In den unendlichen Weiten der Musikstreaming-Wolke: Ein Selbstversuch
Der Weg nach San Jose beginnt irgendwo in meinem Abstellraum. Rechts unten, vermute ich, es könnte aber auch weiter hinten sein, so genau lässt sich das nicht sagen. Seit meinem letzten Umzug stehen in dem Abstellraum ein paar hundert Platten, und wo genau das Album mit Dionne Warwicks „Do You Know The Way to San Jose“ steht, lässt sich auf die Schnelle nicht eruieren, die Sammlung ist momentan, nun ja, nicht sehr buchhalterisch angelegt, der Umzug ja auch erst ein paar Monate her. Mir fällt ein Wort des amerikanischen Musikkritikers Alex Ross ein: Was früher „eine Sammlung anlegen“ hieß, bedeute heute bloß noch zwanghaftes Anhäufen.
Denn Musikliebhaber leben heute bevorzugt in leeren Räumen, allenfalls liegt ein Ladekabel herum, ihre Sammlung selbst bleibt unsichtbar. Und sie ist größer als je zuvor. Sie steht (liegt? schwebt?) in der Wolke, der nebulösen Speicherzone der digitalen Welt. Sie umfasst zig Millionen Exponate und ist trotzdem sehr aufgeräumt. Man holt Musik nicht mehr aus dem Regal, sondern aus dem Netz, muss sie dafür auch nicht mehr unbedingt besitzen, sondern nur noch borgen, sprich: streamen. Der Weg nach San Jose beginnt auf meinem Laptop-Bildschirm links unten.
Manchmal zeigen sich Revolutionen in kleinen Details. Zum Beispiel an dem gelben Klebezettel, der lange auf meinem Computerbildschirmrand haftete.
Da, genauer: in der Fußzeile meines iTunes-Stores, steht seit Anfang des Monats: „Apple Music“. Das ist insofern seltsam, als der Lifestylegerätekonzern aus Kalifornien seine Innovationen ansonsten nicht so gut versteckt. Aber vielleicht geniert man sich ja ein bisschen, immerhin ist die Innovation diesmal keine große Neuigkeit und Apple ausnahmsweise Nachzügler. Sein mit großem Trara angekündigter Musikstreaming-Dienst macht auch nichts anderes als alle anderen Musikstreaming-Dienste: ein unüberschaubares Musikarchiv zum Verleih anzubieten und dafür eine monatliche Fixgebühr einzuheben (üblicherweise zehn Euro pro Monat). Das ist nun wirklich nichts Neues – auch in Österreich machen Online-Streams bereits einen beträchtlichen Anteil des Musikmarktes aus. Konkret wurden damit laut Jahresbericht des Industrieverbands IFPI Austria im Vorjahr knapp neun Millionen Euro umgesetzt (bei einem Gesamtmarkt von 145,5 Millionen Euro), was einer Steigerung um 33 Prozent entspricht. Gleichzeitig gingen die Erlöse aus Downloads um zwölf Prozent zurück. Der Online-Musikmarkt ändert sich gerade gewaltig, und weil Online die Zukunft der Musikindustrie liegt, hat das gewaltiges Gewicht. Das Majorlabel Warner Music gab jüngst bekannt, dass seine Erlöse aus Streaming-Diensten inzwischen die Download-Umsätze übertreffen.
Ich bin übrigens ein ausgesprochen schlechter, weil überhaupt nicht zeitgemäßer Streamer.
Manchmal zeigen sich Revolutionen in kleinen Details. Zum Beispiel an dem gelben Klebezettel, der lange auf meinem Computerbildschirmrand haftete. Darauf standen Namen von Bands, Musikern, Songs und Alben. Ein paar waren durchgestrichen, diese Songs oder Alben hatte ich dann schon (gekauft, geborgt oder als verzichtbar erkannt), die anderen starrten mich oft über Monate an. Ich komme in letzter Zeit nicht mehr so oft zum Plattenkaufen. Dann aktivierte ich meinen Zugang zu Spotify, dem Weltmarktführer im Streaming-Geschäft. Es hat nicht ganz eine Minute gedauert, bis meine Platteneinkaufsliste abgearbeitet war. Das Post-it verschwand, und das schlechte Gewissen, meinen Plattenhändler betreffend, irgendwann auch.
Ich bin übrigens ein ausgesprochen schlechter, weil überhaupt nicht zeitgemäßer Streamer. Als würde mein Post-it noch immer da kleben, streame ich fast ausschließlich ganze Alben. Zeitgemäße Streamer machen so etwas nicht, sie streamen Playlists, also thematisch, musikalisch oder sonstwie passende Zusammenstellungen unterschiedlicher Songs. Man kann sich seine Playlists gern selbst basteln, aber die handelsüblichen Streamingdienste übernehmen das gern für einen, sie haben dafür Spezialisten. Wie sich zum Beispiel Spotify das vorstellt, erklärte dessen Gründer Daniel Ek dem „New Yorker“ unlängst so: Man habe eine Software entwickelt, die aus den diversen Nutzerdaten, die ein Nutzer im Lauf der Zeit absondert, gezielt individuelle Playlists für genau diesen Nutzer entwirft. Dabei spielen musikalische Vorlieben, die Tageszeit, aber auch das Wetter, die genaue Position des Hörers oder seine Facebook-Angaben eine Rolle. Wer gerade Schluss gemacht hat, bekommt eher mehr Balladen serviert als jemand, der im Fitnessstudio schwitzt. Die Anwendung nennt sich „Spotify Now“ und ist bislang nur iPhone-Besitzern in den USA, Großbritannien, Deutschland und Schweden zugänglich. Uns bleibt einstweilen nur die Funktion „Spotify Running“, durch die der Streamingdienst per Smartphoneüberwachung herausfindet, wie schnell ich laufe, und passend langsame Musik einspielt. Leider gibt es keine Option für „Sitting“, die herausfindet, wie engagiert ich gerade am Computer sitze, aber das kommt vielleicht noch.
Man kann sich aber auch mit ganz unpersönlichen Playlisten begnügen, was aber eine etwas seltsame Angelegenheit sein kann. Gerade eben etwa schlug mir Spotify seine Playlist „Schreibtischparty“ vor. Leider spielten darin David Guetta und Katy Perry tragende Rollen, was die Partystimmung doch rasch verdüsterte. Alternativ wären auch „Rock das Büro“ verfügbar, „Power Workout“ oder „Die Putz Playlist“ (Motto: „Ein Tänzchen mit dem Wischmopp gefällig?“). Danke, muss nicht sein. Das Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hörte jüngst übrigens schon „die Seele der Musik“ sterben, weil der Mensch heutzutage nur noch streame. Wobei: „Schwer zu sagen, was die Allzeit- und Überallverfügbarkeit mit der Musik macht. Und was sie an ihr kaputtmacht.“ Eine kleine Ahnung hätte ich da schon.
Keine Ahnung dagegen, warum Apple so lange gebraucht hat, um Apple Music einzurichten. Möglicherweise wollte man sich den hauseigenen Musikhandel nicht selbst kaputtstreamen. Immerhin gab es zur Markteinführung ordentlich PR in Form eines öffentlichen Briefwechsels mit der Streaming-Skeptikerin Taylor Swift. Die Sängerin beschwerte sich via Twitter (und trotzdem sehr höflich) bei Apple über die Tatsache, dass das Unternehmen während seiner Kennenlern-Aktion (drei Monate gratis für Neukunden) keine Lizenzgebühren an die Musiker abzuführen gedachte. Apple änderte daraufhin seinen Plan, weil, so der zuständige Apple-Vorstand Eddy Cue: „Als ich heute morgen aufwachte und las, was Taylor geschrieben hatte, kam ich schnell zur Ansicht, dass wir etwas ändern müssen.“ Das klingt zwar nicht besonders glaubwürdig, ändert aber ohnehin nichts an der interessanten Erkenntnis, dass es offenbar Apples eigene Entscheidung ist, ob Rechte überhaupt abgegolten werden oder nicht.
