Ich-Explosion: Das rätselhafte Phänomen der bipolaren Störung
"Die eigene Katastrophe auszustellen, hat etwas Aufdringliches; es aber nicht auszusprechen, ist noch verquerer, wenn man ohnehin schon bei den Konsequenzen angelangt ist."
Der 42-jährige deutsche Schriftsteller Thomas Melle (Anm.: der Abdruck der Textzitate erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Rowohlt Verlags) schont sich auf fast 300 Seiten nicht, er macht "tabula rasa": In seinem autobiografischen Erlebnisbericht "Die Welt im Rücken", dessen Dramatisierung am 11. März im Wiener Burgtheater mit Joachim Meyerhoff in der Hauptrolle uraufgeführt wird, nimmt er den Leser auf eine Nachtfahrt mit; die Nachtfahrt einer bipolaren Störung - mit all ihren "massiven Hoch-und Tiefdruckgebieten der Psyche".
Melle erzählt in einem wild mäandernden Bewusstseinsstrom, der in seiner Unberechenbarkeit und Spontanität den erratischen Krankheitsverläufen angepasst ist. Er berichtet von nur knapp gescheiterten Selbstmordversuchen, schwierigen Kindheitsverhältnissen, genetischer Vorbelastung, schildert psychotische Schübe, in denen so real wie nur vorstellbar Thomas Bernhard bei McDonald's in Wuppertal einen Burger isst und Madonna mit ihm im Bett liegt. Er erzählt von zerstörten Stipendiatenwohnungen, totaler sozialer Vereinsamung, endloser Trauer, kreativer Hybris, sozialen Verwüstungen und Aufenthalten in der Psychiatrie: "Du bist jetzt dort, wo nichts mehr stimmt. Schreie und Schlurfgeräusche begrüßen dich. Und eine aufgeladene Stille, die Art von Stille, die herrscht, wenn schweigende Leute schon zu lange auf etwas warten."
Was die Schwere der Krankheit betrifft, hat Melle, wie er schreibt, "die Jahreskarte" ausgefasst: Er leidet an der Form Bipolar 1, in der sowohl Manien als auch Depressionen "vollständig ausgeprägt sind", wobei die manischen Phasen von paranoiden Psychosen begleitet sind, was er an anderer Stelle "Psychofasching" oder schlichtweg "nuklear" nennt: "Als ich Sex mit Madonna hatte, ging es mir kurz gut. Madonna war noch immer erstaunlich fit, was mich allerdings kaum verwunderte. Man hatte ja verfolgen können, wie sie um 2006 zur Fitnessmaschine mutiert war ... "
Krieg im Inneren
Melle, der mit diesem Buch das Feuilleton seit Monaten beherrscht, rittert bei seiner Seelen-Offenlegung nicht um Mitleid und inszeniert sich dabei nicht als Märtyrer, sondern schildert pathosfrei, mit messerscharfer Präzision und großer Sprachgewalt den Krieg, der in seinem Inneren stattfindet: "es hatte sie (Anm.: diese Zustände) schon immer gegeben, in der Kindheit, der Jugend, der Adoleszenz: dieses hartnäckige Gefühl, aus der Bahn geworfen zu sein und ständig einen Abstand zwischen der Welt und mir überwinden zu müssen, und zwar nicht nur für ein paar Stunden oder Tage, sondern grundsätzlich". Bisweilen sind seine Beschreibungen so schmerzhaft, dass man das Buch zwischendurch länger weglegen muss, weil man die detail-brutale Wahrhaftigkeit kaum erträgt. Und nirgends ein "Happy End" in Sicht, denn eine bipolare Störung, die früher als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet wurde (was Melle passender findet), ist in der Regel ein lebenslanges Urteil. Die Ursachen sind bis heute nicht ausreichend erforscht: Fest steht, dass es, ähnlich wie bei reinen Psychosen, zu Irre-und Fehlleitungen im Hirn kommt -mit grausamen Konsequenzen: "Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr. Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein." Genetische Vorbelastung ist sehr wahrscheinlich ein Grund, entzündet wird die Krankheit oftmals durch Stresssituationen wie massive Anforderungen am Arbeitsplatz, Beziehungsprobleme oder traumatisierende Verluste.
