Hat die Schweiz Österreich als Skination überholt, Herr Reusser?
(Aufmacherfoto: Der 23-jährige Schweizer Marco Odermatt beim Super-G in Kitzbühel im Jänner)
Dreißig Jahre lang hat Österreich den Alpinen Skiweltcup dominiert. Im Vorjahr gewann die Schweiz plötzlich die Nationenwertung - ein Schock für den ÖSV. Auch heuer liegen die Eidgenossen wieder voran. Walter Reusser, Alpindirektor des Schweizer Skiverbands, erklärt den Erfolg - und hätte wohl ein paar Ratschläge für den ÖSV.
profil: Sie haben Ihr Amt offiziell am 1. Dezember 2019 angetreten. Sind Sie sehr froh darüber, dass Ihnen Marcel Hirscher erspart geblieben ist?
Reusser: Es war immer eine Augenweide, ihm zuzuschauen. Er hat viele Athleten auf ein höheres Level gebracht. Er war ein Ansporn. Ich würde mich also durchaus darüber freuen, wäre Marcel immer noch aktiv und könnte man sich mit ihm vergleichen.
profil: Rein beruflich hat sein Rücktritt im Herbst 2019 Ihr Leben aber doch wohl einfacher gemacht.
Reusser: Das kann ich nicht beurteilen. Es kommt immer auf die Konstellation an, die sich in einer Saison ergibt. Es sind auch heute noch Athleten dabei, die Marcel schlagen konnten, Alexis Pinturault etwa oder Henrik Kristoffersen. Gleichzeitig sieht man, dass diese zwei Fahrer nicht einfach eine Freikarte haben, seit Marcel nicht mehr da ist. Das Level der jungen Athleten ist gestiegen, der Sport hat sich weiterentwickelt. Es wäre spannend, zu sehen, ob Marcel immer noch so dominant wäre. Die Jüngeren praktizieren heute ein Skifahren, das die Arrivierten herausfordert.
profil: Was zeichnet diesen neuen Stil aus?
Reusser: Es gab zu Marcels Zeiten eine klare Hackordnung: Man orientierte sich an ihm. Wenn man in einem Durchgang oder gar am Ende eines Rennens mit ihm mithalten konnte, bedeutete das, dass man sehr, sehr gut gefahren war. Dieser Maßstab ist nicht mehr da, dadurch hat sich der Sport geöffnet. Unsere jungen Athleten, Loïc Meillard, Marco Odermatt, Luca Aerni - die orientieren sich nicht mehr an anderen Personen und deren Zeiten, sondern an ihrer eigenen Fahrt. Das ist Vollgas-Skifahren ohne großes Herumtaktieren. Das gilt auch für die jungen Norweger Lucas Braathen oder Atle Lie McGrath, die - ohne viel zu denken - sehr schnell Ski fahren.
profil: Wie steht es um die Spezialisierung im alpinen Skisport? Wird es in Zukunft noch echte Allroundtalente geben wie Bode Miller, Pirmin Zurbriggen oder Tina Maze, die in allen fünf Disziplinen gewinnen konnten? Oder ist das heute gar nicht mehr das Ziel?
Reusser: Es ist extrem schwierig, so etwas zu planen. Die Leistungsdichte ist enorm hoch, die Zeitabstände werden knapper. Die Vorbereitung wird schon innerhalb einzelner Disziplinen für die Athleten immer zeitintensiver, insofern ist es für Allrounder schwierig. Nur wenn man in einer Disziplin mit durchschnittlichem Aufwand zum konstanten Podestfahrer geworden ist, kann man sich unter Umständen auch in einer zweiten Disziplin in Richtung Spitze orientieren, vielleicht sogar in einer dritten. Es braucht aber mehr Zeit, als es in der Vergangenheit der Fall war. Eine Gesamtweltcup-Planung ist ungeheuer aufwendig.
profil: Viele vermeintliche Favoriten sind zuletzt auch an diesem Ziel gescheitert.
Reusser: Alexis Pinturault hat es im letzten Jahr nicht geschafft, obwohl die Türen nach Marcels Rücktritt ja offen waren. Auch Henrik Kristoffersen hat es nicht geschafft. Am Ende hat einer gewonnen, der das wahrscheinlich gar nicht geplant hatte und entsprechend locker gefahren ist, nämlich Aleksander Kilde.
profil: Gleich in Ihrer ersten Saison konnte die Schweiz die Nationenwertung gewinnen, zum ersten Mal nach über 30 Jahren -f ür uns Österreicher übrigens ein ziemlicher Schock. Sah man da schon Ihre Handschrift?
Reusser: Grundsätzlich hatte man schon vor meiner Zeit drei, vier Pflöcke richtig eingeschlagen. Diese Vorarbeit war enorm wichtig. Aber wenn Sie 30 Jahre den Nationencup nicht gewinnen und der Gegner unbesiegbar erscheint, denn das muss man ja schon sagen, es war nie knapp, es waren komplett andere Horizonte
profil: 2014 zum Beispiel hatte Österreich am Saisonende 11.129 Punkte, die Schweiz als zweitplatzierte Nation 5133. Im Jahr 2000, unter Hermann Maier, erreichte Österreich 17.927 Punkte, die Schweiz 5378.
Reusser: Man hat sich damals gedacht: Zweiter zu werden, das wäre wirklich cool. Das hat man auch gespürt, als ich angefangen habe: dass man sich das eigentlich wünscht, aber dass man fast ein bisschen Angst vor dem Gedanken hatte, die Österreicher zu schlagen. Ich hoffe, dass ich dazu beigetragen habe, diesen Ansatz zu verändern. Es geht nicht darum, die Österreicher zu schlagen, sondern es geht darum, dass wir unsere Leistung abrufen und uns darauf konzentrieren, was entscheidend ist für eine große Ski-Nation: dass man besser zusammenarbeitet.
profil: Was meinen Sie damit?
Reusser: Es geht nicht nur um die Arbeit auf der Piste, sondern besonders auch um die Koordination unter den Gruppen, und darum, nicht zu starr nach vorn zu schauen und herumzukalkulieren, sondern Rennen für Rennen zu nehmen und die Athleten richtig einzusetzen. Dass man den Jungen die Chance gibt, sich heranzutasten - aber immer mit der richtigen Zielvorgabe. Das war ganz wichtig für das Vertrauen der jüngeren Athleten. Davon abgesehen finde ich es megatoll, dass jetzt im Nationenranking ein Zweikampf zwischen Österreich und der Schweiz aufkommt. Dass dieser Konkurrenzkampf wieder ausgetragen wird, ist gut für den Sport und gut für die freundschaftliche Konkurrenz, die wir haben.
profil: Sie sprechen vom Teambuilding und der Arbeit innerhalb der Trainingsgruppen. Aber am Ende bleibt Skifahren ein Einzelsport.
Reusser: Das ist genau das Schöne am Skifahren: Ohne die Mannschaft geht es irgendwie nicht so gut, aber auf der anderen Seite ist es ein Einzelsport. Das sieht man jeden Abend beim Nachtessen: Der eine gewinnt und ist glücklich, der andere am Boden zerstört. Und beide haben die gleichen Bedingungen, den gleichen Staff. Das ist auch eine riesige Herausforderung für die Betreuer: Ich habe immer ein lachendes und ein weinendes Gesicht im Team. Aber auch die Athleten haben gelernt: Es mag super sein, wenn ich die ungeteilte Aufmerksamkeit einer ganzen Nation habe, weil ich der Einzige bin, der gut fährt. Aber es lastet dann auch aller Druck auf mir.
profil: Ihre Spitzenfahrer denken nicht nur an sich selbst?
Reusser: Unsere Athletinnen und Athleten sind heute so weit, dass sie sich auch für die anderen freuen. Weil sie wissen, dass sie selbst davon profitieren, dass auch ein gewisser Druck von ihren Schultern fällt, wenn sie ein gutes Team im Rücken haben, wo auch ein anderer in die Bresche springen kann. Das haben die Norweger schon früh kultiviert, die trainieren gerne zusammen und sind gerne miteinander unterwegs.
profil: Ich muss noch einmal auf Marcel Hirscher zurückkommen.
Reusser: Das ist völlig okay.
profil: Gerade Hirscher hat sich von den bestehenden Strukturen des ÖSV abgekoppelt und sein eigenes Team aufgebaut. Hat sein Erfolg ein bestehendes Defizit überdeckt?
Reusser: Ich kann das für diesen Fall nicht einschätzen, aber ich weiß, wie es im Schweizer Verband war: Wie viele Male hat Didier Cuche in Kitzbühel gewonnen, und es war kein zweiter Schweizer in den Top Ten? Und alles war super? Die Medien haben sich nur am Sieger orientiert, und die Trainer waren zwar nicht wirklich zufrieden, aber hatten eben doch ihren Sieger. Das war wohl beim ÖSV das Gleiche. Man hat ja sehr wohl gewusst, dass es hinter Hirscher nicht absolut dicht ist. Opportunistisch gesehen ist die Lösung Marcel Hirscher die beste, aber die langfristige Erfolgslösung ist, eine stabile Mannschaft aufzubauen - und wer von denen dann am schnellsten fährt, müssen sich die Fahrer im Grunde selbst untereinander ausmachen.
profil: So, wie es zum Beispiel das Schweizer Herren-Riesentorlauf-Team macht?
Reusser: Genau. Die haben wirklich Freude miteinander. Ein Meillard, ein Odermatt, ein Caviezel, ein Murisier, die dieses Jahr schon auf dem Podest waren, die profitieren ja alle von dieser Ausgangslage. Sie wissen: Der Schnellste von uns wird auch im Weltcup weit vorn sein. Das stelle ich übrigens auch bei der österreichischen Herren-Slalom-Mannschaft fest, die eigentlich aus dem Nichts heraus wieder zurück ist und die auch einen guten Teamspirit hat. Genau das ist die Aufgabe der Betreuer, das zu forcieren. Die Infrastruktur so zu organisieren, dass nicht nur einer profitiert, sondern mehrere.
profil: Und sie müssen versuchen, ihre Athleten gesund durch die Saison zu bringen. Die Belastung steigt immer weiter, und damit das Verletzungsrisiko. Können Sie dieses Risiko regulieren, indem Sie Athleten auch einmal einbremsen?
Reusser: Ich glaube, weniger ans Limit zu pushen, liegt nicht in der Natur von Spitzensportlern. Die werden auch in Zukunft immer versuchen, am Limit zu fahren, egal welche Herausforderung man ihnen stellt. Da müssen wir wirklich auf Verbandsebene gute Lösungen finden, die den Sport sicherer machen. Es sind alle Nationen gefordert, auch gemeinsam mit der FIS zu überlegen, was zu Verletzungen führt und wie man das Risiko reduzieren könnte.
profil: Zur Gretchenfrage: Welche Rolle spielt das Budget? Der ÖSV ist im Skisport ja quasi Bayern München - allein schon aus finanziellen Gründen auf ewig unschlagbar.
Reusser: Wenn man den Nationencup gewinnen will, heißt das, dass man bei den Männern wie bei den Frauen in fünf Disziplinen eine starke Mannschaft braucht. Und wenn man eine starke Weltcup-Mannschaft haben will, braucht man auch eine starke Europacup-Mannschaft und ein starkes Nachwuchs-Team. Das zu finanzieren, ist extrem teuer. Wenn wir jetzt ehrlich sind, ist es de facto so, dass sich Österreich das leisten kann, die Schweiz kann es sich leisten, für die Franzosen ist es schon sehr schwierig, für die Italiener ist es sehr schwierig, und es ist unmöglich für die restlichen Nationen.
profil: Und wie konnten Sie diese Dominanz nun knacken?
Reusser: Dass die Schweiz 30 Jahre lang den Nationencup nicht gewinnen konnte, hatte teilweise sicher sportliche Gründe, teilweise war wohl auch falsches Management dabei, aber zu einem guten Teil lag dahinter auch eine falsche Erwartungshaltung in Relation zu den finanziellen Möglichkeiten. Man kauft sich so einen Nationencup ja nicht damit, dass man ein, zwei Jahre ein bisschen mehr investiert. Den Nationencup gewinnt man, wenn man langfristig stabile starke Strukturen hat. Und das hatte der ÖSV unglaublich gut gemacht in den letzten Jahrzehnten. Aber Swiss-Ski hat in den letzten fünf bis zehn Jahren, nachdem man zwischenzeitlich auch finanziell einmal arg angeschlagen war, einen tollen Job gemacht, ist heute auch wirtschaftlich sehr gesund und kann deswegen langfristig planen. Das ist entscheidend, wenn man mit einer breiten Mannschaft in allen Disziplinen vorn mitfahren will. Also um Ihre Frage kurz zu beantworten: Ja, du brauchst Geld, um erfolgreich zu sein.
profil: Am 8. Februar hat die alpine Ski-WM in Cortina begonnen. In Österreich gibt es die schöne Tradition, dass der Präsident vorab bekannt gibt, wie viele Gold-,Silber-und Bronzemedaillen er sich erwartet. Wie sehen Ihre Vorgaben aus?