Wobei Geldfragen in Streamingangelegenheiten schon aus Prinzip peinlich ausfallen. Denn auch wenn Musik-Streaming für die Musikindustrie als Hoffnungszweig gilt (immerhin zahlt der Streamer im Gegensatz zum illegalen Downloader und gibt, wie Spotify gern vorrechnet, insgesamt sogar mehr für seine Musik aus als der durchschnittliche altmodische Radio- und CD-Hörer), schlägt sich die Hoffnung bei den beteiligten Musikern nur bedingt in materiellen Werten wieder. Auch wenn das Geld aus der Wolke regnet, bleiben individuelle Durststrecken keineswegs ausgeschlossen.
Am Beispiel Spotify, das für sein Angebot 9,99 Euro verlangt (oder wahlweise das dauernde Abhören penetranter Werbeeinschaltungen): Von sämtlichen Gebühren- und Werbeeinnahmen behält der Anbieter 30 Prozent und verteilt den Rest nach einem komplexen Schlüssel (unter anderem werden die Gesamtzugriffe innerhalb eines Landes mit den Streams einzelner Songs verrechnet) an die jeweiligen Rechteinhaber, also in erster Linie die Musiklabels. Von diesen wird das Streamingvermögen, nach meist noch viel komplexerem Schlüssel, an die einzelnen Künstler umverteilt.
Apple kennt mich übrigens doch nicht so gut wie befürchtet. Aber möglicherweise habe ich mich auch einfach verklickt.
Seit dem Start 2008 hat Spotify, das aktuell 75 Millionen regelmäßige User und 20 Millionen zahlende Kunden zählt, nach eigenen Angaben insgesamt rund drei Milliarden US-Dollar an Lizenzgebühren weitergereicht (womit man sich auch den beim Anbieter verbliebenen 30-Prozent-Anteil ausrechnen kann). Das Problem: Aufgeteilt auf 30 Millionen Lieder, sind auch drei Milliarden Dollar nicht besonders viel (100 Dollar, wenn wir richtig rechnen), wobei Spotify natürlich nicht gleichmäßig aufteilt: Der Großteil des hereingeströmten Geldes bleibt bei den üblichen Weltstars hängen, die millionenfach gestreamt werden. Nischenproduzenten oder Künstler im Mittelmaß ihrer Beliebtheit und Karriere, die sich bis dato mit Plattenverkäufen aus dem Archiv erhalten haben, stürzen in die Groschenfalle. Pro Abspielvorgang landen beim Musiker – nach den offiziellen Angaben von Spotify – im groben Schnitt nämlich nur zwischen 0,006 und 0,0084 Dollar. Der Radiohead-Sänger Thom Yorke nannte Streamingdienste deshalb auch schon „den letzten verzweifelten Furz einer sterbenden Leiche“ (er meinte die Musikindustrie). Spotify-Chef Ek fand den Kommentar „traurig“, ich hinterlasse der lustigen Metal-Band Cannibal Corpse schnell noch ein Körberlgeld von 0,006 bis 0,0084 Euro und schaue wieder zu Apple hinüber.
