Anonymität im Internet: Der unsichtbare Mensch
Das Gewöhnungsbedürftige am Internet ist bekanntlich, dass man dort nie weiß, wie man heißt beziehungsweise wer aller weiß, wie man wirklich heißt. In seinen Grundzügen ist das Netz ein anonymer Raum, aber spätestens mit den Enthüllungen Edward Snowdens wurde klar, dass das eben nur im Prinzip gilt.
Andererseits: Soll es das überhaupt sein oder hat die NSA schon recht, wenn sie genau wissen will, wer da was sagt und tut? Immerhin zählt der anonyme Hassposter zu den zentralen Ärgernissen des digitalen Raums, möglicherweise handelt es sich sogar um eine unterschätzte demokratiepolitische Bedrohung. Dem bemerkenswert breiten Spektrum der Anonymität in der digitalen Welt hat die "Falter"-Redakteurin Ingrid Brodnig nun ein Buch gewidmet, das kenntnisreich über den Stand der Debatte informiert und wichtige Fragen diskutiert: Kann man einerseits private Party- und Babyfotos auf Facebook stellen und andererseits erwarten, nicht am Smartphone abgehört zu werden? Umfasst das Recht auf freie Meinungsäußerung auch das Recht auf anonyme Meinungsäußerung? Warum soll man chinesischen Dissidenten zugestehen, was man Frauenfeinden im Online-Forum lieber vorenthalten möchte? Und, die wichtigste Frage: Was heißt es für die menschliche Kommunikation, wenn nicht klar ist, wer miteinander spricht? Kommuniziert der Mensch dann anders, über andere Themen und mit anderen Gefühlen, als wenn er anderen persönlich gegenübersteht? Und was heißt das alles für die Demokratie im Zeitalter ihrer digitalen Unübersichtlichkeit? Nicht alle diese Fragen werden in "Der unsichtbare Mensch" endgültig beantwortet. Aber sie werden immerhin sichtbar gemacht. Das kann man nur begrüßen. Denn das Wesentliche ist für den Hassposter unsichtbar.
Ingrid Brodnig: Der unsichtbare Mensch. Czernin Verlag, 176 S., 18,90 EUR.