Kürzlich verstarb die amerikanische Schauspielerin Carrie Fisher, die im kollektiven Gedächtnis vor allem als "Star Wars"-Prinzessin im goldenen Bikini strahlte, mit nur 60 Jahren an einem Herzinfarkt: Fisher hatte eine lebenslange Schlacht gegen ihre manisch-depressiven Schübe absolviert, die sie über Jahre mithilfe von Alkohol und Kokain in ständiger Absturznähe zu ertragen versuchte. In ihrem autobiografischen Roman "Postcards from the Edge" und ihren Memoiren "Wishful Drinking" schildert sie diese Höllenexkursionen und fungierte im britischen "Guardian" bis zu ihrem Tod als Ratgeberin für psychisch Erkrankte. Eine ihrer letzten Antworten an eine 20-jährige Leidensgenossin, die gerade frisch diagnostiziert worden war, lautete: "Du bist mir weit voraus. Du machst bereits mehr, als ich in diesem Alter getan habe Meine Krankheit ist immer ein schrecklicher Balanceakt Manchmal lasse ich alles fallen "
Langes Warten auf richtige Diagnose
Das Gefährliche an der bipolaren Störung ist, dass sie häufig nicht als solche erkannt wird, rund die Hälfte aller Erkrankten bleibt, so die Fachliteratur, un- oder fehldiagnostiziert. Mit fatalen Folgen, denn verschleppte oder falsche Behandlungen chronifizieren und verstärken das "zerfetzte Wandern" (Melle); die Suizidrate ist entsprechend hoch. "Ein Viertel jener Menschen, die in die Selbsthilfegruppe kamen", erzählt ein ehemaliger IT-Fachmann, der inzwischen berufsunfähig ist, "lebt heute nicht mehr". Auch er selbst wollte seinem Leben schon ein Ende setzen und aus dem Fenster springen: "Mein einziger Gedanke war: Ich will fliehen aus dieser entsetzlichen Situation - egal wie." Eine Metaanalyse aus 27 Studien mit fast 10.000 Patienten ergab, dass manisch-depressiv Erkrankte im Schnitt sechs Jahre auf eine richtige Diagnose warten müssen, die Deutsche Gesellschaft für bipolare Erkrankungen geht sogar von zehn Jahren aus. "Heute bin ich seit eineinhalb Jahren phasenfrei", erzählt eine junge Frau, "aber bis ich einen Psychiater gefunden hatte, der sich mit meinem Fall auch richtig auskannte und ich auch richtig eingestellt war, hat es endlos gedauert. Das war für mich eine echte Katastrophe." Wie so viele wurde auch sie anfangs als "Burnout"-Patienten klassifiziert und mit falschen Medikamenten behandelt: "Ich war nur noch müde, und wenn ich schlief, litt ich an entsetzlichen Alpträumen."
Rund 800.000 Menschen leiden in Österreich an depressiven Erkrankungen von unterschiedlichem Schweregrad; diese Expertenschätzung hält sich seit über einem Jahrzehnt konstant. Ebenso wie die österreichischen Versicherungsträger, gibt sich auch die WHO schwammig, was die Statistik von bipolar Erkrankten betrifft: Ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung würden durch "solche Wellentäler von Stimmungshighs, Hyperaktivität, Schlaflosigkeit, aber auch irrationaler Selbstzerstörung gepeitscht" und kämen danach "auf den Scherbenhaufen der Leere" zu sitzen, so Betroffene über ihre Zustände.
Tatsächlich scheint die Zahl, besonders in Mitteleuropa, um einiges höher zu liegen. Christian Simhandl, Gründer der Österreichischen Gesellschaft für bipolare Erkrankungen, geht von mindestens 400.000 Österreichern aus: "Die Statistik erfasst nur die wirklich schweren Fälle, die meist in die Psychiatrie kommen - es gibt aber auch solche, die nie stationär aufgenommen werden und dennoch die Kriterien erfüllen. Die haben eben gelernt, damit umzugehen." "Jede Depression ist einzigartig in ihren Ursachen und Wirkung", erklärt der ehemalige Clinton-Berater und heutige Depressionsforscher Andrew Solomon. Über Clinton sagte er übrigens im profil-Interview: "Der ist nur manisch, manchmal cholerisch und hat nicht die Spur von depressiven Anteilen." "In früheren Phasen glaubte ich, ein Vampir zu sein, in späteren, dass ich ein Engel wäre", erzählt eine 33-jährige Mutter von zwei Kindern profil ihre einzigartige Geschichte. "Es passte ja auch irgendwie, weil ich mich in der Manie für unsterblich hielt." Ohne dem Verständnis ihrer Lebensgefährtin hätte sie wahrscheinlich nicht überlebt: "Eines Morgens bin ich aufgestanden und habe mir den Hals mit dem Messer aufgeschlitzt. Dann habe ich meine Partnerin, die ich in manischen Phasen auch schon verlassen und betrogen hatte, angerufen und ihr erklärt, dass es das jetzt wohl gewesen ist." Angehörige sind ge-und auch überfordert, denn an ihnen liegt es, die ersten Anzeichen zu erkennen und therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Wie bei vielen psychisch Erkrankten ist die Selbsterkenntnis, Hilfe zu brauchen, sehr selten vorhanden. Trotzdem findet sie heute: "Meine Krankheit ist noch immer der Mercedes unter den psychischen Störungen. Sie hat mir Einblick in Welten verschafft, die ich sonst nie kennen gelernt hätte."