Der angeblich allwissende Konzern aus Kalifornien kennt mich übrigens doch noch nicht so gut wie befürchtet; beim Einstieg in seinen neuen Streamingdienst fragt er mich, worauf ich so „stehe“. Dazu zeigt er mir einen Haufen roter Ballons, auf denen Dinge wie „Chart-Hits“ oder „Metal“ oder „Electronic“ stehen, darüber die Aufforderung: „Klicke ein Mal auf Genres, die du magst, und zwei Mal auf die, die du liebst. Entferne die Genres, die dir nicht gefallen.“ Also: „Chart-Hits“ raus, „Deutscher Pop“ auch, „Deutscher Rap“: darf rein. Am Ende bleiben nicht besonders viele rote Ballons übrig, dafür tauchen anschließend neue auf, Apple will es nämlich jetzt genauer wissen und fragt mich nach konkreten Künstlern, die ich mag und/oder liebe. Wobei: „Hanni und Nanni“? Möglicherweise habe ich mich verklickt. Außerdem: Whitney Houston, Cro, Paul Kalkbrenner, Elvis Presley, Muse. Verklickt ist gar kein Ausdruck. Rote Ballons verschwinden, neue müssen angefordert werden, aber irgendwann ist Apple endlich zufrieden mit meiner Auswahl und hat auch gleich ein paar Playlisten-Vorschläge für mich. Gleich an zweiter Stelle: „Inspiriert von Grateful Dead“. Wie war das nochmal mit der sterbenden Leiche?
Eine gewisse Orientierungslosigkeit macht sich breit, und es liegt nicht an den unendlichen Weiten der Musikwolke.
Im Übrigen ist Apple Music nach eigenem Bekunden sehr stolz darauf, dass es mir über ein eingebautes soziales Netzwerk einen direkten Zugang zu meinen Lieblingskünstlern ermöglicht. Auf der betreffenden Seite sind eigenartigerweise nur zwei Künstler präsent, nämlich Elvis Presley und Die Prinzen, also Leute, mit denen ich eher nicht sozial werden möchte. Man wird den Eindruck nicht los, dass Apple keine große Lust auf Musikstreaming hat. Der Eindruck verfestigt sich bei der Ansicht des zweiten Alleinstellungsmerkmals von Apple Music – seinen von echten (!), menschlichen (!) DJs bespielten Radiostationen. Dass Antenne Steiermark Apple einmal 20 Jahre voraus sein würde, war nun wirklich nicht mehr zu erwarten. Außerdem seltsam: Auf dem Apple-Hauptsender „Beats 1“ werden brav alle gespielten Songs aufgelistet und zum Kauf auf iTunes empfohlen. Apple will mich wahrscheinlich für blöd verkaufen. Oder es weiß doch mehr über mich, als ich vermutet habe.
Eine gewisse Orientierungslosigkeit macht sich breit, und es liegt nicht an den unendlichen Weiten der Musikwolke. Da hilft nur noch beruhigend bildungsbürgerliche Gewissheit, also Daniel Kehlmann. Auf Spotify findet sich leider nur ein Hörbuch mit frühen Erzählungen („Unter der Sonne“), was vielleicht erklärt, warum der Millionenseller hier nur 35 Follower hat. Aber das muss Kehlmann nicht grämen, sein Kollege Thomas Mann steht auch erst bei 81 Fans. Bei Apple Music steht nach der Kehlmann-Suche übrigens „Ein Fehler ist aufgetreten“. Apple schaut in diesem Moment ein bisschen wie Microsoft aus. Thomas Mann dagegen wird anstandslos gefunden. Zu den „Top Alben“ des Lübeckers zählt übrigens auch eine wenig bekannte Novelle namens „Christmas Tunes“. Kommt sofort auf das Post-it mit den Buchwünschen!
Beim Verfassen dieses Textes kamen die folgenden Alben zur Abspielung (Mehrfachhörungen möglich): Marsimoto: Ring der Nebelungen DJ Koze: DJ Kicks Sufjan Stevens: Carrie & Lovell Beginner: Blast Action Heroes Morbid Angel: Altars of Madness Wendy Rene: After Laughter Comes Tears (Singles and Rarities 1964–65) Count Ossie & Mystic Revelation of Rastafari: Tales of Mozambique Dionne Warwick: The Bacharach Years