Reusser: So etwas war in der Vergangenheit auch bei uns üblich, aber inzwischen verzichten wir darauf. Wir haben in allen Disziplinen Athletinnen und Athleten, die schon einmal auf dem Podest standen oder sogar Rennen gewinnen konnten. Aber am Schluss ist ein WM-Rennen eine Momentaufnahme. Wir versuchen, unsere Athletinnen und Athleten bestmöglich vorbereitet zur WM zu schicken, und dann sollen die besten drei die Medaillen holen. Wir hoffen, dass wir bei dem einen oder anderen Event auch auf dem Podest stehen dürfen. Das ist heute unsere Zielformulierung.
Walter Reusser, 44, ist seit Dezember 2019 als Alpin-Direktor und Mitglied der Geschäftsführung des Schweizer Skiverbands Swiss-Ski tätig. Davor war der gebürtige Emmentaler als Chief Operating Officer bei der Schweizer Skifirma Stöckli unter anderem für den Bereich Spitzensport verantwortlich. In dieser Funktion betreute er etwa auch die slowenische Rennläuferin Tina Maze in deren Rekord-Saison 2012/13 (2414 Weltcup-Punkte).Vor seinem Engagement bei Stöckli war Reusser bereits für den Schweizer Skiverband aktiv, unter anderem als Europacup-Trainer und Servicetechniker. Gleich in seiner ersten Saison als Alpin-Direktor konnte die Schweiz die Nationenwertung des Ski-Weltcups für sich entscheiden-zum ersten Mal seit dem Winter 1988/89.
Berg und Tal
Die Geschichte des Alpinen Skiweltcups ist eine österreichische Geschichte mit Schweizer Beteiligung. 40 Mal konnte der ÖSV den Nationencup seit 1967 für sich entscheiden (und war nie schlechter als Zweiter),neun Mal die Schweiz, fünf Mal Frankreich (in der Frühzeit des Weltcups). Italien war ein paar Mal guter Dritter.
1980/81: Bei den Herren gewinnt der US-Amerikaner Phil Mahre vor dem Schweden Ingemar Stenmark, bei den Damen sind die Schweizerinnen Marie-Theres Nadig und Erika Hess unschlagbar-und der Nationencup geht nach den von Österreich dominierten 1970er-Jahren zum ersten Mal an die Schweiz.
1989/90: Petra Kronberger durchbricht mit ihrem ersten Gesamtweltcupsieg (von drei) die Schweizer Dominanz im Damen-Weltcup, der in den Jahren davor von Vreni Schneider, Michela Figini und Maria Walliser geprägt wurde.
1982: Erster Weltcupsieg (von 40) des legendären Schweizer Allrounders Pirmin Zurbriggen.
1987/88: In der offiziellen FIS-Datenbank ist Österreich im Nationencup an erster und die Schweiz an zweiter Stelle gereiht - zählt man auch die Parallelbewerbe dazu, liegt freilich die Schweiz hauchzart voran.
1990: Pirmin Zurbriggen geht - nach vier Gesamtweltcupsiegen und drei zweiten Plätzen - in Rennfahrerpension. Der Pistenleitsystem-Unternehmer Peter Schröcksnadel wird zum ÖSV-Präsidenten gewählt.
1991/92: Umstellung des Punktesystems: Weltcuppunkte für die ersten 30 im Klassement. Statt 25 Punkten für den Sieg, 20 für Rang 2 und 15 für Rang 3 etc. gibt es nun für das Podium 100, 80 und 60 Punkte etc.
1996/97: Die erste Weltcupsaison der Flachauer Nachwuchshoffnung Hermann Maier.
1998: Der erste Gesamtweltcupsieg (von vier) für Hermann Maier.
2000: Punkterekord für Hermann Maier: 2000 Weltcuppunkte in einer Saison. Punkterekord auch für Österreich: 17.927 Punkte (mehr als die Zweit-bis Viertplatzierten-Italien, Schweiz und Frankreich-zusammen).Den Damen-Gesamtweltcup gewinnt Renate Götschl vor Michaela Dorfmeister (beide Österreich).
2011/2012: Erster Gesamtweltcupsieg (von acht in ununterbrochener Reihenfolge) des Salzburger Jahrhundert-Skifahrers Marcel Hirscher.
2019: Marcel Hirscher verabschiedet sich vom Rennsport. Die Schweiz gewinnt am Ende der Saison zum ersten Mal nach 30 Jahren den Nationencup.