Joachim Meyerhoff: „Es braucht immer so einen Abgrund“
Von Angelika Hager
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Fotos: Wolfgang Paterno
Eine Geschichte in Ihrem inzwischen sechsten Buch wirkt verstörend: Joachim Meyerhoff lässt sich von einem stinkreichen Industriellen kaufen und ist das Geburtstagsgeschenk für dessen Frau. Sie haben nur für dieses Ehepaar gelesen?
Joachim Meyerhoff
Ja. Eigentlich hatte ich mit einer größeren Gesellschaft gerechnet. So war das ein Horror.
Aber wie ging die Geschichte denn aus? Da fühlt man sich als Leserin ein wenig allein gelassen, denn das Ende bleibt sehr vage.
Meyerhoff
Genau so allein gelassen, wie ich mich in dieser Villa fühlte. Und genau so, wie beschrieben, ging sie auch tatsächlich aus. Nach dem Lesen wurde nicht gesprochen, ich ging ins Bett, nachts haben die noch gestritten, und am nächsten Morgen wurde ich mit einem Bentley oder irgend so einem komischen Auto wieder abgeholt. Das war sehr lehrreich.
Ab da konnte man Sie nicht mehr für Geburtstage anmieten?
Meyerhoff
Nein, nie wieder, auch nicht für goldene Hochzeiten oder sonstige Feierlichkeiten. Ich habe mich damals einfach durch diese wirklich unfassbar hohe Summe verführen lassen. Als Schauspieler darf man sich nicht in private Wohnungen einladen lassen. Um kein Geld der Welt. Man darf sich von der Gesellschaft nicht vereinnahmen lassen. Es muss immer alles im offiziellen Rahmen bleiben. Sonst ist man verloren.
Und wenn Sie Ihr Theaterdirektor auf Knien bittet, bei einem Sponsoren-Dinner anwesend zu sein?
Meyerhoff
Als ich Ensemblemitglied am Burgtheater war, habe ich das auch gemacht. Na klar. Da saß ich einmal zwischen dem Kanzler, der früher bei der ÖBB war, wie hieß er nur, genau: Christian Kern, und dem Leiter der Staud-Marmelade. Das war eigentlich eine ganz lustige Konstellation. Ansonsten bin ich wirklich schlecht im Small Talk. Ich bin auch überhaupt kein Netzwerker.
Und bekanntlich auch kein Kantinenhocker, sondern ein Eher-früh-Nachhausegeher.
Meyerhoff
Ich mag es einfach nicht so gerne, wenn es rustikal wird.
Sie meinen mäßige Witze in Begleitung von Alkoholströmen?
Meyerhoff
Eine gewisse Geselligkeit ist mir leider fremd, darin bin ich nicht so gut. Ich bin kein begabter Trinker. Aber es ist ja eh ein Klischee, dass in Theaterkantinen ununterbrochen getrunken wird.
Es ist gleich fünf. In „Man kann auch in die Höhe fallen“ Whisky-Zeit. Wir sollten jetzt eigentlich einen bestellen.
Meyerhoff
Um Gottes willen, nein!
Schade. Bei der Lektüre Ihrer Romane stolpert man immer wieder über herrliche Alkoholrituale. Besonders elegant der Haushalt Ihrer Großeltern in München im Band 3 („Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“), da wurden doch sogar die Medikamente mit Champagner runtergespült.
Meyerhoff
Meine Großeltern waren aber natürlich absolut keine Alkoholiker, sondern sehr kultivierte Leute, die ihrem Tag so auch eine Art Struktur gaben. Die haben sich nie unter den Tisch getrunken. Aber Sie haben recht: Während der Mutterflucht tranken meine Mutter und ich immer um 18 Uhr gemeinsam einen Whisky.
Eine bestimmte Marke?
Meyerhoff
Ach was, überhaupt nichts Besonderes. Der kam manchmal auch vom Lidl. Also nicht eine 17 Jahre alte schottische Destillation mit einem tollen rauchigen Torf-Geschmack, falls Sie das glauben. So ist meine Mutter nicht.
Gegen Ende des Buches kommt die Pointe, dass Ihre Mutter Sie nach zehn Wochen gemeinsamer Zeit auf der vier Hektar großen Mutterlatifundie bittet, sie doch lieber nicht in Ihrem nächsten Buch vorkommen zu lassen.
