Ist TikTok die gefährlichste App der Welt? Und soll man es besser verbieten?
Ein Schritt nach vorn, zwei zurück, Drehung nach links. Es hat tatsächlich alles so harmlos begonnen, Ende 2017, als die neue chinesische Kurzvideo-Plattform TikTok den Weltmarkt erreichte. Rasant etablierte sie sich – bei einer dezidiert jugendlichen Zielgruppe – als bevorzugte Plattform zur digitalen Publikation von Tanzchoreografien und pfiffigen Streichen. Noch im Sommer 2020 beurteilte der österreichische Verband Saferinternet die Plattform durchaus optimistisch: „In erster Linie geht es dort vor allem um Spaß und Kreativität, die man bei den sogenannten Challenges ausleben kann. (…) TikTok bietet Jugendlichen eine gute Bühne zur Selbstinszenierung und Imagepflege im Internet.“
TikTok wurde zum Leitmedium für einen bedeutenden Anteil aller unter 30-Jährigen dieser Welt. Für alle anderen galt, wie profil in einer frühen Einschätzung schrieb: „TikTok funktioniert wie eine Zeitmaschine. Man reist damit in die eigene Zukunft: Wer die App verwendet, fühlt sich innerhalb weniger Momente um Jahre gealtert.“
Einigermaßen rasant geriet dann aber auch das sozialmediale Abdriften, wurde aus dem harmlosen Teenager-Spaß eine weitaus problematischere Plattform. Die digitale Grundtendenz zum Extremen, die sich freilich auch auf Facebook oder YouTube zeigt, hat TikTok ganz besonders intensiv geprägt. Inzwischen darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass TikTok süchtig machen kann, dass es unter Umständen Mobbing und eskalierende Risikobereitschaft befördert, politische Entscheidungen und Wahlergebnisse beeinflussen sowie Menschen radikalisieren und Gesellschaften spalten kann.
Es gibt inzwischen durchaus Gründe, TikTok als gefährlichste App der Welt zu bezeichnen. Sollte man sie also besser verbieten? Und wenn ja, wie?
1. TikTok und die Jugend
Laut dem Jugend-Internet-Monitor 2025 nutzen aktuell 72 Prozent der österreichischen Elf- bis 17-Jährigen TikTok – fast so viele wie Instagram (73 Prozent) oder YouTube (80 Prozent) verwenden.
Kürzlich wurden die Ergebnisse der ESPAD-Erhebung (European School Survey Project on Alcohol and Other Drugs) veröffentlicht, die weltweit größte Schüler:innenbefragung zu Konsum- und Verhaltensweisen mit Suchtpotenzial. In Österreich zeigen laut ESPAD etwa zehn Prozent der 14- bis 17-Jährigen Hinweise auf eine problematische Nutzung von Social Media. Ein Viertel aller befragten Jugendlichen weist zudem ein subjektiv niedriges Wohlbefinden auf, jede:r Zehnte zeigt Indizien für eine hohe psychische Belastung.
Ein kausaler Zusammenhang zwischen Social-Media-Nutzung und psychischer Gesundheit lässt sich daraus nicht ableiten. Eine Korrelation liegt aber nahe und lässt sich mit qualitativer Beobachtung unterfüttern. Gegenüber profil erklärte die deutsche Schuldirektorin und Autorin Silke Müller („Wir verlieren unsere Kinder“) die Entwicklungen, die sie bei ihren Schülern miterlebt – und für die sie die Nutzung sozialer Medien wie TikTok verantwortlich macht: „Wir merken, dass sich die Kinder in ihrem Verhalten verändern, weil sie Konzentrationsstörungen bekommen, weil ihre Sprache verroht, nicht nur im digitalen Raum, sondern auch im persönlichen Umgang miteinander. Die Empathie sinkt.“ Müllers Schule ist keine Brennpunktschule und von urbanen Problemvierteln denkbar weit entfernt: „Unsere Schule ist eigentlich ein Bullerbü – ländliches Umfeld, stabile Elternhäuser –, und trotzdem haben wir seit einigen Jahren viel mehr Kinder in psychotherapeutischer Begleitung, wir haben sehr viel mit Schulabsentismus und Schulangst zu tun, mit Lernschwierigkeiten, mit Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung. Ich bin keine Psychologin, aber ich kann feststellen, dass es mit dem Einzug von TikTok und Co. auf den Smartphones der Kinder eine klar negative Entwicklung gab.“
Wir merken, dass sich die Kinder in ihrem Verhalten verändern, weil sie Konzentrationsstörungen bekommen, weil ihre Sprache verroht, nicht nur im digitalen Raum, sondern auch im persönlichen Umgang miteinander. Die Empathie sinkt.
Das Problem ist den Betroffenen mehrheitlich bewusst. Für eine Studie der Universität Chicago wurden 1000 Studierende gefragt, wie viel man ihnen zahlen müsste, damit sie ihre Instagram- oder Tiktok-Accounts vier Wochen lang deaktivieren. Ergebnis im Schnitt: 59 Dollar für TikTok, 47 für Instagram. Es folgt die entscheidende Nachfrage: Und was würden Sie verlangen, wenn auch alle anderen Studierenden an Ihrer Hochschule aussteigen würden? Plötzlich lag die geforderte Summe im negativen Bereich: Die Studierenden wollten für eine TikTok-freie Umgebung sogar zahlen. Auf die konkrete Frage, ob sie es bevorzugen würden, in einer Welt ohne Instagram und TikTok zu leben, sagten 58 Prozent: ja.
2. TikTok als Radikalisierungsmaschine
Natürlich kann man sich auch auf Twitter oder YouTube ganz hervorragend in die absurdesten Filterblasen hineintheatern. Allerdings basiert TikTok auf einem besonders radikalisierungsanfälligen Algorithmus: Einerseits triggert der unendliche Video-Feed klassische Suchtpotenziale (das nächste Video könnte ja noch spannender sein, oder das übernächste …), andererseits müssen die oft nur wenige Sekunden dauernden Clips, um Reichweite zu erzeugen, ihr Publikum möglichst schnell bei der Aufmerksamkeit packen. Dafür braucht es starke Emotionen, aufregende Bilder, radikale Gedanken. Mit weichem Für und Wider geht man auf TikTok eher nicht viral. Mit drastischer Frauenfeindlichkeit dagegen sehr wohl; der ehemalige Kickboxer (und mutmaßliche Serienvergewaltiger) Andrew Tate etwa hat das sehr eindrucksvoll bewiesen.
Die App treibt die Spirale von Horrorvideos immer weiter voran. Jedes Video, bei dem wir länger hängen bleiben, spult Dutzende weitere, noch härtere Videos in den Feed.
In seinem neuen Buch „Allahs mächtige Influencer“ erklärt profil-Redakteur Clemens Neuhold, wie radikale Islamisten auf TikTok Stimmung machen. Im Selbstversuch ging es Schlag auf Schlag: „Binnen dreißig Minuten tauchen wir in eine Welt voller extremistischer Propaganda, Gewalt und Hass ein. TikTok zeigt dabei seine erbarmungslose Fratze abseits tanzender Influencer. Die App treibt die Spirale von Horrorvideos immer weiter voran. Jedes Video, bei dem wir länger hängen bleiben, spult Dutzende weitere, noch härtere Videos in den Feed. Immer wieder kommt der Begriff Kalifat in den Videos vor. Wir tippen das Wort in die Suchmaske ein. Sofort taucht einer der bekanntesten deutschsprachigen salafistischen Prediger auf unserem Handy auf.“
3. TikTok als Spyware
Am 18. Jänner 2025 war TikTok auf einmal weg – zumindest in den USA. In den späten Abendstunden jenes Samstags verschwand die Kurzvideo-App aus sämtlichen US-App-Stores, bestehende Kunden bekamen statt ihres Feeds einen Hinweis eingespielt: „In den USA wurde ein Gesetz eingeführt, das TikTok verbietet. Das bedeutet, dass Sie TikTok derzeit nicht nutzen können. Glücklicherweise hat Präsident Trump angedeutet, dass er nach seinem Amtsantritt gemeinsam mit uns an einer Lösung arbeiten wird, um TikTok wieder einzusetzen.“
Zwei Tage später wurde aus der Andeutung Realität, und der besagte Präsident unterzeichnete eine Executive Order, die das amerikanische Anti-TikTok-Gesetz für drei Monate aussetzte (die Frist wurde inzwischen auf Mitte Juni erstreckt). Dieses Gesetz war im Vorjahr mit Zwei-Parteien-Mehrheit beschlossen worden und bestimmte, dass TikTok in den USA seine Geschäftstätigkeit entweder einstellen oder an einen US-Investor verkaufen müsse. Die Gesetzgeber argumentierten ihren Beschluss mit der Gefahr, dass TikTok als chinesisches Unternehmen verpflichtet werden könnte, seine weitreichende Userdaten-Sammlung mit dem chinesischen Geheimdienst zu teilen.
„Die mobile Applikation TikTok erlaubt weitreichende Zugriffe auf Betriebssystem und Gerät. Sie ist ein Produkt der chinesischen Firma ByteDance. Nach den vorliegenden Informationen des BMI verpflichtet das chinesische Nachrichtendienstgesetz vom Juni 2017 (insb. Art. 14) alle chinesischen Organisationen und Firmen zur Zusammenarbeit mit den chinesischen Nachrichtendiensten."
Tatsächlich sammelt der TikTok-Mutterkonzern ByteDance persönliche Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Bewegungsdaten, Fotos – und je nach Einstellung auch sämtliche verlinkten Social-Media-Kontakte seiner User. Laut ByteDance liegen die Daten internationaler User allerdings nicht auf Servern in China und seien somit dem Zugriff der chinesischen KP entzogen. Zudem sei ByteDance zwar in Peking ansässig, aber schon längst ein internationales Unternehmen. Rund 60 Prozent des Konzerns stehen im Besitz von außerchinesischen Investoren wie BlackRock oder der Carlyle Group. Auch ein Investor aus dem Dunstkreis des US-Präsidenten, der republikanische Megaspender Jeff Yass, hält über seine Susquehanna International Group 15 Prozent an ByteDance. Dass Trumps persönlicher Einsatz für ein Weiterbestand von US-TikTok damit zu tun haben könnte, muss wohl als Gerücht bezeichnet werden.
In Österreich hat die Regierung schon im Mai 2023 ein Verbot von TikTok auf Diensthandys von Bundesbediensteten erlassen. Innenminister Gerhard Karner begründete dies in einer Parlamentarischen Anfragebeantwortung so: „Die mobile Applikation TikTok erlaubt weitreichende Zugriffe auf Betriebssystem und Gerät. Sie ist ein Produkt der chinesischen Firma ByteDance. Nach den vorliegenden Informationen des BMI verpflichtet das chinesische Nachrichtendienstgesetz vom Juni 2017 (insb. Art. 14) alle chinesischen Organisationen und Firmen zur Zusammenarbeit mit den chinesischen Nachrichtendiensten.“
Also noch einmal: Ein Schritt nach vorn, zwei zurück – und wie weiter?
Albanien hat es soeben, als erster Land in Europa, TikTok von Staats wegen abgeschaltet. Wie es zu diesem Schritt kam, welche technischen Hürden dabei auftreten - und was die Kritiker dieser Maßnahme sagen, lesen Sie in Franziska Tschinderles großer Reportage aus Albanien: Ein Land ohne TikTok.