Interview

Kai Diekmann: „Putin zog sich neben mir splitternackt aus“

Kai Diekmann über sein eben erschienenes Inside-„Bild“-Buch und die Teilnahme an Karl Nehammers Putin-Trip.

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Ist die ÖVP noch zu retten, Herr Diekmann? Wahlschlappen, Chatprotokolle, ein Untersuchungsausschuss, der Postenschacher, getürkte Umfragen und Korruption offenlegt. Bekommt man da als Berater dieser Partei nicht so was wie Magenschmerzen?
Diekmann
Tatsächlich habe ich die ÖVP nicht beraten, zumindest nicht operativ. Das hat mein Unternehmen StoryMachine gemacht, das die Partei bei der Neupositionierung und ihrer Kommunikation nach außen unterstützte. Außerdem: Die Sympathiewerte jeder Partei, die lange in der Regierungsverantwortung ist, sinken. Das war bei der CDU genauso.
Haben Sie die ÖVP-internen Chatprotokolle gar nicht gelesen?
Diekmann
Nein, da kenne ich die handelnden Personen zu wenig oder gar nicht.
Ich versichere Ihnen: So schockierend sie waren, sie hatten auch großen Unterhaltungswert.
Diekmann
Möglicherweise sollten wir Journalisten uns selbst einmal kritisch hinterfragen und uns in schwierigen Zeiten nicht immer auf Dinge wie diese Protokolle stürzen, was natürlich am einfachsten und bequemsten erscheint.

Kai Diekmann, 58, war lange der mächtigste Journalist Deutschlands und stand während seiner Zeit als "Bild"-Chefredakteur (2001 bis 2015) und später als Herausgeber (bis Anfang 2017) regelmäßig unter Personenschutz ("Da ging es mir nicht anders als Spitzenpolitikern oder Wirtschaftsführern."). In dieser Zeit musste "Bild" durch die Sachzwänge der fortschreitenden Digitalisierung massive Auflagenverluste hinnehmen, kompensierte diese Verluste aber durch die digitalen Kanäle. Nach seinem endgültigen Ausscheiden 2017 gründete Diekmann mit Partnern das Unternehmen "StoryMachine", das u. a. auch die ÖVP bei ihrer Neupositionierung nach Kurz beriet.

Pardon, „Bild“ war und ist doch das Unterhaltungsmedium schlechthin, Schlagzeilen wie „Wir sind Papst!“, „Miss Germany“ bei Angela Merkels erstem Wahlsieg oder „Mann beim Abwaschen ertrunken“ haben inzwischen Kultstatus. Ich zitiere Sie: „Wir wollen kein Vollkornbrot in Großaufnahme sein, sondern eine Vanilleschnitte.“
Diekmann
Das eine tun, das andere dabei nicht lassen, würde ich sagen. Und vielleicht auch einmal einen Schritt zurücktreten zugunsten der wirklich dringlichen Themen wie der Klimakrise oder dem Krieg in der Ukraine.
Sie waren auf den Fotos von Karl Nehammers heftig diskutierter Russland-Reise im April vergangenen Jahres in nächster Nähe zum Bundeskanzler zu sehen. Haben Sie ihm zu dieser Reise geraten?
Diekmann
Der österreichische Bundeskanzler braucht keinen Kai Diekmann, der ihm zu solchen Reisen rät. Mein Engagement im Zusammenhang mit den Besuchen in Kiew und Moskau war ein rein privates, das auch nicht vom Bundeskanzler bezahlt worden ist. Es hat mich einfach interessiert, und ich war gerne bereit, meine Erfahrung einzubringen.
Dass der Bundeskanzler sich mit dem Aggressor Putin an einen Tisch setzte, hatte europaweit scharfe Kritik zur Folge.
Diekmann
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Karl Nehammer zunächst nach Kiew gereist ist. Das war auch ein Grund für meine Teilnahme, da ich seit vielen Jahren mit den Klitschko-Brüdern nicht nur bekannt, sondern wirklich befreundet bin. Der Besuch bei Putin stand unter dem ausdrücklichen Einverständnis Kiews und hatte natürlich auch für den Westen einen hohen Wert, da im April 2022 niemand genau wusste: In welchem Zustand ist Putin? Ist er Herr der Lage? Wie isoliert lebt er? Wie gefiltert bekommt er seine Informationen? Ohne Kiew auf dem Reiseplan hätte Moskau nicht stattgefunden.

Diekmann mit Nehammer und den Klitschko-Brüdern in Kiew im April 2022, knapp vor der Weiterreise zu Putin.

Und? Was war Ihr persönlicher Eindruck von Putin? Schließlich hatten Sie den Vergleich durch einige frühere Begegnungen, die Sie in Ihrem neuen Buch „Ich war BILD“ schildern.
Diekmann
Ich habe gar keinen Eindruck gehabt, weil ich Putin nicht zu Gesicht bekommen habe und wir eine Begegnung der Delegationen von vornherein ausgeschlossen haben. Eine unserer Bedingungen war: keine Fotos. Denn keiner wusste ja, wie propagandistisch Putin dieses Treffen ausschlachten wollen würde. Wir bestanden auf einen separaten Raum. Dann war die Frage: Wie vermeiden wir den Händedruck? Ganz einfach: Wir haben den russischen PCR-Test verweigert, damit war ganz klar, dass uns ohnehin keiner die Hand geben wird. Ich kenne Putins Pressesprecher Dmitri Peskow seit Jahren, und ohne solche Vorkehrungen wäre ein dem Ernst der Lage unangemessener Small Talk unvermeidbar gewesen. An solche Dinge zu denken, war meine Aufgabe. Karl Nehammer war ja zuvor auch in Butscha gewesen und sagte Putin direkt ins Gesicht, welche Gräueltaten seine Leute dort an der Zivilbevölkerung verbrochen haben. Das war wichtig.
Sie haben Putin unter anderem 2001, knapp nach 9/11, auf seiner Datscha in Sotschi interviewt.
Diekmann
Datscha ist natürlich reichlich untertrieben, die Residenz steht in einem Park. Er hatte uns knapp vor dem in Moskau geplanten Interview – wir waren schon da – plötzlich ins 1600 Kilometer entfernte Sotschi am Schwarzen Meer umgeleitet. Wir bekamen gerade noch Restplätze in einem Flieger. Das war natürlich Teil seiner Inszenierung. Ich fragte ihn damals, was er George Bush nach den Anschlägen auf das World Trade Center raten würde. Er antwortete sehr höflich, dass der keine Ratschläge von ihm brauche, sagte dann aber den erstaunlichen Satz: „Vor allem dürfen wir den Amerikanern jetzt nicht in den Arm fallen und sie an einer Reaktion hindern.“ Mehr Unterstützung für die USA ging nicht. Heute unvorstellbar.
Nach dem Interview lud er Sie ein, mit ihm schwimmen zu gehen.
Diekmann
Eigentlich auf eine Tour mit den Jetskis. Ich sagte ihm gleich, dass ich normalerweise bei Interviews mit Staatsoberhäuptern keine Badehose dabeihabe. Aber natürlich war das nicht spontan, sondern schon alles vorbereitet. Die Jetskis trieben im Wasser, es standen auch schon die Fotografen bereit. Als ehemaliger KGB-Agent ist er natürlich ein Meister der Manipulation, ihm passiert nichts zufällig. In einer Badehütte lagen dann auch mehrere Badehosen der Marke „Speedo“ säuberlich aufgereiht.
In Ihrem Buch bezeichnen Sie diesen Typ Badehose als „Eierkneifer“.
Diekmann
So nannten wir die früher. Ich wählte eine schwarze, er eine enzianblaue. Und tatsächlich zog er sich neben mir splitternackt aus, ehe er in die Badehose stieg. Kein Gramm Fett, der Mann ist unfassbar durchtrainiert. Ich fühlte mich neben ihm nicht wirklich wohl, meine Frau war damals gerade schwanger und ich ein bisschen mit ihr.
An diesen grotesken Männlichkeitsinszenierungen – hoch am Pferd mit nacktem Oberkörper oder auf Bärenjagd – hält Putin fest.
Diekmann
Seit Jahrzehnten. Natürlich empfinden wir diese Form der Selbstdarstellung als peinlich, aber in der russischen Gesellschaft haben solche Rituale einen anderen Stellenwert.
„Bild“ stand in der letzten Zeit mehr in – oft für das Unternehmen peinlichen – Schlagzeilen, als dass sie welche produzierte. Einer Ihrer Nachfolger, Julian Reichelt, wurde gekündigt: Es war von Machtmissbrauch, Affären mit Untergebenen, einem Klima von Angst und psychischer Gewalt die Rede. Hätten Sie Reichelt auch gefeuert?
Diekmann
Die Frage stellt sich mir nicht – ich habe „Bild“ ganz anders erlebt und wahrgenommen. Was mich selbst angeht: Kaum war ich Chefredakteur, habe ich mich in die Gesellschaftsreporterin von „Bild“, Katja Keßler, verguckt. Inzwischen sind wir seit 21 Jahren verheiratet und haben vier Kinder. Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen bei profil läuft, aber viele meiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben sich in der Redaktion kennengelernt. Wenn man bei „Bild“ arbeitet, bleibt auch wenig Zeit für anderes.
Tatsächlich existieren aber seit Herbst 2017, als die weltweite #MeToo-Debatte ihren Auftakt nahm, andere moralische Kriterien, was solche Dynamiken betrifft.
Diekmann
Ich habe zwei Töchter, und deswegen begrüße ich das. Ich habe aber auch zwei Söhne, deswegen würde ich mir wünschen, dass die Debatte ausgewogen geführt wird und keine Schlagseite bekommt.
Die negativen Schlagzeilen bezogen sich neben Reichelts Machtmissbrauch auf Chat- oder Mailnachrichten Ihres ehemaligen Chefs Mathias Döpfner, dem Vorstandsvorsitzenden des Springer-Konzerns. In diesen in der „Zeit“ veröffentlichen Textstelle äußert sich Döpfner diskriminierend über „Ossis“, „intolerant muslims und anderes Gesocks“ und weist seinen damaligen Chefredakteur Reichelt an, die FDP im Wahlkampf „hoch zu schreiben“, um eine schwarz-gelbe Koalition möglich zu machen. Hatten Sie auch solche Anweisungen von Herrn Döpfner bekommen?
Diekmann
Vorweg: Gott möge abhüten, dass irgendjemand meine Textnachrichten an Freunde und Kollegen je veröffentlicht. Allein schon die Chats innerhalb unserer Familiengruppe wären rufschädigend. Abgesehen davon: Es ist überhaupt kein Geheimnis, dass Mathias Döpfner und ich in vielen politischen Fragen völlig unterschiedlicher Meinung waren.

Mathias Döpfner

Der Springer-Vorstandsvorsitzende kam  kürzlich wegen in der „Zeit” veröffentlichter interner Mail-Anweisungen an seine Redaktion unter scharfe Kritik. Diekmann über seinen Ex-Chef: „We agreed to disagree.”

Der in Ihrem Buch abgedruckte SMS-Verkehr zwischen Döpfner und Ihnen dokumentiert das.
Diekmann
Sehen Sie! Oftmals endeten Debatten mit dem Satz „We agree to disagree.“ Wenn bei Springer Führungskräfte-Seminare stattfanden, konnte es generell oft zu extrem lautstarken Auseinandersetzungen kommen.
Aber hat Döpfner Ihnen Hoch- oder Niederschreibanweisungen gegeben?
Diekmann
Nein. Er wusste ja, dass das bei mir nicht auf fruchtbaren Boden fallen würde. Abgesehen davon: Interventionsversuche sind das Thema, mit dem du dich als Chefredakteur doch jeden Tag auseinandersetzen musst. Versuche rennen über Schmeichelei, sind manchmal subtil oder auch brachial, wie die Drohung des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff auf meiner Mailbox, mit der späteren Konsequenz seines Rücktritts. Da kommt es natürlich immer darauf an, wie du als Chefredakteur aufgestellt bist.
Haben Sie den Schlüsselroman über den Springer-Verlag „Noch wach?“ von Benjamin Stuckrad-Barre gelesen?
Diekmann
Überflogen. Ich kenne ihn ja gut, wir haben zusammen ein Buch über Udo Lindenberg gemacht, was ein Riesenspaß war. Er ist einfach ein solches Marketing-Genie.
Ist es für einen politischen Journalisten eigentlich vereinbar, dass zum Beispiel Helmut Kohl 2002 bei Ihrer Hochzeit der Trauzeuge Ihrer Frau war? Und Sie 2008 bei Kohls zweiter Heirat mit Maike Richter sein Trauzeuge waren?
Diekmann
Da müssen Sie unterscheiden: Zu unserer Freundschaft kam es erst, als Helmut Kohl schon nicht mehr Bundeskanzler und nicht einmal mehr Ehrenvorsitzender der CDU war. Unser erstes privates Treffen war im November 1998, wenige Wochen nach seiner Abwahl. Aber natürlich habe ich mich während seiner Amtszeit als politischer Journalist und damals stellvertretender Chefredakteur von „Bild“ um Nähe bemüht, weil ich auf der Jagd nach exklusiven Geschichten gewesen bin.
Führen Sie mit Angela Merkel auch so eine Post-Amt-Freundschaft wie mit Helmut Kohl?
Diekmann
Nein! Angela Merkel ist ein völlig anderer Typ, immer auf professioneller Distanz. Sie hat sich nie inszeniert, und sie hat sich nie inszenieren lassen. Sie mag es auch überhaupt nicht, fotografiert zu werden. Eine Abneigung, die übrigens auch Kohl hatte. Ihr waren die medialen Rituale wie Kohls Sommergespräche am Wolfgangsee mit Journalisten völlig fremd. Ich bin überzeugt, dass es keinen einzigen Journalisten auf dieser Welt gibt, der je die Berliner Wohnung der Kanzlerin von innen gesehen hat. Sie ist ein völlig authentischer Mensch und wirklich am Boden geblieben.
Schenkte Frau Merkel ihren Gästen im Kanzleramt tatsächlich den Kaffee selbst ein?
Diekmann
Ja, das tat sie. Und es war keine Masche. Sie hatte auch noch immer mein Amtsantrittsgeschenk, einen Silberwürfel, auf dem der Satz „In der Ruhe liegt die Kraft“ eingraviert steht, in einer Schale auf ihrem Arbeitstisch liegen, als ich mein letztes Interview mit ihr führte.
Sebastian Kurz war regelmäßiger Gast im Berliner Kanzleramt bei Frau Merkel. Wie „Bild“ schien auch Merkel von Kurz hellauf begeistert. „Bild“ titelte über ihn als Außenminister: „So einen bräuchten wir“. Wie ist Ihre Meinung, mit heutigem Wissensstand, über den einstigen „Bild“-Liebling?
Diekmann
Mich haben sein politisches Talent und seine Durchsetzungsfähigkeit tatsächlich begeistert. Er hatte Charisma, was ja oft als Mangelware in der Politik beklagt wird. Ich finde, die österreichischen Medien gehen mit ihrem politischen Personal generell viel brutaler um als die deutschen. Mir ist schon klar: Österreich ist sehr klein, und alle sind in herzlicher Abneigung miteinander verbunden. Doch das Tempo, das da gefahren wird, finde ich tatsächlich beunruhigend. Ihr tut gerade so, als ob es ein endloses Reservoir an neuen Talenten gibt, die alle darauf drängen, in die Politik zu kommen. Dabei ist das ein Job, bei dem man für ein relativ überschaubares Gehalt unglaublichen Zumutungen ausgesetzt ist, wie die aus dem Ruder geratene Berichterstattung über Karl Nehammers Familienleben wieder einmal gezeigt hat.
Eine Kritik an der Kanzlerfamilie ist, dass sich Katharina Nehammer, die Ehefrau, überproportional und ohne Befugnis in die Regierungsgeschäfte ihres Mannes einmischt.
Diekmann
Schließlich kennt sie das Geschäft und war schon lange, bevor ihr Mann in die Regierung kam, beruflich in der Politik tätig. Kann man jetzt allen Ernstes von ihr verlangen, dass sie sich als Hausfrau zurückzieht und sich ruhig verhält? Und Nehammer ist genau der Kanzler, den das Land jetzt braucht: besonnen, authentisch, als ehemaliger Berufssoldat verfügt er über unglaubliche analytische Fähigkeiten, was militärische Operationen betrifft.
Jetzt reden Sie aber wie ein Politiker.
Diekmann
Viel schlimmer finde ich in Österreich etwas anderes: die Abhängigkeit der Medien von der Politik in Form von Inseratengeschäften.
Diese Debatte kocht gerade in den letzten Wochen hoch – erneut initiiert durch die Offenlegung von Chatprotokollen, in denen man das Match um Regierungsinserate zwischen den Verlegerfamilien Dichand und Fellner nachlesen konnte.
Diekmann
Solche Verquickungen wären bei uns in Deutschland undenkbar. Sie sind für beide Seiten nicht gesund. So gibt man der Politik Instrumente in die Hand, Wohltaten zu verteilen oder mit dem Entzug zu drohen.
Sie haben Ihre Arbeit bei „Bild“ in Ihrem Buch als Droge bezeichnet. Wie kommt man da wieder runter?
Diekmann
Ganz ehrlich, schwer. Ich war ja nach meinem Aufenthalt in Silicon Valley und nach Abgabe der Chefredaktion noch ein Jahr als Herausgeber tätig. Mathias Döpfner nannte es eher „Heraushalter“. Und ich bin dann natürlich jeden Tag an dem Glaskasten vorbei, wo die lieben Kollegen wild gestikulierend gestanden sind. Es war ein bisschen, als ob man an einer Weihnachtsbäckerei vorbeigeht und sieht, wie alle am Teig naschen, sich mit Mehl bewerfen und Spaß haben, aber dich lassen sie nicht mehr mitspielen. Ich muss zugeben: Es war ein grauenhaftes Gefühl. 
Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort