Hohe Empörungswellen gingen etwa hoch, als der dänische U-Boot-Mörder Peter Madsen, der 2017 die schwedische Journalistin Kim Wall getötet hatte, 2020 im Gefängnis die zweifache Mutter Jenny Curpen heiratete. Curpen bezeichnete auf ihrer Facebook-Seite Madsen als „den liebenswertesten und gefühlvollsten Menschen meines Lebens, der nur an einem Tag seines Lebens einen furchtbaren Fehler gemacht hat.“
Der deutsche Psychiater Borwin Bandelow unterteilt die Hybristophilen in drei Syndrom-Gruppen: die Abteilung „Rotkäppchen“, in der die Geschichte vom zarten Mädchen und dem bösen Wolf, sprich „die sexuelle Faszination des Animalischen“ ausgelebt werden will; zweitens die, die unter das AMIGA-Syndrom („Aber meiner ist ganz anders“) fallen und überzeugt sind, dass sie und nur sie in der Lage sind, ihren Schützling wieder auf den rechten Weg zu führen. Und zuletzt die „Dompteusen“, die in solchen Konstellationen endlich das Gefühl „von Macht und Kontrolle genießen“ können.
Zwei Jahre lang, bis zu seinem Selbstmord nach der Urteilsverkündigung in der Nacht des 29. Juni, dauerte die Beziehung Astrid Wagners zu Österreichs mutmaßlich einzigem Serienkiller, während dieser, angeklagt wegen des elffachen Mordes an Sexarbeiterinnen in Österreich, Prag und Los Angeles, in der Justizanstalt Graz-Jakomini in Untersuchungshaft saß. Alle seine Opfer waren mit dem identen „Henkerknoten“ erwürgt worden – mit dem Büstenhalter oder ihrem Slip, „einem klaren Zeichen für sexualisierten Sadismus“, so Unterwegers psychiatrischer Gutachter Reinhard Haller. In allen Fällen hatte sich Unterweger zum Tatzeitpunkt in der Nähe befunden und war dadurch ins Visier der Ermittler geraten. Seine Flucht in die USA hatte im Februar 1992 in den Handschellen des FBI in Miami geendet. In seinem autobiografischen Roman „Fegefeuer“ hatte der Sohn einer angeblichen Prostituierten (die tatsächlich Kellnerin war) das Gefühl schon Jahre zuvor in der ihm eigenen Schwülstigkeit beschrieben: „Meine angstschwitzenden Hände werden auf den Rücken gedreht, die Stahlfesseln schnappen um meine Handgelenke …“
Unterwegers tragische Herkunftsgeschichte barg jede Menge Mitleidspotenzial für die von Justizreformen und Läuterungsoptimismus getragenen linksliberalen Intellektuellen der Post-Kreisky-Ära, die den Mörder Unterweger gerne als Paradebeispiel einer geglückten Resozialisierung auf Partys, Off-Bühnen und Leseevents präsentierten. Unterweger, ein „maligner Narziss“ (Haller), war ein Meister der Manipulation. „Ich habe über sechs Tage jeweils mehrere Stunden mit ihm geredet“, erzählt Haller. „Er war charmant, manipulativ, aber dann auch wieder unglaublich destruktiv und zeigte sich als hochgradiger Sadist. Kein leichtes Spiel. Die Aussage einer Zeugin, dass er gedroht habe, ihr die Brustwarzen abzuschneiden und sie in Essig einzulegen, gab tiefen Einblick in seine sadistische Gedankenwelt. Eine andere erzählte, dass er nach einem schweren Autounfall, den er selbst verschuldet hatte, auszuckte und seine Beifahrerin mit einer Stahlrute verprügelte, statt sich bei ihr für das mehrfache Überschlagen zu entschuldigen. Wegen der Causa Unterweger wurde die Diagnose ‚maligner Narzissmus‘ damals in ganz Europa behandelt. Das war damals ein neues Phänomen.“
„Er war das Bilderbuchbeispiel eines bösartigen Narzissten“, bestätigt auch der US-True-Crime-Autor John Leake, Verfasser der Unterweger-Biografie „Der Mann aus dem Fegefeuer“, im profil-Gespräch: „Wenn nur einer der verliebten Sozialromantiker und ORF-Redakteure, die ihn sogar Gute-Nacht-Geschichten für Kinder schreiben ließen, einen Blick in den Akt geworfen hätte, dann hätte man sofort gesehen, dass er für den humanitären Strafvollzug völlig ungeeignet war und für immer in die Maßnahme gehört hätte.“
Überzeugt von seiner Unschuld
Unterwegers Mutter Theresia, mit der Wagner im Lauf ihrer Beziehung zu ihrem Jack Kontakt aufgenommen hatte, hatte die Geliebte während der U-Haft eindringlich vor ihrem eigenen Sohn gewarnt: „Der Hansi ist sicher kein Mörder, aber er wird dein Leben ruinieren.“ Nach „Hansis“ Selbstmord brach sie den Kontakt ab. Mit Unterwegers Tochter, heute Anfang 50, die „ganz bürgerlich verheiratet lebt“, steht Wagner bis heute in loser Verbindung. Als Wagner ihr unlängst am Telefon mitteilte, dass jene Keusche in Kärnten, in der Unterweger seine Kindheit verbrachte, im Stadium des totalen Verfalls sei und man doch etwas dagegen unternehmen solle, winkte sie ab: „Auf keinen Fall! Alles abreißen. Dort hat die Zerstörung seiner Seele begonnen.“
Nicht nur aus ihrer eigenen Biografie kennt Wagner das Gefühl, „schon a bisserl verblendet“ zu sein. Auch als Strafverteidigerin stieß sie immer wieder auf unbeirrbare Verehrerinnen ihrer gewalttätigen Klienten: „Ein Mann, der in der Wiener Innenstadt einen anderen regelrecht zu Tode getreten hatte, hatte während seiner Haft eine Geliebte, durchaus attraktiv und keine Ladenhüterin, die nahezu besessen von ihm war. Sie hatte in ihrem Wohnzimmer nahezu einen Altarraum errichtet und Tatort-Fotos an der Wand hängen. Sie war besessen, total überzeugt von seiner Unschuld – und wollte sie beweisen.“
Und wenn ihr einer ihrer schweren Klienten vor Haftantritt verunsichert so etwas wie „Wie soll ich denn jetzt je wieder eine finden?“ zuflüstert, bekommt er die aufmunternden Worte: „Jetzt werden S’ doch erst recht interessant.“ Auch als Trauzeugin im Gefängnis musste Wagner schon einspringen, doch nach der Haftentlassung des Bräutigams ging die Ehe bald in die Brüche: „Da fehlte dann der Kick.“
Wagner fischt aus einem Schrank in ihrer Kanzlei in bester Innenstadtlage einen Kleidersack, in dem Unterwegers legendärer weißer Anzug sorgfältig verpackt ist. Es ist ein gespenstisches Gefühl, das Kleidungsstück aus der Nylonhülle zu schälen. „Eine Maßanfertigung aus dem Hause Tlapa“, steht auf dem Etikett auf der Innentasche zu lesen, denn eine reiche Unternehmergattin, eine der vielen in Unterwegers facettenreichem Fan-Schwarm, griff für ihren Liebling oft tief in die Tasche: Wohnung in der Florianigasse 42, goldene Kette mit Löwenkopf, Anzüge, Seidenhemden. Der ein wenig vergilbte Anzug gehörte einst zum fixen Inventar von Unterwegers Selbstinszenierung, so wie der Ford Mustang oder der Schäferhund Joy. Mit Dandy-Posen oder als tätowierter Melancholiker mit nacktem Oberkörper visualisierte er genussvoll die Metamorphose vom Menschen, „der einst gelebt hat wie eine Ratte“, zum geläuterten Schriftsteller. 16 Jahre lang hatte der bei seinem Haftantritt „nahezu analphabetische Unterweger“, so Reinhard Haller, schon in der Haftanstalt Stein gesessen und dort seine literarischen Ambitionen verwirklicht.
In seinen Werken, die stilistisch und in ihren Titeln („Tobendes Ich“, „Fegefeuer“) vor Pathos triefen, stellte sich Unterweger gerne als Opfer seiner brutalen Kindheit dar: gewalttätiger, versoffener Großvater, abwesende Mutter und ein Vater, amerikanischer Besatzungssoldat, der seinen Sohn nie sehen wollte. Im Zuge der Begeisterung über diese Literaturergüsse wurde gerne ausgeblendet, weswegen der einstige Zuhälter schon 1976 das Urteil „lebenslänglich“ verpasst bekommen hatte: Unterweger hatte im Dezember 1974 in Hessen die 18-jährige Margret Schäfer, Freundin einer Bekannten, zuerst in deren Elternhaus gefesselt, danach durch eine Waldlichtung gehetzt, sie dabei mit einer Stahlrute verprügelt und dann die Schwerverletzte mit dem Draht ihres Büstenhalters erwürgt. Ein Jahr zuvor war die 23-jährige Prostituierte Marica Horvath, erwürgt mit ihren Strümpfen, im Salzachsee gefunden worden. Die Ermittlungen zu diesem Fall wurden eingestellt, als der Hauptverdächtige Unterweger bereits – nach dem Schuldspruch im Fall Schäfer – im Gefängnis saß. „Der Schäfer-Mord war ein totales Tabuthema zwischen Jack und mir“, erzählt Wagner, „da ist er ausgewichen oder hat was von Drogenrausch gemurmelt.“
In seinen 673 Tagen in Freiheit zwischen seiner Haftentlassung im Mai 1990 und der Festnahme in Miami habe Unterweger, so erzählte er Haller, mit 151 Frauen geschlafen: „Die unterteilte er in sogenannte Hofratsgattinnen, die das sexuelle Abenteuer suchten; solche, die ihn retten und ihrem Leben dadurch einen Sinn geben wollten, und wenige Geliebte, wobei er Astrid Wagner als seine große Liebe deklarierte.“ Haller erweitert die Fan-Typologie noch: „Es sind oft Frauen, die schon Enttäuschungen erlitten haben. Häftlinge können eben nicht weglaufen.“ Und natürlich gebe es noch die, die dem „archaischen Wunsch“ erlegen sind, „ einen richtigen Kerl zu kriegen“.
Dem Radiojournalisten Peter Huemer, der Unterweger 1989 in Stein für eine Ö1-Reihe interviewt und gemeinsam mit Kulturkalibern wie Elfriede Jelinek, Erika Pluhar, Ernst Jandl und Erich Fried eine Petition zu dessen Entlassung unterschrieben hatte, sagte Unterweger Sätze ins Mikrofon, die seinen Abgrund offenlegten: „Wenn man den anderen vor Angst zittern sieht, kriegt man ein Siegergefühl. Man kann sich dann nicht mehr zurückhalten, findet nicht mehr die geistige Kraft und den Kanal.“ Bei Wagners letztem Besuch vor der Urteilsverkündung war Jack „zu einem kleinen, fremden Aschenmann“ geschrumpft, der auf kein Lächeln mehr reagierte. Er wusste, was ihm drohte. In der Nacht nach dem Urteil erhängte er sich an der Kordel einer Jogginghose, die ihm Wagner geschenkt hatte.
Ihr Helfersyndrom ist Wagner geblieben. Auf ihre Initiative wird der Inzest-Täter Josef Fritzl, heute 89, aus dem Maßnahmenvollzug für geistig Abnorme in den Normalvollzug überstellt. Wahrscheinlich bleibt er in der Justizanstalt Stein. Fritzl leide an altersbedingter Demenz und erliege manchmal der Wahnvorstellung, dass ihm die Menschen auf dem Fernsehschirm zuwinken. Wagner besuchte ihn regelmäßig und bastelte auch aus diesen Begegnungen ein Buch. Und ja, auch Liebesbriefe trudelten und trudeln ein. Beantwortet werden aber nur solche mit „einer anständigen Schrift“, da kenne Fritzl kein Pardon. Kürzlich habe er einen bekommen, der war „so schiarch“ geschrieben, dass er der Dame nur knapp erklärte, dass eine Beziehung mit ihm sowieso wenig Zukunft habe. Eine deutsche Journalistin war kürzlich angereist und hatte das Anliegen vorgebracht, Fritzls Fanpost zu verlegen. „Kommt nicht infrage“, hatte Fritzl, der laut seiner Anwältin von Obstbäumen, Ziegen und der Freiheit träumt, erklärt: „Das ist mir zu privat. Die sollen mich alle in Ruh lassen.“