Immanuel Kant und seine Revolution des Denkens
Von Angelika Hager
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Immanuel Kant exekutierte seine Alltagsgewohnheiten mit der Gnadenlosigkeit eines Feldmarschalls. Nur im Korsett eines streng reglementierten Lebenswandels stieße man seiner Ansicht nach zu den Quellen geistiger Gesundheit vor. Morgens um 4.45 Uhr ließ er sich von seinem Diener wecken, zum Frühstück gab es zwei Tassen Tee und eine Pfeife, dann ab an den Schreibtisch. Ab sieben Uhr morgens hielt er seit seiner Ernennung zum Professor für Logik und Metaphysik an der Universität von Königsberg im Jahr 1770 Vorlesungen, der Hörsaal war laut Zeitzeugen stets dicht gefüllt. Kant brillierte mit Witz und Laune. Und forderte von seinen Studenten das, was auch das Fundament seines philosophischen Credos war: Bediene dich deines eigenen Verstands, studiere nicht Philosophie, sondern philosophiere. Er konnte, so wird er in einem Bericht zitiert, durchaus polemisch-arrogant werden, wenn er das Gefühl hatte, dass es sich seine Studenten in der Unmündigkeit bequem machten: „Euch kann man alles erzählen und ihr glaubt es. Sogar, dassGoethe ein großer Schriftsteller ist. Er schreibt grässliche Romane.“
Im fortgeschrittenen Alter legte er um Punkt 19 Uhr einen Spaziergang ein, Punkt 22 Uhr legte er sich zu Bett und hatte auch da ein strenges Ritual, was die Drapierung seiner Bettdecke betraf. Ein Zeitzeuge:„… gleichsam wie ein Kokon eingesponnen, erwartete er den Schlaf.“ Trotz dieser rigorosen Alltagsstrukturierung ist Kant im Gegensatz zu seinem weitverbreiteten Image kein verknöcherter, zergrübelter Eigenbrötler gewesen, sondern ein geselliger Mensch, der bei seinen legendären Mittagsgesellschaften ein offenes, kulinarisch großzügiges Haus führte, in dem viel gelacht und während der Mahlzeiten Philosophisches strikt ausgeklammert wurde. Er setzte schon damals auf die Kraft der Regeneration. Kant, nur 1,57 Meter groß, kleidete sich gern nach den Farben der Blumen, also durchaus exzentrisch. Sein Student Johann Gottfried Herder nannte ihn den „galantesten Mann von der Welt“.Was für Sigmund Freud der Sexualtrieb als Fundament seines Universums darstellte, war für Kant die Vernunft und der daraus resultierende „kategorische Imperativ“. Der Begriff war für ihn nichts als die Forderung nach höchstem Moralempfinden im Sinne der Gemeinschaft: „Verhalte dich immer so, als ob das Gewicht und Gesicht der Welt von deinen Taten abhinge.“
Kant „in a nutshell“ ließe sich mit jenen Fragen skizzieren, an denen er sich bis zu seiner beginnenden Demenz (er wurde 79 Jahre alt) abarbeitete: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Und über allem: Was ist der Mensch? Was sein Gottesverständnis betraf, war er Agnostiker: Seiner Meinung nach existierten keine Beweise und Belege für die Existenz Gottes, aber auch keine für seine Nicht-existenz. So schaffte er es auch auf denVerbotsindex der katholischen Kirche Die Lektüre von Kant war überdies eine beichtenswerte Sünde.Womöglich lässt sich die Klarheit von Kants Denkens an der Stilistik seines Billardspiels am besten nachvollziehen. Er spielte am liebsten gegen sich selbst, blendete den Rest der Welt dabei aus und war vor allem fasziniert von der Logik und Ästhetik des Kräftespiels der Kugeln.Der Literaturwissenschafter Jürgen Wertheimer, selbst in bekennender Schockstarre angesichts Kants „schroffer Satzgebilde und spröder Begriffe in der Höhenluft abstrakten Denkens“, vermenschlicht in seinem Buch „Der Magier der Vernunft – in 24 Episoden“ den aus einfachen Verhältnissen stammenden Philosophen und trägt damit zur Erleichterung aller Denk-Laien bei. Denn Kant, das geben selbst eingefleischte Kantianer zu, ist sperrig zu lesen. Einer der Gründe, warum manche Kant nur mit spitzen Fingern anfassen wollen, ist sein rassistisches Image. Ein Vorwurf, den man nicht gänzlich aus der Welt räumen, aber entsprechend eindämmen kann, wenn man seine Äußerungen über „wilde und rohe“ Menschen, die noch nicht voll ausgebildet seien, im Kontext seiner Zeit sieht.„Wenn Kant von ‚fremden Rassen‘, ‚exotischen Völkern‘ sprach, war er erstaunlich korrekt“, so Wertheimer, „erstaunlich deshalb, weil im 18. Jahrhundert latenter Rassismus an der Tagesordnung war.“Der österreichische Philosoph und Autor Konrad Paul Liessmann, langjähriger Professor an der Universität Wien für Philosophie und Ethik, untersuchte Kants Schriften, die weit über 1000 Seiten umfassen, auf genau diesen Aspekt: „Ich fand auf nur 24 Seiten als rassistisch interpretierbare Bemerkungen.“ Ein Gespräch mit Österreichs Paradephilosophen über Kant und warum er bis heute aus dem Kanon der Philosophie nicht wegzudenken ist.
