Die 1990er-Jahre erleben ein Revival – zu Recht?
Zum Glück sagen die meisten Bilder auch nicht mehr als Worte. Dieses Bild hätte vermutlich nicht viel Schönes zu erzählen. Am Anfang sieht es nur etwas seltsam aus. Dann sieht man genauer hin und hat ein sehr seltsames Gefühl, das ziemlich genau in der Mitte zwischen Bestürzung, Verlustangst und Trauer liegt. Man erinnert sich und denkt: Schrecklich muss das damals gewesen sein. Trotzdem schade, dass es vorbei ist.
Und das alles nur wegen der Kelly Family, wegen eines Blicks auf das Coverbild ihrer neuen CD "We Got Love", die Anfang April erschienen und natürlich sofort auf dem ersten Platz der österreichischen Popcharts eingestiegen ist. Das Bild zeigt sechs vom Leben gezeichnete Mitglieder der vor 20 Jahren weltberühmten irisch-amerikanischen Musiker- Familie, die zwischen Flohmarktmöbeln und dürren Sträuchern sitzen, verschiedene Karomuster tragen und mehr oder weniger lächeln.
Vor einer Woche standen dieselben sechs Rest-Kellys (der Folkrock-Clan ist seit Jahren notorisch zerstritten) zum ersten Mal seit Langem wieder gemeinsam auf einer Bühne, nämlich jener der dreimal hintereinander ausverkauften Westfalenhalle in Dortmund. Es war, vertraut man Augenzeugenberichten, bestürzend und traurig, aber auch schön. Die "Westfälischen Nachrichten" kommentierten das Ereignis am Montag der Vorwoche nüchtern: "Wenn auch die Kelly Family heute nicht mehr so unbekümmert wie 1994 ist, nach drei Zugaben geht keiner der Fans unzufrieden über das Comeback nach Hause." Wahrscheinlich war es den Fans ähnlich ergangen wie Joey Kelly, der die Wiedervereinigung seiner Familie schon vorab bewusst gelassen avisiert hatte: "Ich bin ja eigentlich mittlerweile Sportler, aber das lasse ich mir nicht entgehen."
Der Hype der 90er Jahre: Kelly Family, Baywatch, Bravo-Hits
Insgesamt kann es sich beim Comeback der Kelly Family also nur um einen Witz handeln - oder aber um Nostalgie. Das eine ist mit dem anderen verwandt. Es mangelt derzeit nicht an Gelegenheiten, dies am Beispiel der 1990er-Jahre zu verifizieren. Gerade ist der Film "Baywatch" angelaufen, der die schon zu Ausstrahlungszeiten alberne TV-Serie über eine Gruppe kalifornischer Rettungsschwimmer noch ein deutliches Stück weiter in Richtung Lächerlichkeit dreht. Der zweite Teil der britischen Heroin-Oper "Trainspotting" kommt in ein paar Tagen in den digitalen Verleih, und auf den Musikfestivals dieses Sommers laufen gleich Dutzende direkte oder indirekte Reminiszenzen an das Jahrzehnt, das unter anderem "Seinfeld" und "Friends" hervorgebracht hat, "Pulp Fiction" und "Forrest Gump", Grunge und Gangsta-Rap, Michael Jordan und Andi Goldberger, Kruder und Dorfmeister, Haider und Klima, Boybands und Girlgroups, Oasis und Blur, Arabella und die Love Parade. Ganze Mediensparten leben mittlerweile von der 1990er-Nostalgie, darunter Online-Listenersteller ("Welcher Dawson's-Creek-Charakter bist du?"), Privatfernseh-Expertendarsteller ("Die 100 peinlichsten Hits der 90er") und hin und wieder auch politische Nachrichtenmagazine.
Sie alle stellen sich, mehr oder weniger gewissenhaft, Fragen wie diese: Warum durchweht Menschen, die zwischen 1976 und 1986 geboren wurden, ein bittersüßes Gefühl, sobald sie an eiförmige Schlüsselanhänger mit Schwarzweiß-Display denken? Liegt es wirklich nur daran, dass sie in einer Zeit, in der halbwegs erwachsene Menschen digitale Küken aufpäppelten, selbst gerade halbwegs erwachsen wurden und insofern die beste Zeit ihres Lebens hatten? Oder hat das wohlige Erschauern doch tiefere kulturspezifische Gründe? Lässt sich ein Unterschied ausmachen zwischen der Vergangenheit vor zwei und jener vor 20 Jahren? Waren die Neunziger vielleicht sogar das letzte beste Jahrzehnt? Oder brauchen wir bloß alle eine kulturelle Phantomschmerzbehandlung?
Es war zwar auch damals nicht immer klar, was die Zukunft bringen würde, aber es war immerhin ziemlich sicher, dass es eine geben würde.
