Jesus’ beste Freunde: Wie fanatisch sind Österreichs Freikirchen?
Es ist ein kalter Sonntagabend im Dezember, als sich ein Junge, augenscheinlich nicht älter als 15, in einem Wiener Untergeschoß am Boden zusammenkrümmt. Seine Arme hat er fest um den Kopf geschlungen, die Knie eng angewinkelt. Von weitem sieht er ein bisschen aus wie ein Igel. Die Menschen um ihn herum stört das nicht, der Großteil hat es wahrscheinlich gar nicht mitbekommen, schließlich haben fast alle die Augen zu. Außerdem ist der Junge nicht der einzige am Boden. Keine zwei Meter von ihm entfernt kniet ein Mann, die Hände in die Höhe gestreckt, den Kopf demütig gesenkt.
Die „Celebrations“, also die wöchentlichen Gottesdienste, nimmt man beim ICF Wien ernst. An jenem Abend „worshippen“ hier um die 70 Personen – wohlgemerkt zum zweiten Mal, schon am Vormittag fand eine erste Session statt. Am Eingang, flankiert von zwei Beachflags mit dem Schriftzug „Willkommen zuhause“, wird man freundlich von einer jungen Frau begrüßt; Ein Mann führt Neulinge hinunter in den Keller. Der Raum, in dem die „Celebrations“ stattfinden, ist dunkel, erhellt wird er allein durch die Lichtershow von der Bühne. Die Musik ist laut, die Stimmung aufgekratzt und würde am Rand kein großes weißes Kreuz stehen, könnte es sich auch um ein Clubbing-Event handeln, wären, ja, wären da nicht die Menschen am Boden.
Praktikum bei Jesus
Das ICF, kurz für „International Christian Fellowship“, ist eine überkonfessionelle, christliche Freikirche. Was klingt wie ein Start-Up, agiert auch ein bisschen so. Man wolle eine Kirche am Puls der Zeit sein, „kreativ, innovativ und manchmal auch ein bisschen verrückt“, steht auf der Homepage. Frauen sind hier Pastorinnen, in den Predigten wird hemmungslos geduzt („Du hast sicher den Himmel, wenn du Christ bist!“) und es heißt nicht mehr „Kirche“, sondern „Church“. Die „Celebrations“ werden live auf YouTube übertragen, auf Instagram folgen der Freikirche in Wien mittlerweile über zweitausend Menschen, Pastor René trägt Lederjacke und verwendet bei seinen Ansprachen keine Zettel, sondern ein Tablet.
Die ICF-Bewegung ist außen hip, innen dogmatisch. Man glaubt an die Autorität der Bibel und an die Universalität Jesu – und zwar wortwörtlich. Im November erklärte Pastor René deshalb: „Es gibt Tendenzen, die reduzieren das Evangelium und die Kraft der Auferstehung runter, dass nur mehr die symbolhafte Darstellung zählt, so Jesus ist quasi in deinem Herzen auferstanden, aber nicht wirklich. Jesus ist wirklich auferstanden und er kommt wirklich wieder und er ist der Schöpfer des Himmels und der Erde und das ist die Wahrheit.” Bei der Veranstaltung „Let's talk about Singles” vor vier Jahren antwortete ein Pastor auf die Frage „Kein Sex vor der Ehe, aber trotzdem Kuscheln – ist das realistisch?” folgendes: „Gott gibt dir einen Schutz und das ist das Commitment. Das heißt, wenn du hier heute eine Frau bist und sagst, was ist eigentlich Gottes Plan? Gottes Plan ist, dass ein Mann, bevor er dir so nah sein darf und Intimität mit dir teilen darf, sich erst entscheiden sollte, sein Leben für dich zu geben. So wertvoll sieht Gott dich. Nicht als ein Stück Fleisch.” Und vergangenes Monat hieß es bei einem Vortrag in puncto Geschlechteridentitäten: „Mann, Frau. Hey, du musst dich nicht entscheiden, kannst auch wechseln. Das wird uns gesellschaftlich als Freiheit vorgegaukelt. Alles ist offen, alles ist frei. Aber eines sag ich dir, das hat mein Papa schon gesagt, wer für alles offen ist, der ist nicht ganz dicht. Damit sagt eine Gesellschaft, wir brauchen Gott nicht.“
Freikirchen-Boom
In Österreich gibt es laut Statistik Austria um die 40 000 Freikirchlerinnen und Freikirchler, die Zahlen stammen aus 2021. „Eine ganze Reihe an Freikirchen wachsen, im Vergleich dazu werden die Mitglieder bei den großen Amtskirchen weniger. Das ist eine spannende Entwicklung. Besonders, weil sich oft sehr junge Menschen auf ihre strengen Verhaltensvorgaben einlassen”, sagt Psychologin Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen. „Meine Vermutung für den Erfolg ist das Angebot von Gemeinschaft. Sie kommen nie so leicht in eine Gruppe wie dort. Auf einen Schlag haben Sie einen ganzen Freundeskreis. Jemanden, der Anleitung gibt.“
Freikirchen betreiben oft keine historisch-kritische Bibelexegese, das bedeutet, sie interpretieren sie nicht und setzen sie in keinen historischen Kontext. Für sie ist jedes Wort in der Bibel wahr.
Freikirchen würden sich in ihrem Auftreten oft sehr modern und jung geben, die Lehren dahinter seien das aber genau nicht. „Für katholisch Sozialisierte sind solche Gottesdienste oft sehr ungewöhnlich. Dort gibt es rockige Konzerte, das Tempo ist schnell und interaktiv”, sagt Schiesser. So kommt es unter anderem immer wieder dazu, dass Menschen öffentlich ein Glaubenszeugnis ablegen, quasi der Gemeinde ihren Weg zu Jesus nacherzählen. Beim ICF Wien gab es solche „Testimonials“ vergangenes Wochenende auch. Drei Menschen schilderten, wie Gott ihnen durch schwere Schicksalsschläge half. „Freikirchen betreiben oft keine historisch-kritische Bibelexegese, das bedeutet, sie interpretieren sie nicht und setzen sie in keinen historischen Kontext. Für sie ist jedes Wort in der Bibel wahr, die Gleichnisse dementsprechend reale Ereignisse. Wenn man daraus Lehren ableitet, wird es automatisch konservativ”, sagt Schiesser.
Zurück in den Keller vom ICF in Wien. Nach eineinhalb Stunden ist die „Celebration“ vorbei. Am Ende gibt es noch eine kurze Werbeeinschaltung für den „Merch-Stand“, dort kann man unter anderem T-Shirts kaufen. Wer zum ersten Mal da ist, soll sich ein „Welcome Package“ am Infopoint abholen, gratis Bibel inklusive. An der Bar gebe es außerdem noch Waffeln für ein bisschen „Community-Time“.
„Tut mir leid, ich muss schon los.“ „Kein Problem, wir sind voller Vergebung.“