Wir leben in einem Zeitalter der freiwilligen Selbstentmündigung: Lebensratgeber, Apps für eigentlich alles, vom Eierkochen bis zur Behandlung von Depressionen. Wäre Kant mit seinem Slogan „Sapere aude – Habe Muth (sic!) dich deines eigenen Verstands zu bedienen“ da nicht verzweifelt, Herr Professor Liessmann?
Ich bin eigentlich kein großer Freund dieser Was-wäre-wenn-Fragen, aber wenn man jetzt, natürlich in Kenntnis seines berühmten Aufsatzes „Was ist Aufklärung?“, Kant mit unserer Sucht, sich in allem und von jedem beraten zu lassen, konfrontierte, würde er wahrscheinlich mit einer Mischung aus Ärger, Verwunderung und vielleicht auch Amüsement reagieren. In diesem Aufsatz spricht er sich ja auch dagegen aus, sich in Alltagsdingen, die man selbst entscheiden könnte, auf fremde Ratgeber zu verlassen. Allerdings war Kant auch der Überzeugung, dass Vernunft im Sinne der Aufklärung öffentlich zugänglich sein sollte. Man sollte seine Thesen, Argumente und Einsichten öffentlich zur Debatte stellen, was damals in Journalen, Zeitungen und Vorträgen ja auch geschehen ist. Was wir aber in diesem Punkt nicht übersehen dürfen, ist der heutige ungeheure Spezialisierungsgrad von Wissen und der leichte Zugang zu fachlichen Expertisen, die auf jahrelangen Forschungen und Erkenntnissen basieren. Ich könnte mir vorstellen, dass Kant von der Möglichkeit der modernen Medien fasziniert gewesen wäre und er mit Lust diverse Gesundheitsportale durchforstet hätte. Er war ja medizinisch sehr interessiert, hat versucht, sich selbst zu therapieren, hat sich auch eigene Diäten zusammengestellt und die damaligen Quellen des Wissens exzessiv genutzt. In eigener Verantwortung und aus eigener Überzeugung auf Basis dieses gesicherten und verlässlichen Wissens über seinen Körper, seine Ernährung, seine Lebensweise und Schlafgewohnheiten zu entscheiden, damit hätte Kant keine Probleme gehabt.
Warum ist Kant bis heute so was wie der Popstar unter den Philosophen?
Nun, so richtig populär ist er nie geworden: Er gilt ja als äußerst schwierig zu lesender Denker. Aber an Kant führt in allem, was Erkenntnistheorie, Ethik oder Ästhetik betrifft, kein Weg vorbei. Das gesamte 19. und 20. Jahrhundert ist in der Philosophie sowohl in der Nachfolge als auch in der Abgrenzung von Kant beeinflusst. Die pragmatische Nüchternheit, Klarheit und Analytik seines Denkens macht ihn unantastbar und nicht anfällig für ideologischen Missbrauch. Da er selbst keine politische Strömung beeinflusst oder ausgelöst hat, unterliegt sein Denken auch nicht solchen Konjunkturen wie jenes von Hegel, Marx oder Nietzsche, die auch dann immer wieder aus der Mode kommen.
Woher rührt Kants optimistisches Bild vom Menschen als vernunftbegabtes Wesen?