Nostalgie befällt die Menschheit seit jeher in Wellen. Die Leute werden älter und beginnen, sich mit Wehmut an ihre Jugend zu erinnern, also an die Zeit, in der sie 18,20,25 Jahre alt waren. Häufig finden sie dann Gleichaltrige, die mit ihnen auf Motto-Partys gehen oder Kultfilm-Kinoabende veranstalten. Die 1990er-Nostalgie, die die aktuelle Pop-und Alltagskultur durchsetzt, funktioniert ein wenig anders. Das liegt erstens daran, dass die 1990er-Jahre ein wenig anders funktionierten. Es gibt ein paar gute und viele schlechte Argumente, sie als das letzte "unschuldige" (vielleicht aber einfach nur naive) Jahrzehnt zu bezeichnen. Alles, was den Menschen heute quält und verwirrt, also zum Beispiel islamistischer Terror, spekulativer Hochfrequenzhandel, Filterblasen, Selbstoptimierungsgebote oder Smartphones, war damals allenfalls als fernes Wetterleuchten wahrnehmbar.
Die ökonomische Situation war weitgehend in Ordnung, jedenfalls in Österreich; die Arbeitslosenrate pendelte um 3,5 Prozent (heute liegt sie bei sechs Prozent). Die Wirtschaft wuchs zwischen 1990 und 1999 im Schnitt um 2,7 Prozent pro Jahr (seit der Jahrtausendwende sind es nur noch 1,4 Prozent). Das damals noch ziemlich neue Internet machte das Leben in vielen Fällen einfacher und häufig auch billiger. Man konnte aber auch ohne WWW noch ganz gut auskommen und trotzdem Gleichgesinnte finden. Es gab so etwas wie einen gesellschaftlichen Konsens darüber, wo wir stehen, wie es uns geht und woher das kommt (über die Konsequenzen daraus konnte man natürlich sehr gut streiten ). In Südafrika wurde die Apartheid abgeschafft; AIDS konnte zwar nicht geheilt, aber um seine größten Schrecken gebracht werden. Sogar ein Frieden im Nahen Osten erschien greifbar. Es ist kein Zufall, dass immer noch jede "Starbucks"-Filiale weltweit so aussieht, als wäre sie aus den Kulissen von "Friends" geschnitzt. Die 1990er-Jahre waren einfach sehr gemütlich.
Natürlich war nicht alles gut. Im ehemaligen Jugoslawien brachen schreckliche Bürgerkriege aus. Der österreichische Rechtspopulismus erlebte seine ersten Sternstunden, über 400.000 Menschen unterschrieben das "Ausländervolksbegehren" ("Österreich zuerst"). Aus Vranitzky wurde Klima, aus Journalismus Boulevard. Aber selbst im Tragischen zeigte sich das Beruhigende dieser Ära: Die Tatsache, dass Zehntausende Kriegsflüchtlinge aus Kroatien, Serbien oder Bosnien nach Österreich kamen, brachte manche Einheimische zwar an den Rand ihrer Gastfreundschaft, ließ aber nur wenige an den bevorstehenden Weltuntergang glauben, und die meisten spendeten sogar für "Nachbar in Not". Allein in Wien demonstrierten 300.000 Menschen gegen den Fremdenhass ("Lichtermeer"). Und die Österreicher wollten mehrheitlich Teil eines Freihandels- und Friedensprojekts namens Europäische Union werden.
"Arschgeweihe, Nacken- oder Tribal-Tattoos, perforierte Augenbrauen, Zungen, Nasenflügel oder Bauchnabel, zu schmale Nasen und verrutschte Implantate, sie alle sagen heute: Ja. Es war egal. Aber ich war dabei."
Bei näherer Betrachtung waren die 1990er also ein durchaus lebenswertes, wenn auch sonst nicht weiter bemerkenswertes Jahrzehnt. Die im Zeitgeist-Journalismus jener Jahre sozialisierte Autorin Rebecca Casati sah darin eine "insgesamt vorzeigbare, aber komplett geheimnislose und latent verheulte Ära" und machte die 1990er an ihren Körpern fest: "Arschgeweihe, Nacken- oder Tribal-Tattoos, perforierte Augenbrauen, Zungen, Nasenflügel oder Bauchnabel, zu schmale Nasen und verrutschte Implantate, sie alle sagen heute: Ja. Es war egal. Aber ich war dabei."
Andererseits sind die gegenwärtigen 1990er-Revivals (es gibt sie selbstverständlich in den unterschiedlichsten Preisund Produktklassen) auch für Leute, die nicht oder nur als Kleinkinder dabei waren, durchaus anschlussfähig. Es geht nämlich nicht mehr um die Komplettansicht einer Epoche, sondern um einzelne Schlaglichter, die meist auch gar nicht auf das Original geworfen werden, sondern auf dessen zeitgemäße Retusche in Form von Videoschnipseln auf YouTube, musikalischen Zitaten in der Großraumdiscobeschallung oder völlig beliebigen Internetlisten. Sich zu erinnern, ist einfach geworden; eine Haltung zur Vergangenheit einzunehmen, eher nicht. Die Schnipsel fügen sich nicht zu einem Bild. Man kann sie drehen und wenden, wie man will. Und wann man will.
Die Nostalgie ist nicht mehr, was sie einmal war
Man wird nicht mehr, wie bei einem zufälligen Blick in ein altes Fotoalbum, von ihr überwältigt. Man konsumiert sie. Man ist nicht mehr auf der Suche nach einer verlorenen Zeit, weil die 1990er-Jahre nie verloren gegangen sind. Sie waren die erste Dekade, die nie wirklich zu Ende ging, weil mit ihrem Ablauf auch schon ihre Wiederbelebung anlief und genau zu diesem Zeitpunkt auch noch das Internet mehrheitsfähig wurde. Niemand muss darauf warten, dass zufällig "Macarena" im Oldies-Radio läuft oder auf dem Pfarrflohmarkt ein Super Nintendo aufliegt. Niemand muss mehr Best-of-CDs à la "Wicki, Slime und Paiper" kaufen, weil alles, was in den 1990er-Jahren gesagt, gesungen oder gespielt wurde, ohnehin im eigenen Smartphone steckt.
"Wicki, Slime und Paiper" war übrigens eine sehr typische Erinnerungskulturleistung der 1990er-Jahre: ein Revival, das sich weniger der popkulturellen Produktion oder prägnanten Modestilen zuwandte als vielmehr der reinen Konsumwelt, in diesem Fall den "kultigen" Produkten der 1970er-Jahre. Die 1990er-Jahre waren schließlich auch das erste Jahrzehnt, das über weite Strecken schon selbst durch Revival-Schleifen ging und sich dabei durchaus auch einmal aus den Augen verlor. Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stand im Schatten seiner Vorgänger und am Ende ein bisschen dumm da.
Die totale Permanenz der Vergangenheit, das Ende der Geschichte als Hintereinander zugunsten einer verschwommenen Gleichzeitigkeit, verändert den Blick auf das, was früher war. Die Nostalgie löst sich von den großen generationsstiftenden Gemeinsamkeiten und heftet sich stattdessen an ein paar lustige Videos. Das kollektive Geschichtsbewusstsein laboriert an schwerem Aufmerksamkeitsdefizit. Die Zeit ist aus den Fugen, die Orientierung dahin. Dabei hatten die 1990er-Jahre, im Vergleich zu dem, was seither geschah, einen wesentlichen erinnerungspolitischen Vorteil: Sie verfügten noch über letzte Restvorkommen von gemeinschaftsstiftenden Ereignissen, sei es die Love Parade '97 oder "Bravo Hits 10". Ja, es gab sogar noch Teile von Jugendbewegungen.
"Die 90er waren das letzte Jahrzehnt des Individuums. Es gab Menschen mit schlechten Zähnen und fettigen Haaren, es gab Dünne und Dicke, und kaum jemand außer seltsamen Vögeln rannte in ein Fitnessstudio."
Die 1990er-Jahre waren das letzte Jahrzehnt, bevor die Welt unübersichtlich wurde. Es war zwar auch damals schon nicht klar, was die Zukunft bringen würde, aber es war immerhin ziemlich sicher, dass es eine geben würde. Die Gegenwart war nicht immer hoffnungsvoll, aber nie wirklich trostlos. Der Mensch war mit sich selbst, aber nicht ausschließlich mit seiner Selbstverbesserung beschäftigt. Nichtstun war eine Möglichkeit. Die Autorin Sibylle Berg hat dieses Zeitgefühl sehr schön formuliert: "Eine Million war noch richtig viel Geld, aber uninteressant." Außerdem waren die 1990er, so Berg, "das letzte Jahrzehnt des Individuums. Es gab Menschen mit schlechten Zähnen und fettigen Haaren, es gab Dünne und Dicke, und kaum jemand außer seltsamen Vögeln rannte in ein Fitnessstudio."
Und dann war der Spuk vorbei. 1999: In Österreich wurde die FPÖ zweitstärkste und schließlich Regierungspartei, in Russland legte Boris Jelzin sein Amt in die Hände von Wladimir Putin. Die NATO bombardierte Jugoslawien, der US-Senat begann sein Impeachment-Verfahren gegen Bill Clinton. Zwei Jugendliche massakrierten in Columbine, Colorado, zwölf Mitschüler. Steffi Graf hörte auf, professionell Tennis zu spielen. Google ging in den Vollbetrieb.
Geschichte wird gemacht.