Meyerhoff
Ja, das kam ganz lapidar. Zu Beginn meiner Mutterflucht hatte sie ja selbst angesichts meiner Schreibblockade vorgeschlagen: „Schreib doch ein Buch über mich.“ Ursprünglich wollte ich mir ja meine Lust auf das Theater im Schreiben zurückerobern und unter dem Arbeitstitel „Scham und Bühne“ Theatergeschichten erzählen. Das funktionierte aber nicht so, wie ich mir erhofft hatte. Ich antwortete ihr damals: „Aber du bist doch nicht tot.“ Ihre Antwort lautete: „Aber ich möchte es gerne noch lesen.“
Und dann doch der mütterliche Rückzieher. Musste man den überhaupt ernst nehmen?
Meyerhoff
In dem Moment natürlich. Tja, meine Mutter ist da völlig unberechenbar. Die haut an einem Tag was raus, das kann aber schon ganz bald wieder in die entgegengesetzte Richtung gehen. Also wenn meine Mutter, die das fertige Manuskript ja auch als Erste zu lesen bekommen hat, gesagt hätte: „Nein, so geht das nicht, so will ich das nicht“, dann wäre es sofort in die Schublade gewandert und auch dort geblieben. Der Roman wäre nie erschienen.
Und? Wie fiel die Mutter-Bewertung aus?
Meyerhoff
Ich denke, sie war stolz und sagte so etwas wie: „Ich wusste gar nicht, dass ich so eine wilde Hummel bin.“
Das hätten Sie sich wirklich angetan? Nach all den Monaten des Ringens und Schreibens das Manuskript wieder verschwinden lassen?
Meyerhoff
Natürlich! Genau deswegen habe ich ja auch mit Anfang 40 überhaupt angefangen zu schreiben. Ich wollte und will niemanden verletzen, niemanden kränken. Alle Beteiligten haben immer meine Romane vorab zu lesen bekommen. Diese klassische Abrechnungsliteratur mit den Eltern, um sich mit dieser Verwerfung selbst zu retten, das war überhaupt nicht mein Thema
Das klingt nach einem nahezu romantischen Familienkonzept.
Meyerhoff
Das hat natürlich auch mit dem Tod meines Bruders zu tun, der bei einem Unfall ums Leben kam, als ich gerade mein Schuljahr in Amerika machte. Dadurch haben sich alle Positionen drastisch verändert. Dieser Verlust hat die Familie sehr viel enger zusammenrücken lassen. Vater und Mutter hatten dann auch nicht mehr diese übergeordnete Rolle, die waren damals dann ja auch völlig hilflos.
„Meine Mutter sah mich an und sagte: ‚Wenn man dich anschaut, wird man gleich ein bisschen unglücklich.‘“
Und wurden selbst zu Kindern?
Meyerhoff
Nein, das würde ich nicht sagen. Aber sie waren in jedem Fall sehr schwach.
Haben Sie Ihrem Vater später verziehen?
Meyerhoff
Was hätte ich ihm verzeihen sollen? Ich hatte einen wundervollen Vater. Genau so, wie ich eine wundervolle Mutter hatte. Ich hatte das Glück, sie nie als Elternfront, sondern als einzelne Menschen betrachten zu können. Wir haben ja auch nie alle was gemeinsam unternommen, so klassische Familienausflüge, die gab es bei uns so gut wie nie.
Man kann auch in die Höhe fallen
Joachim Meyerhoff:
Man kann auch in die Höhe fallen
Kiepenheuer & Witsch, EUR 27,50
Meyerhoffs erste Burg-Premiere ist am 1. März 2025:
„Der Fall McNeal“ von Ayad Akhtar, Regie: Jan Bosse
Ich meinte, ob Sie ihm verziehen haben, dass er Ihre Mutter häufig betrogen hatte und die Ehe letztlich schiefging? Ist man da als Sohn nicht stellvertretend wütend?
Meyerhoff
Was die beiden einander angetan haben, ging ja mich nichts an. Das war ganz allein deren Angelegenheit. Das verstand ich auch erst, als ich selbst Kinder hatte: Man ist nie zu 100 Prozent nur Vater oder nur Mutter, obwohl die Kinder das natürlich so sehen, sondern daneben auch noch ganz viele andere. Meine Mutter hatte ja auf dem Land auch nicht darauf gewartet, dass ich endlich anklopfe. Die hat dort ein sehr freies, sozial dichtes Leben.
Diesmal nur gestreift, aber in einem anderen Roman ausführlicher erzählt: Ihre Mutter hatte den untreuen, längst geschiedenen Ehemann, als er krebserkrankt war, quasi zurückgenommen und bis zu seinem Tod gepflegt. Konnten Sie das nachvollziehen?
Meyerhoff
Anfangs konnte ich das überhaupt nicht verstehen. Ich habe sie wirklich gefragt: „Warum tust du dir das überhaupt an?“ Sie hatten dann noch eine gute, intensive gemeinsame Zeit. Meine Mutter hat das ganz offensichtlich noch gebraucht, um mit meinem Vater abschließen zu können.
Zu Beginn des Buches flüchten Sie in einem Zustand großer Schwäche zu Ihrer Mutter nach Schleswig-Holstein, den Ort Ihrer Kindheit, um bei ihr in eine Art Exil zu gehen.
Meyerhoff
Ich bin da wie ein altes Kind angekommen. In einem Zustand der Austrocknung, der Unfruchtbarkeit. Ich war in einer wirklich dunklen Phase. Im Gegensatz zu meiner überenergetischen, überresilienten, über 80-jährigen Mutter, die Currywurst isst, nackt bei Eiseskälte in der Ostsee schwimmt und zwischendurch noch 20 Frauen mit grauer Kurzhaarfrisur von der Domkantorei bewirtet, war ich ein mürrischer Pseudokünstler aus Berlin, der an einer Schreibblockade litt. Vielleicht war das auch alles nur so ein Mitte-50-Blues. Ich stellte mir nach 35 Jahren Leben als Theaterpferd auch die Frage, was das alles für einen Sinn ergibt.
Trotz Ihres Erfolgs, sowohl als Schriftsteller und Bestsellerautor als auch als Theaterstar?
Meyerhoff
So fühle ich mich überhaupt nicht. Ruhm, Prominenz, das ist mir alles wirklich völlig egal. Die Bezeichnung Star ist mir ein Graus.
Können Sie Ihren Erfolg genießen?
Meyerhoff
Ich habe aus dem Hadern mit mir immer auch eine gewisse Energie gezogen. Ich war mir immer zu viel von allem. Zu laut, zu groß, zu wenig lustig, zu wenig gut aussehend.
Und Legastheniker. Vielleicht genau deswegen auch Schriftsteller geworden. Entschuldigen Sie die Küchenpsychologie.
Meyerhoff
So küchenpsychologisch ist das gar nicht. Das könnte auch hinkommen.
Wahrscheinlich haben Sie von Ihrer erdverbundenen, pragmatischen Mutter damals bei Ihrer Ankunft in Ihrem Befindlichkeitsdilemma Sätze wie „Jetzt hab dich doch nicht so!“ zugeworfen bekommen.
Meyerhoff
Nein, das würde meine Mutter nie sagen. Sie ist eine feinfühlige Frau und neigt nicht zu solchen rustikalen Aussagen. Aber sie sagte Sachen wie: „Wenn man dich anschaut, wird man gleich ein bisschen unglücklich.“
Was hat Sie denn so aus der Bahn geworfen? Zitat aus dem Buch: „Berlin war das Säurebad, das tagtäglich meine Inspiration zerfraß.“
Meyerhoff
Ach, da kam viel zusammen. Berlin war für mich irgendwie immer Kampfplatz, während Wien Schauplatz, Abenteuerspielplatz gewesen ist. Kein Tag, wo ich in Berlin nicht angebrüllt oder zumindest gemaßregelt wurde. Das Spielen, das Schreiben, der Schlaganfall, eine Patchworkfamilie an zwei Orten, das viele Pendeln, das war einfach alles sehr viel. Zu Wien hatte ich natürlich eine ganz andere Beziehung: In Wien hatte ich meine fünf Romane geschrieben, dort meine kraftvollste Zeit am Theater verbracht, in der Stadt bin ich heimisch geworden.
Und trotzdem haben Sie Wien den Rücken gekehrt?
Meyerhoff
Nach 14 Jahren am Burgtheater war es dann auch einmal genug. Mein Abgang hatte seine Gründe, und ich bereue das null. Aber das Burgtheater ist mit Sicherheit das Theater, mit dem ich von allen Theatern die innigste Beziehung habe. Und ich freu mich drauf, wieder dort zu spielen. Aber es war gut, dass ich weggegangen bin. Allerdings bin ich in Berlin auch nie so richtig angekommen.
Glauben Sie, dass Sie in Wien wieder richtig ankommen werden?
Meyerhoff
Ich habe keine Ahnung, man wird sehen. Vielleicht ist es auch gar nicht gut, wieder dorthin zurückzukehren, wo man einmal abgeschlossen hat. Und das Absurde ist, dass ich jetzt, wo ich Berlin losgelassen habe, wieder ganz gerne da bin.
Bei unserem letzten Gespräch, anlässlich des Buchs über Ihren Schlaganfall, erzählten Sie, dass die kathartische Wirkung, die ein derart einschneidendes Erlebnis auslösen könnte, sich bei Ihnen nicht eingestellt hat.
Meyerhoff
Die Folgen davon trägt man länger mit sich herum, als man glaubt. Die Angst, dass so etwas wieder passieren könnte, bleibt einem. Manchmal spüre ich immer noch ein Kribbeln im Arm wie damals, als sich der Anfall angekündigt hatte. Das Schreiben nach dem Schlaganfall war für mich wirklich ein elementares Element der Selbstrettung.
Vor dem Theaterspielen, erzählten Sie in unserem Gespräch anlässlich des Buchs über den Schlaganfall, hatten Sie noch Beklemmungsgefühle.
Meyerhoff
Das ging inzwischen weg. Ich brettere jedoch auch nicht mehr in solche Selbstüberlastungsszenarien hinein, wo ich mir einbilde, fünf Stunden einen „Macbeth“-Blutrausch bis zur völligen Verausgabung spielen zu müssen. Ich will mich aber auch nicht zu Tode mit mir langweilen, ich bleibe ein Theatertier. Doch ich suche das Extreme nicht mehr so, möchte allerdings auch nicht in Klavierbegleitung Morgenstern rezitieren müssen.
Sie erzählen auch von Ihrer Traumatherapie. Und wenn die Traumatherapeutin ein Ex-Fotomodell ist, wie in Ihrem Buch, wird es natürlich auch wieder schwierig.
Meyerhoff
Ja, da geht natürlich auch wieder alles schief. Die hat die Therapie dann auch abgebrochen und mich an ihren älteren Kollegen verwiesen. Oder wie bei der Kindergeburtstagskatastrophe, die eigentlich der Auslöser meiner Krise war.
In Kurzform für unsere Leser: Aufgrund einer Ortsverwechslung sind Sie mit den Geburtstagsgästen Ihres zehnjährigen Sohns im falschen Trampolinpark gelandet, bei der Ankunft in der richtigen Location war die Zeit beinahe schon wieder abgelaufen, Rutschsocken mussten auch noch gekauft werden, und dann hatten Sie noch die Chuzpe, statt sich um die Kinder und Ihren Sohn um den Kauf eines pakistanischen Teppichs einer kanadischen Fantasie-Airline zu kümmern.
Meyerhoff
So ähnlich war das, ja. Der Teppich liegt heute in meiner Schreibwohnung.
Jonathan Franzen erzählt in Interviews gerne, dass es in seiner Schreibwohnung kein Internet gibt.
Meyerhoff
Natürlich, ganz klar, kein Internet, kein Handy, das muss ein völlig freier Gedankenraum sein. Nur ein paar Fotos an der Wand. Von meiner Mutter, von der Landschaft, in der ich auch aufgewachsen bin, so etwas in der Art.
Zurück zum Kindergeburtstag: Dann kam der Jähzorn, der Sie, wie schon in den früheren Büchern oft beschrieben haben, aus der Contenance spült.
Meyerhoff
Seit dem Schlaganfall passiert das eigentlich nahezu nicht mehr. Aber in seltenen Momenten gibt es solche Gereiztheit-Verengungskonstellationen. Ich merke das leider gar nicht selbst, wenn ich so in die Enge gerate. Ein anderer würde einfach sagen: „So, Freunde, ich geh jetzt einmal eine Runde spazieren.“ Leider nicht bei mir. Mein Sohn hat Gott sei Dank einen sehr speziellen Humor und kann heute auch darüber lachen.
Drama plus Zeit wird oft zur Komödie.
Meyerhoff
Nur komisch allein genügt nicht. Es braucht immer einen Abgrund. Wie die Geschichte vom Schauspielkollegen, der nicht einmal ansatzweise mehr seinen Text weiß. Oder vom Priester, den ich in einer engen Beichtkabine zu spielen hatte, der sich zu Tode onaniert. Das ist schrecklich, aber die Leute amüsieren sich dennoch köstlich, so wie gestern in der Oper von Bonn. Das Schreckliche braucht das Komische und umgekehrt.
„Ich stellte mir nach 35 Jahren als Theaterpferd auch die Frage, was das alles für einen Sinn ergibt.“
Da hinein fällt auch punktgenau die Geschichte von Ihrem Lesungs-Paranoia-Zusammenbruch im Hinterzimmer einer Lübecker Bücherstube. Während Sie dort im Abgedunkelten auf der Couch lagen, hat Ihre Mutter übernommen und damals noch unveröffentlichte Texte vorgetragen.
Meyerhoff
Und sie hat das unfassbar toll gemacht. Auch mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, als vor Zuschauern eine Lesung zu geben.
Planen Sie auch gemeinsame Auftritte ?
Meyerhoff
Auf keinen Fall. Das würde meine Mutter nie zulassen. Wenn sie auf der Bühne steht, dann soll sie ihr ganz allein gehören. Ihr gehört, was Lesungen betrifft, also der Norden. Schleswig-Holstein, Lübeck, Kiel, das ist ihr Claim. Da tue ich mir ohnehin schwer, zu lesen, weil es da zu sehr meine Heimat ist. Die Rolle des heimkehrenden Sohns behagt mir nicht sonderlich.
Und diese wunderschöne Liebesgeschichte, die ihr mit weit über 80 widerfahren ist, ist auch noch intakt?
Meyerhoff
Ja, den Mann gibt es noch. Der kommt dann mit seinem Köfferchen, bleibt zwei oder drei Tage da und reist dann auch wieder ab. Zusammengezogen wird nicht. Meine Mutter ist dann auch ganz froh, wenn sie wieder allein ist. Sie liebt es zu lesen und für sich zu sein. Kann man sich eigentlich gut vorstellen, eine solche Beziehung.
Ihre Mutter ist heute 86, ist sie noch immer so energiegeladen?
Meyerhoff
Und wie! Neulich war sie in Ägypten, sie wollte mit ihrem späten Freund die Pyramiden besuchen. Als ich ihr besorgt schrieb, wie es ihr gehe, antwortete sie nur: „Kann gerade nicht, bin in der Wüste.“ Und als sie zurückkam, hat sie sich keinen Tag ausgeruht, sondern gleich einmal 20 Körbe Äpfel eingesammelt und zum Entsaften gebracht.
Buchkritik
Joachim Meyerhoffs sechstes Buch, „Man kann auch in die Höhe fallen“, bei Kiepenheuer & Witsch.
Der sechste Band des Erinnerungsmarathons beginnt etwas weinerlich und behäbig. Meyerhoffs Alter Ego befindet sich in einem Zustand, in dem ihm viele Fäden gerissen sind, massive Sinnkrise also. Hadern mit Berlin, dem Beruf, literarischer Themenfindung; „wesensfremde Gereiztheit“ macht sich breit. Karl Ove Knausgård lässt grüßen. Das Buch nimmt Fahrt auf, als Meyerhoff die „Mutterflucht“ antritt und den luxuriösen Lebensekel hinter sich lässt. Bei Mutter Natur in Schleswig-Holstein und der Natur der superagilen Mutter beginnt die Schreibblockade zu bröckeln. Meyerhoff wirft sich in die Latzhose, schneidet Sträucher, repariert, mäht nicht (das ist das Mutterprivileg) und lädt sich im Exil (manchmal etwas langatmig) stetig wieder auf. Rund um die Gespräche mit der Mutter und die daraus resultierenden Lebensbilanzen mäandert er durch seine vielen Theaterleben, seine Kindheit (ein Mutterausflug endete damit, dass die Mutter ihre drei quengeligen Söhne auf der Landstraße zurückließ) und kommt auch wieder in jenen Meyerhoff’schen Schreibbeat, der süchtig machen kann: wortakrobatisch, voller wilder Metaphern und zärtlicher Blicke auf die abgründigen Absurditäten des Künstleralltags. Die poetischste Geschichte ist die des „Applaussammlers“, eines Mannes, der über Jahrzehnte das Klatschgeräusch-Archiv des Berliner Gorki-Theaters zu seiner Leidenschaft gemacht hatte und jede Applaus-Aufnahme der entsprechenden Aufführung zuordnen konnte. Ein Juwel, das wie eine Coproduktion von Daniil Charms und Franz Kafka anmutet.
Angelika Hager
leitet das Gesellschafts-Ressort