was wahrscheinlich damit zu tun hat, dass ich mich schon als ganz kleines Mädchen selbst befriedigt habe und mit den Jahren richtig gut darin wurde. Ich fand das als Kind so toll, dass ich meiner Mutter sogar an ihr demonstrieren wollte, wie man dabei vorgeht. Sie wurde dann gleich sehr kantig und hat das abrupt abgewehrt. Prinzipiell bin ich der Meinung, dass man gar keinen Partner braucht, um guten Sex zu haben. Man ist sich selbst die beste Liebhaberin. Denn wer weiß besser als man selbst, was dem eigenen Körper guttut?
profil: Wie emanzipiert sind Frauen heute im Ausleben ihrer Sexualität? Voss: Nach dem Ende meiner Ehe machte ich einige negative Erfahrungen, wie die Gesellschaft heute noch immer mit Frauen umgeht, die ihre Sexualität frei leben und dabei Spaß haben. Ich merkte, dass ich mit meiner Haltung schnell zu einer Persona non grata wurde – bei beiden Geschlechtern. Einige Frauen empfanden mich als gefährlich, die Männer hielten Abstand, damit sie nicht in Verdacht kommen konnten, was von mir zu wollen. Abgesehen davon bemerkte ich, mit wie viel Schamgefühl Frauen noch immer besetzt sind, wenn es darum geht, über Dinge wie Regelblutungen und Selbstbefriedigung zu reden. Und ich muss zugeben: Ich habe bei meinen Recherchen selbst einiges gelernt, was ich nicht wusste.
profil: Zum Beispiel? Voss: Dass es keinen Unterschied zwischen einem vaginalen und einem klitoralen Orgasmus gibt. Dass die Vagina nur ein Teil der Vulva ist. Dass der A-Punkt jener ist, wo die Glocke schlägt.
profil: Wo liegt dieser A-Punkt? Früher galt der G-Spot als eines der oft unentdeckten weiblichen Lustzentren. Voss: Beim G-Punkt empfinde ich gar nichts. Der A-Punkt liegt ganz, ganz hinten, ich habe ihn selbst entdeckt. Eine tolle Sache.
Meine Mutter hat mir irgendwann eine Sexfibel hingeknallt, in der eklige Fotos abgebildet waren. Das fand ich grauenhaft.
profil: Sie sind in einer Künstlerfamilie groß geworden. Ihr Vater Gert und Ihre Mutter Ursula waren immer am Theater, Sie selbst besuchten eine Waldorf-Schule. Herrschte bei Ihnen zu Hause ein sexuell tabubefreites Klima? Voss: Meine Mutter war sehr prüde. Sie konnte manche Worte gar nicht aussprechen.
profil: „Ficken“ zum Beispiel? Voss: Das ging sowieso nicht. Sie wurde schon schamesrot, wenn sie das Wort „Eierstock“ aussprach. Mein Vater war ein wahnsinnig sinnlicher Mensch. Trotzdem habe ich meine Eltern nie vor mir auch nur schmusen gesehen, allerhöchstens gaben sie sich ein Busserl. Erst als ich nach ihrem Tod die Reisetagebücher meines Vaters gefunden habe, begriff ich, wie viel Spaß sie miteinander hatten und wie sehr sie ihre Sexualität auch zelebrierten. Da fiel mir zum Beispiel ein Foto von einem Bett, das über und über mit Rosenblättern bestreut war, in die Hände. Das fand ich richtig schön. Natürlich waren meine Eltern aus der 1968er-Generation, aber beide hatten Eltern, die wiederum extrem verklemmt waren. Meine Eltern trugen beides in sich.
profil: Wie wurden Sie aufgeklärt? Voss: Meine Mutter hat mir irgendwann eine Sexfibel hingeknallt, in der eklige Fotos abgebildet waren. Das fand ich grauenhaft. Mit 15 fuhr ich mit meiner Großmutter väterlicherseits in den Urlaub – unser gemeinsames Ziel war meine Entjungferung. Die fand auch statt, wie geplant durch einen Latin Lover.
profil: Haben Sie mit Ihren Eltern auch offen über Ihre Missbrauchserlebnisse gesprochen? Voss: Das Erlebnis mit meinem Großvater, dem Vater meiner Mutter, hatte ich ihnen gegenüber angedeutet, aber mir wollte keiner glauben. Aber bei einer Autofahrt, ich war so Anfang 20, erzählte ich ihnen von einem schrecklichen Erlebnis mit einem wesentlich älteren Mann. Er hatte mir große Schmerzen zugefügt und mich so gewürgt, dass er mich beinahe umgebracht hätte. Letzteres verschwieg ich aber. Meine Mutter saß am Steuer, mein Vater drehte sich zu mir. Eigentlich erwartete ich, dass er schockiert reagieren würde. Aber er erklärte mir nur, dass ich mir keine Sorgen machen solle: Die Sexualität habe eben viele Facetten.