Da muss ich entschieden widersprechen. „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden“, schrieb er. Kant war im modernen Sinn kein Optimist, weil er die Idee, dass es so etwas wie einen notwendigen Fortschritt in der Entwicklung der Zivilisation gäbe, nicht geteilt hat. Seiner Ansicht nach gibt es keine Notwendigkeit, dass die Menschen seiner oder eben unserer Zeit klüger, besser oder zivilisierter sind als jene, die vor 5000 Jahren gelebt haben. Er war nur insofern Optimist, als dass er der Meinung war, Menschen seien vernunftbegabte Wesen und könnten allmählich lernen, Vernunft zu ihrem eigenen Nutzen und zu jenem ihrer Mitmenschen zu gebrauchen. Das war seine Forderung. Tatsächlich war er der Meinung, dass der Mensch einen Hang zum Bösen hat. Und diesen Hang gilt es zu bekämpfen, am besten mit Regeln, denen man sich zu unterwerfen hat. Eine witzige Formulierung von ihm war, dass selbst ein „Volk von Teufeln“ einen Staat benötige – wenn sie etwas Verstand haben. Gesetze sollten so beschaffen sein, dass sie selbst dem Bösesten einsichtig sind und der sich – zähneknirschend – daran hält: aus wechselseitigem Eigennutz. Tatsächlich besaß Kant ein sehr nüchternes Menschenbild.
Trotzdem verfasste Kant, in voller Kenntnis der Französischen Revolution und ihrer blutigen Auswirkungen, 1791 die Schrift „Zum ewigen Frieden“. Schwang da Ironie mit?
Kant besaß einen sehr feinsinnigen Humor. Der vermeintlich pathetische Titel ist ein Indiz dafür. Tatsächlich inspirierte ihn das Namensschild eines Wirtshauses, das genau so hieß und neben einem Friedhof lag. Nur dort gibt es einen ewigen Frieden. Im Grunde war Kant ein Jakobiner des Geistes – zumindest hat dies Heinrich Heine so gesehen. Er wollte also den Bürger zu einem selbstverantwortlichen, freien und moralischen Verhalten ermuntern. Tatsächlich ging Kant von einem transzendentalphilosophischen Ansatz aus. Er stellte sich generell die Frage nach den Bedingungen einer Möglichkeit, also etwa der Möglichkeit der Erkenntnis oder der Möglichkeit eines halbwegs friedlichen Zusammenlebens. Aus diesem Gedanken entwickelte er die Grundlagen für modernes Völkerrecht. Die UN-Charta basiert auf Kants gedanklicher Grundlage. Dem Frieden könne man nur durch Vertragswerke nahekommen – Verträge, die ermöglichen, dass man Interessenskonflikte nicht auf dem Schlachtfeld austragen muss. Er war der Überzeugung, dass Handelsbeziehungen und kulturelle Beziehungen das Verständnis der Nationen untereinander vertiefen. Wer keinen Krieg will, der erkennt diese Bedingungen an. Wer diese Bedingungen nicht akzeptiert, der wird auch Kriege führen. Da war Kant durchaus realistisch.
Wie hielt es Kant mit der Sexualität? Lebte er mönchisch? War er schwul?
Über sein Beziehungsleben ist sich die Kant-Forschung nicht einig. Fest steht, dass er durchaus in Korrespondenz mit Frauen stand, allerdings existieren keine eindeutigen Stellen über sein Sexual- oder Beziehungsleben. Was man auch als Ausdruck seiner Diskretion sehen könnte. Was sein Frauenbild betraf, war er ein Kind seiner Zeit und in den traditionellen Werten verhaftet, also nicht besonders fortschrittlich. Aber was ich für eine der genialsten Definitionen von Kant halte, ist seine Beschreibung von Ehe, die, wenn man sie ein wenig erweitert, imstande ist, Grundformen des Zusammenlebens zu regeln:
„… die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften.“ Da braucht es keine Segnung und keine Heiligkeit, und Kant hat damit die Ehe auch vom Auftrag der Reproduktion entkoppelt. Letztlich ist die Ehe nichts als ein Vertrag zwischen zwei Menschen in Hinblick auf ihre Sexualität. Das ist das Konzept der Einvernehmlichkeit, wie es heute an Universitäten und von der woken Bewegung gefordert wird: Ja ist ja, und nein ist nein. Diesen Vertrag, so ist Kant überzeugt, brauchen wir, damit wir beim Akt der Sexualität nicht in die Tierheit zurückfallen und die wechselseitige Achtung des Menschen garantiert ist. Lust tendiert, sich selbst überlassen, dazu, den anderen als reines Objekt, nur als Mittel zum Zweck zu betrachten. Sie muss vertraglich gebunden werden, damit die Achtung und der Respekt vor dem anderen gewahrt bleiben. Sich dabei nur auf Zuneigung und Liebe zu verlassen, ist gerade im Feld des Begehrens ziemlich riskant. Die Kant-Kritiker haben sich darüber sehr gerne lustig gemacht. Ich finde seine Ansichten eigentlich ziemlich modern und für viele Beziehungsformen relevant.
Angelika Hager
leitet das Gesellschafts-Ressort