Hoher Erkrankten-Anteil unter Künstlern
Das Klischee vom in Manien und Melancholien zerrissenen Künstler hat durchaus seine Berechtigung. Die Liste der Schriftsteller, Maler und Schauspieler, die ganz klar die diagnostischen Kriterien einer bipolaren Psyche erfüllen, ist lang: Sting singt vom "Lithium Sunset" und sprach in Interviews von Selbstmordgedanken während seiner "Police-Tage", die Schauspielerin Catherine Zeta-Jones bekannte sich zu ihren bipolaren Störungen, Britney Spears lebte sie öffentlich, in den Biografien von Robert Schumann, Sylvia Plath, Isaac Newton, Hermann Hesse, Janis Joplin oder Kurt Cobain finden sich klare Anzeichen für die entsprechende Diagnose. Jene Künstler, die ihre Hyper-Manien dräuen sehen, können dadurch gezielt ihre Schaffenskraft potenzieren. Nach einer Untersuchung der US-Psychiaterin Kay Redfield Jamison, selbst auch bipolare Patientin, liegt der Anteil der derart Erkrankten unter den bedeutendsten amerikanischen und irischen Schriftstellern bei zehn Prozent.
"Mach dir Notizen, und der Schmerz verschwindet", schrieb die englische Schriftstellerin Virginia Woolf, doch irgendwann gab sie den Kampf gegen die immer länger werdenden Phasen der Depressionen auf, weil sie "sie nicht mehr aushalten und ertragen wollte. Die Zeit war reif", so Andrew Solomon in seinem Standardwerk "Saturns Schatten".
Am 28. März 1941 füllte sich die Schriftstellerin im Alter von 59 Jahren Steine in ihre Manteltaschen und stürzte sich in den Fluss vor ihrem Landhaus in Sussex. Ihrem Mann Leonhard hinterließ sie einen Abschiedsbrief: "Liebster, ich spüre genau, dass ich wieder wahnsinnig werde. Ich kann nicht länger dagegen ankämpfen " Immer wieder benutzte sie in ihren Aufzeichnungen die Metapher von Wellen für dräuende Manien und beschreibt, wie sie nach deren Verebben in die Melancholie stürzt: "Ich will schauen, wie die Welle steigt. Ausfall. Ja, ich merke das. Ausfall. Welle bricht. Ich wünschte, ich wäre tot." Die Ikone aller bipolaren Genies ist jedoch bis heute Vincent van Gogh, der sich in der Manie das Ohr abschnitt und seine Seele in einem Gedicht so beschrieb: "Mein Herz ist wie das Meer /Hat Sturm und Ebb und Fluth " Ganze Heerscharen von Kreativitätsforschern und Psychiatern arbeiteten sich an Van Gogh ab. In seinen letzten 70 Tagen, ehe er mit 37 Jahren an den Folgen einer selbst verschuldeten Schussverletzung starb (ob es ein Hilfeschrei, Unfall oder klarer Selbstmord war, ist bis heute ungeklärt), schuf er 60 Bilder und 80 Zeichnungen. Obwohl er sich im Briefwechsel mit seinem Bruder häufig über seine "grässlichen" Stimmungsschwankungen beschwerte, wusste er auch, dass er ihnen immense Schaffensexplosionen verdankte: "Die Normalität ist eine gepflasterte Straße - man kann gut darauf gehen. Allerdings wachsen auch keine Blumen auf ihr."
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 8 vom 20.2.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.