Analyse

Hinteregger: Der Spielverweigerer

Martin Hinteregger will künftig nicht mehr Profifußballer sein. Das sagt etwas über ihn aus – aber auch über die Gesellschaft.

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Er war ein Kicker, wie es sie längst nicht mehr gibt: redefreudig, uneitel, trinkfest. Martin Hinteregger, 29, gab Traditionalisten die Hoffnung, doch noch ans Gute im Fußballgeschäft zu glauben, also an alte Zeiten. Es war fast so, als tauche plötzlich ein neuer Peter Alexander in der Showbranche auf – das wäre schön, aber auch irgendwie seltsam.

Die Fußballwelt braucht Typen, fordern Fans und Vereine gebetsmühlenartig. Man erinnert sich an das Feierbiest Maradona, den Rüpel Cantona, den bissigen Kahn, den Kettenraucher Ogris. Der Fußballprofi von heute aber ist in der Regel ein konturloser Mann: einer, der sagt und tut, was sein Dienstgeber hören will.

Und täglich grüßt der Bundesliga-Spieltag. Der Torschütze sagt: Die gesamte Mannschaft habe einen großen Anteil an seinem Treffer. Der Verlierer bekräftigt: Nun werde alles sorgsam analysiert. Der Unzufriedene behauptet: Zwischen ihm und dem Trainer, der gesamten Mannschaft und überhaupt sei alles in bester Ordnung.

Martin Hinteregger spielte da nicht mit. Er kritisierte Trainer, trank über den Durst, sprach über Schlafstörungen, erzählte von Casinoabenden, drohender Spielsucht, Partynächten und Sex vor dem Spiel. Sein Alleinstellungsmerkmal wurde, dass er nicht so war wie die anderen.

Nun ist Martin Hinteregger – Star-Kicker bei Eintracht Frankfurt, frischgebackener Europa League-Sieger und angesehener ÖFB-Teamspieler – als Profifußballer zurückgetreten. Mit 29 Jahren. Am Höhepunkt seiner Karriere. Das sagt etwas über Hinteregger aus – aber auch über die Gesellschaft.

„Hinti“, wie der Mann liebevoll genannt wird, konnte man sich besser als grölenden Fan vorstellen, denn als asketischen Profi. Er sprach aus, was er dachte – und dachte darüber nicht lange nach. Aufgewachsen im 294-Einwohner-Dorf Sirnitz (Kärnten) spielte er sich in die große Welt – oder jedenfalls bis nach Frankfurt. Ausgerechnet im sterilen, überprofessionalisierten Kosmos von Red Bull Salzburg wurde der bodenständige Hinteregger zum Profi geformt. Er lernte auf gehobenem Niveau Fußball zu spielen, aber sein Naturell ließ er sich nicht austreiben. Es gab durchzechte Nächte, versäumte Trainingseinheiten, oftmalige Casinobesuche. In seiner früh veröffentlichten Biografie „Innensicht“ gestand er, nach verlorenen Partien Trost im Alkohol gesucht zu haben. Immer wieder tauchten Bilder auf, die Passanten mit ihren Handys geschossen hatten – und die Hinteregger, den Fußballprofi, nun ja, etwas erheitert zeigten.

Hinteregger wirkt grobschlächtig. Der Mann ist 1,86 Meter groß und 82 Kilo schwer. In seiner Freizeit versucht er sich als Jäger. Er besaß noch ein veraltetes Klapphandy, als jedes Kind schon mit einem Smartphone umherlief. Seine Lieblingsfernsehserie: der „Bergdoktor“. Während Mannschaftskollegen mit angesagten Designer-Täschchen in die Kabine stolzierten, kam Hinteregger zuweilen im Trachtenjanker. Seine öffentliche Figur ist schnell gezeichnet: Ein Bauernbub, der zwischen Zeltfesten und Bieranstichen sozialisiert wurde, schafft es in die große Fußballwelt. Manchmal konnte der Eindruck entstehen: Man kriegt Hinteregger aus dem Volksfest, aber das Volksfest nicht aus Hinteregger.

Doch der Kärntner hat eine sensible, ja verletzliche Seite. Als er von Augsburg nach Frankfurt wechselte, wurde er vom eigenen Anhang ausgepfiffen. Hinteregger erzählte von Schlafstörungen und Angstzuständen. Er sprach offen über Druck im Profifußball und dass es ihm nicht immer leichtfalle, diesem standzuhalten. An spielfreien Tagen flog er zurück in die Heimat nach Kärnten, in sein kleines Dorf.

Einmal verglich er sich mit der Kinderserien-Figur „Michel aus Lönneberga“, einem aufgeweckten Bürschchen, das allerlei Schabernack treibt. Hinteregger muckte auf, wenn ihm danach war. Als Salzburg-Spieler verweigerte er einen geplanten Wechsel nach Leipzig, weil ihm das Modell widerstrebte. Beim FC Augsburg ärgerte ihn die zögerliche Spielweise seines Trainers, der die Mannschaft immer kleinredete. In einem Interview betonte er: „Ich kann nichts Positives über ihn sagen und will auch nichts Negatives sagen.“ Derlei Sätze reichen heutzutage aus, um das ultimative Chaos anzurichten. Hinteregger lachte aus jedem Newsfeed, darüber die Schlagzeile: „Hinteregger kritisiert Trainer“.

Hinteregger ist in Deutschland so bekannt wie ein bunter Hund. Der Mann aus dem kleinen Dorf wurde prominenter – die Schlagzeilen härter. Nach dem Europacup-Triumph mit Eintracht Frankfurt vor wenigen Wochen fluteten unzählige Videos das Internet, die Hinteregger zuerst angetrunken, dann singend, lallend und schließlich torkelnd zeigten. Am Ende stand er im Morgengrauen am Bahnhof und wirkte zerknautscht. So ging es Millionen Ottonormalverbrauchern vor ihm auch. Doch von Hinteregger gibt es davon ein Erinnerungsfoto – das um die Welt ging. Hinteregger ist eine öffentliche Figur geworden – ohne das komplett realisiert zu haben. Zuletzt sorgte jeder Satz aus Hintereggers Mund für einen Riesenwirbel. „Die rechten Verbindungen des Martin Hinteregger“, hieß eine der ernsthafteren Schlagzeilen. Der Hintergrund: Hinteregger plante ein Hobbyfußballturnier für Fans in seiner Heimatgemeinde auszurichten – blöderweise mit dem als „extremen Rechten“ und „Identitären-Förderer“ beschriebenen Heinrich Sickl. Der Geschäftspartner Hintereggers stammt so wie er selbst aus Sirnitz. Hinteregger verteidigte sich, so gut er konnte. Er sei kein Nazi, interessiere sich nicht für Politik, habe Sickl nur als FPÖ-Politiker aber nicht als Rechtsextremen wahrgenommen – und: er verurteile „rechtes, intolerantes und menschenverachtendes Gedankengut auf das Schärfste“. Doch die Milch war verschüttet: Die Seite, auf der die Nachricht publiziert worden war, sackte unter den vielen Zugriffen zusammen, der ÖFB sah sich zu einer Stellungnahme gezwungen, sein Klub in Frankfurt auch.

Hinteregger hat nun genug. Von den Schlagzeilen, vom Fußballgeschäft, von unvorteilhaften Fotos in der Zeitung. Er habe bereits im Herbst daran gedacht, nach dieser Saison aufzuhören, betonte er nun. „Die Siege haben sich nicht mehr so gut angefühlt, dafür tat jede Niederlage doppelt so weh.“

Irgendwie war alles kompliziert geworden: Sein Klub in Frankfurt soll verärgert gewesen sein, weil Hinteregger zuweilen nicht erreichbar war, mit flapsigen Interviews provozierte – und eben war, wie heute kein Fußballprofi mehr sein soll: für seinen Arbeitgeber unberechenbar.

Er sei einer, der tagelang nicht ans Telefon geht, wird erzählt, und wenig später den Partytiger gibt. Einer, der sein Handy als technischen Firlefanz verteufelt, aber mit dem Helikopter Runden dreht. Einer, der in geselliger Runde lacht, aber auch nächtelang die Decke anstarrt. Einer, der Besserung verspricht und dann doch wieder in einer Bar hängen bleibt. „Ich wollte mich ändern“, sagte er dem Standard vor wenigen Tagen, „aber ich habe es nicht geschafft.“

Hinteregger hat schon zu Beginn seiner Karriere damit gehadert, wenig kompatibel zu sein mit dem Fußballgeschäft. Er mag ein „Problemboy“ sein, wie Männer seines Schlages gerne genannt werden – also so etwas wie ein Problembär. Und Problembären müssen in der Regel weg. Resozialisierung von vornherein ausgeschlossen. Da geht es dem Fußball-Millionär nicht anders als dem bettelnden Obdachlosen.

Bei allen Bekenntnissen zu Vielfalt und Toleranz: einer wie Hinteregger ist dann doch zu viel. Die Fußballwelt hat aufgehört Lebensrealitäten abzubilden, sondern ist zu einer Scheinwelt geworden. Männer wie Hinteregger haben darin nur kurzfristig ihren Platz – als ulkige Retro-Marke. 

Und die Gesellschaft verzeiht ohnehin keine Fehler mehr – oder jedenfalls nicht zu viele. Hinteregger mag selbst schuld daran sein, dass alles so gekommen ist. Warum trinkt er nicht weniger, googelt seine Geschäftspartner gewissenhaft, nimmt Anrufe entgegen, reißt sich verdammt noch mal am Riemen und erfüllt seine Rolle? Der Mann ist 29, Millionär, weitere Jahre als Profifußballer bringen weitere Millionen.

Vielleicht aber wollte Hinteregger, dass alles so kommt. Er habe bemerkt „wie schön das Leben ist, wenn du keinen Druck hast“, erklärte er in einem Videostatement zu seinem Rücktritt.

Vielleicht sieht Martin Hinteregger in seinem Rücktritt kein Ende, sondern einen Anfang. Keine schwindenden Millionen, sondern schwindenden Druck. Kein Scheitern, sondern einen Erfolg. Vielleicht hat der Mann, über den jetzt alle den Kopf schütteln, das einzig Richtige getan.