Henry Alfred Kissinger (1923–2023): Ein Jahrhundertleben
Er hat die moderne Weltordnung geprägt, er hat dabei auch Unverzeihliches getan, er hat, ganz buchstäblich, ein Jahrhundertleben gelebt, eine Biografie zwischen den Kontinenten und Welten: Henry A. Kissinger, geboren am 27. Mai 1923 im bayerischen Fürth als Heinz Alfred Kissinger, musste mit seiner Familie im Herbst 1938 vor den Nazis in die USA fliehen; kehrte in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges als Dolmetscher mit der U.S. Army nach Deutschland zurück und erfuhr dort vom Schicksal seiner jüdischen Verwandten und Nachbarn. Als junger Harvard-Professor, flamboyanter Star der öffentlichen Debatte und außenpolitischer Politikberater entwarf er ab den 1950er-Jahren geopolitische Strategien für das nukleare Dilemma des Kalten Krieges und die Balance der Supermächte. Schon damals waren seine Ansichten gezeichnet von einem radikal realpolitischen Kalkül.
Als Sicherheitsberater und Außenminister unter den US-Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford erwies sich Kissinger dann als visionärer Diplomat und zynischer Machttaktiker, gestaltete das Verhältnis der USA zur Sowjetunion und vor allem auch zu China in einer Weise, die bis heute nachwirkt. Im Spiel der Groß- und Atommächte waren ihm die Kleinen stets nur mittelbar wichtig, er pflegte eine Diplomatie à la Metternich (dem er eines seiner ersten Bücher widmete), stellte pragmatische Erwägungen vor moralische Überlegungen – und ging dabei, wenn er es für nötig hielt, auch rücksichtslos vor. Die Bombardierung Kambodschas 1969, der Militärputsch gegen Chiles sozialistischen Präsidenten Salvador Allende 1973, der Krieg Pakistans im heutigen Bangladesch 1971, die Invasion von Ost-Timor durch indonesische Truppen 1975 – Konflikte mit unzähligen zivilen Opfern – gingen direkt oder indirekt auch auf sein Konto.
Vor allem seine Rolle im Vietnamkrieg wird immer umstritten bleiben. Dass Kissinger – zusammen mit dem nordvietnamesischen Diplomaten Le Duc Tho – 1973 für die Beendigung desselben den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam, kann man für eine nicht besonders gelungene Ironie der Geschichte halten; immerhin war er an der Eskalation dieses Krieges keineswegs unbeteiligt.
Als bekennender „America First“-Ideologe war Kissinger nicht nur in den 1970er-Jahren wegweisend; mehr oder weniger aktiv ließen sich alle US-Präsidenten seit John F. Kennedy von ihm beraten; lediglich Barack Obama äußerte sich einmal kritisch und fragte öffentlich: „Inwiefern hat diese Strategie (die kriegerische Eskalation in Laos und Kambodscha, Anm.) unseren Interessen gedient?“
Kissinger war bis ins hohe Alter als Autor, Berater und Vortragender aktiv, beschäftigte sich mit Fragen der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz, überwiegend aber immer noch mit geostrategischen Themen; erst im Vorjahr erschien sein jüngstes Buch: „Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“. Am Mittwoch starb Kissinger in seinem Haus in Kent, Connecticut.