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Heidi Kastner: "Den roten Schalter gibt es nicht"

Die Psychiaterin Heidi Kastner über die heilende Kraft von Wut und über Methoden, damit produktiv umzugehen.

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In Ihrem Buch "Wut" betrachten Sie dieses Gefühl, das ein so schlechtes Image hat, durchaus mit Wohlwollen.
Kastner
Wut ist ein Signal, dass etwas nicht stimmt, und somit eine Aufforderung, dass man ins Handeln kommen sollte. So gesehen eine durchaus wichtige Emotion.
Die Nerven der Menschen liegen seit Corona vermehrt offen, im Alltag kommt es zunehmend zu Aggressionen. Ist Wut ansteckend?
Kastner
Wut ist ein Grundgefühl wie Trauer und Freude, das jeder in sich trägt, und kein Synonym für Aggression. Aggression kann ein Derivat von Wut sein. Was stark angestiegen ist, ist das Anspannungsniveau, das, unterfüttert von einer Grundhaltung wie "Mir spielt das Leben schlecht mit", sich sehr leicht in Aggression entladen kann. Solche Menschen sind also nicht primär wütend, sondern müssen ihre Anspannung entladen.
Der Umgang mit Widrigkeiten und Krisen ist stark von den jeweiligen Persönlichkeitsmerkmalen geprägt. Warum ist ein Mensch aggressionsbereiter als ein anderer?
Kastner
Es gibt genetische Unterschiede, was die Intensität von Emotionen betrifft: Manche sind gelassener, andere reagieren heftiger. Intensiveres Erleben von Emotionen wirkt sich auch positiv aus, da wird auch mehr Freude im größeren Überschwang erlebt. Gelassenheit ist oft eine Frage der Resilienz. Es gibt Menschen, die jammern, wenn irgendwo ein Fahrrad umfällt. Sie reagieren entsprechend unreflektiert auf jede Schwierigkeit. Und dann gibt es jene, deren Grundhaltung bei allen Krisen lautet: Es hätte auch schlimmer kommen können. Sie gehen in die Selbstverantwortung.
Wahrscheinlich kennt jeder von uns diese Typen, die ausrasten, wenn der Kellner den Wein um zwei Grad zu warm serviert. Wo ist denn da genau die Grenze zwischen einem "normalen" Choleriker und einem pathologischen Fall?
Kastner
Diese Grenze ist nicht festlegbar. Es liegt in der Verantwortung des Einzelnen, seine Emotionen unter Kontrolle zu kriegen. Das zu lernen, sollte auch schon ein wesentlicher Teil der Erziehung sein. Ein Kind hat Emotionen, muss aber eben auch lernen, sie unter Kontrolle zu halten und Strategien zu entwickeln, damit umzugehen. Menschen, die das später nicht können, sind dann auch oft der Meinung, dass ihnen dieses Verhalten zusteht-und können sich nicht in den anderen hineinversetzen.
Ist der Versuch, sich in den anderen Menschen hineinzudenken, denn eine wirksame Methode, wenn man ein aggressionsanfälliger Mensch ist?
Kastner
Ja. Ich habe schon als Kind, wenn jemand etwas Irritierendes zu mir gesagt hat, die Situation einfach umgedreht. Und mir die Frage gestellt: Hätte ich es ähnlich formuliert? Oder wäre es mir nie so über die Lippen gekommen? Das ist simpel, aber hilft. Das ist ja auch so offensichtlich: dieser eklatante Mangel an Hausverstand. Die Menschen könnten sich auf ihren Hintern setzen und kostenfrei über sich und Veränderungen an ihrem Verhalten nachdenken. Aber natürlich sind Veränderungen anstrengend.
Jetzt gibt es Kinder, die sich wegen Lappalien schreiend auf den Boden werfen oder wild um sich schlagen. Wie soll man reagieren?
Kastner
Dem Kind beizubringen, seine Gefühle zu kontrollieren, ist, wie erwähnt, ein wichtiger Teil der Erziehungsarbeit. Ein Kind hat ein Recht auf Zuwendung, Präsenz und Zärtlichkeit, keine Frage, aber wenn es nach einem Kaugummi schreit und dieses Bedürfnis von dem jeweiligen Elternteil sofort befriedigt wird, schaufelt man seiner Frustrationstoleranz und Resilienz gleichzeitig das Grab. Wenn ich manchmal das Wort "bedarfsorientierte Benotung" höre, kriege ich einen Grant. Da sagte doch ein Lehrer einmal tatsächlich: "Wir geben diesem Schüler keinen Fünfer, weil er mit einer negativen Benotung so schlecht umgehen kann."
Dieses Abfedern aller Frustrationserlebnisse kann gefährlich werden?
Kastner
Ja, weil das Kind ständig in der Illusion gewiegt wird, dass es und seine Bedürfnisse der Nabel der Welt seien. Die beste Basis für späteren Narzissmus.
Sie bezeichnen in Ihrem Buch die Wut des Narzissten als die gefährlichste. Nach Gewalttaten fällt oft der Satz des Täters oder der Täterin: "Ich habe rot gesehen. Das Gefühl war stärker."
Kastner
Diese Entschuldigung ist aus psychiatrischer Sicht Humbug. Auch in solchen Momenten weiß man, was man tut. Den roten Schalter, durch dessen Umlegen man in die Besinnungslosigkeit gebracht wird und nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, gibt es nicht.
Der Schauspieler Joachim Meyerhoff beschreibt seinen Jähzorn als "plötzlich auftauchendes U-Boot", John McEnroe erklärte, dass er süchtig nach seinen Wutausbrüchen war. Kann man solchen emotionalen Wellen Einhalt gebieten?
Kastner
Natürlich kann man. Da geht es wieder um simplen Hausverstand. Wenn man spürt, dass diese Welle sich nähert, dann sollte man nicht warten, bis sie einen verschluckt, sondern eine Methode entwickelt haben, wie man ihr am besten entkommt. Vielleicht ganz simpel, indem man einfach den Raum verlässt und draußen einmal tief durchatmet.

Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass das Böse immer eine gefährliche Tiefe hat. Oft ist es nur eine seichte Pfütze.

Heidi Kastner

Psychiaterin

So einfach ist das?
Kastner
Eigentlich ja. Ich plädiere für Eigenverantwortung. Das ist kein modernes Thema, ich weiß. Man kann sich, wenn man der Meinung ist, so nicht mehr weiterleben zu wollen, ein Schritteprogramm zurechtlegen, wo man sich nach Erreichung von Etappenzielen auch belohnen darf.
Eine kognitive Verhaltenstherapie scheint für viele die effizienteste Therapiemethode, um kurzfristig Änderungen zu erzielen.
Kastner
Durchaus, über die Wirksamkeit von Verhaltenstherapie gibt es Evidenz.
Ab wann ergibt denn therapeutische Hilfe Sinn?
Kastner
Wenn der Veränderungswillen da ist, ich aber nicht weiterkomme und immer in den gleichen Verhaltensmustern hängen bleibe.
Ich weiß, dass Sie Fragen nach Josef Fritzl (Anm. der Mann, der in Amstetten seine Tochter mehrfach vergewaltigte und mit ihr eine in Gefangenschaft lebende Parallelfamilie im Keller führte) und der Eissalon-Doppelmörderin Estibaliz Carranza, die Sie beide psychiatrisch begutachteten, nicht sonderlich schätzen, aber war Wut ein Motiv bei den beiden?
Kastner
Frau Carranza agierte sehr überlegt und hatte ihren eigenen Vorteil im Blick. Da ging es nicht um Emotionen. Und Josef Fritzl hatte keine differenzierte emotionale Wahrnehmung. Ein Satz von ihm lautete: "Ich bin zum Vergewaltigen geboren." Und danach kam: "Dafür habe ich mich eh ganz gut gehalten." Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass das Böse immer eine faszinierende Tiefe hat. Oft ist es nur eine seichte Pfütze.

Heidi Kastner, 61

ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Gerichtspsychiaterin und Chefärztin der forensischen Abteilung der Landesnervenklinik Linz. Sie ist mehrfache Bestsellerautorin, u. a. "Wut",zuletzt publizierte sie das Buch "Dummheit" bei K& S.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort