Interview

„Jede Sucht basiert auf einer psychiatrischen Grunderkrankung”

Die Psychiaterin Gabriele Fischer leitet die Suchtforschung an der Medizinischen Universität Wien. Ein Gespräch über effiziente Therapien und die Mängel des Gesundheitswesens, was Suchtkranke betrifft.

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Cannabis wurde zur Volksdroge unter jungen Menschen, Alkohol und Nikotin steigen ständig. Österreich erweist sich, was sein Suchtverhalten betrifft, als Hochrisikoland.

Welche markanten Entwicklungen sind in Österreich in den letzten Jahren zu beobachten?
Gabriele Fischer
Es steigt kontinuierlich in allen Belangen. Allerdings ist aktuell weniger Heroin am Markt und der Trend geht mehr in Richtung aktivierende und stimulierende Substanzen wie Kokain und Amphetamine. Leider haben wir in Österreich noch immer keine fundiertes Datenmaterial, was die Lebenszeitprävalenz betrifft, sprich wie oft jemand im Laufe seines Lebens zu welchen Substanzen greift.
Wo liegen die größten Defizite im Gesundheitssystem, was Bekämpfung und Therapie betrifft?
Gabriele Fischer
Jede Suchterkrankung hat ihren Ursprung in einer psychiatrischen Grunderkrankung. Hier ist eine evidenzbasierte, klare Diagnostik gefragt. Deswegen sollte jeder Suchtkrankte auch psychiatrisch behandelt werden, was heute leider noch immer nicht passiert. Zur Zeit liegt der Fokus zu sehr allein auf der schädigenden Substanz, so sieht man das Gesamtbild nicht. Ein Beispiel: Wir wissen, dass Jugendliche, die an ADHS ( Anm.:Aufmerksamkeitsstörung) leiden und nicht behandelt wurden, ein wesentlich höheres Risiko tragen, am Cannabis-Konsum hängen zu bleiben, weil sie ihn als Selbstmedikation benutzen. Das heißt ohne zu rauchen, können sie gar nicht funktionieren. Das wird dann natürlich auch zu einem Teufelskreis.
Bedeutet das, das durch eine wirksame Therapie der Grunderkrankung, die Sucht erst gar nicht erst auftritt?
Gabriele Fischer
Ich bin überzeugt davon, dass man sich so viel Leid ersparen könnte. Es ist ja auch nicht so, dass man eine Sucht durch eine andere ersetzen kann, oft ergänzen die sich ja auch. Ein Beispiel solcher Komorbitäten : Eine Person, die schwer übergewichtig ist, hat zum Beispiel ihre Eßstörung auf Grund einer Depression entwickelt. Aus Angst, das Haus zu verlassen, beginnt sie dann zu trinken, aber auch zu rauchen, weil sie hofft, so ihren Appetit zügeln zu können.
Ein Defizit des Gesundheitswesens ist der seit Jahrzehnten beklagte eklatante Mangel an Psychiater:innen, besonders was die Kinder- und Jugendpsychiatrie betrifft, und elendslangen Wartezeiten für Kassenpatient:innen.
Gabriele Fischer
Wartelisten sind menschenrechtswidrig. Der Mangel ist noch immer vorhanden, aber da ändert sich gerade etwas durch einen verbesserten Ausbildungsschlüssel. Leider wandern viele auch nach Deutschland und in die Schweiz, weil die Bezahlung dort besser ist. Wir haben aber ein riesiges Angebot an Psychotherapeut:innen und klinischen Psycholog:innen. Wir wissen, dass von allen psychotherapeutsichen Richtungen die Verhaltenstherapie, was Suchterkrankungen betrifft, die einzig effiziente ist. Auch Psycholog:innen können durch eine verhaltensverändernde Intervention helfen.
Viele Menschen, die ein Alkoholproblem haben, kommen gar nicht auf die Idee, eine Therapie zu machen.
Gabriele Fischer
Der Problemkonsum wird bei uns bagatellisiert. Und dringend notwendig sind ambulante, niederschwellige Angebote, wo Menschen auch abends nach der Arbeit hingehen können. Man sollte versuchen, diese Patient:innen möglichst lange im Berufsalltag zu halten. Denn wir wissen, dass Arbeitslosigkeit und ein entsprechend verletztes Selbstwertgefühl den Konsum beflügeln.

Das Buch zur Sucht

Gabriele Fischer & Arkadiusz Komorowski: „Sucht”: Neue Erkenntnisse und Behandlungswege. Verlag Manz

23,90 Euro

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort