Kinderpsychiaterin: "Nie wieder die Schulen schließen"

Katrin Skala ist leitende Kinder- und Jugendpsychiaterin am Wiener AKH und erlebt tagtäglich die alarmierenden Auswirkungen der Lockdowns.

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profil: Seit Jahren wird die defizitäre Versorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie beklagt. Woran liegt das?

Skala: Wir haben aktuell nicht mehr als 24 Betten in Betrieb und sind damit für eine halbe Millionenstadt zuständig, die andere Hälfte der stationären Versorgung übernimmt die Kinderpsychiatrie am Krankenhaus Rosenhügel. Außerdem gibt es gar nicht ausreichend Personal, um die vorgesehenen Betten entsprechend zu betreuen. Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein echtes Mangelfach mit zu wenig Ausbildungsmöglichkeiten. Und außerdem wenig attraktiv, weil die Psychiater dieses Faches zumindest im Spitalsbereich nicht marktkonform verdienen. Ein weiteres Grundproblem sind die kassenfinanzierten Plätze für Kinder und Jugendliche, die waren lange kein Thema und sind nach wie vor Mangelware, mit monatelangen Wartelisten. Das fliegt uns jetzt um die Ohren, ändert sich aber hoffentlich unter Minister Mückstein.

profil: Was sind für Sie die erschreckendsten Auswirkungen der Pandemie für Kinder und Jugendliche?

Skala: Die Bildungsschere klafft so weit auseinander wie nie zuvor. Studien aus verschiedenen Ländern zeigen, dass 20 Prozent der Kinder in Phasen des Homeschooling von der Bildfläche verschwinden. Manche von ihnen bleiben jetzt auch noch oft im Bett und stehen einfach nicht mehr auf. Mein Appell: Nie wieder die Schulen schließen. Das war grob fahrlässig. Es gibt keinen einzigen verifizierten Fall von Kindern oder Jugendlichen ohne Vorerkrankungen, die an Covid gestorben oder auch nur schwer erkrankt sind. Die Geschichte vom Superspreader-Kind ist ein Ammenmärchen. Im schulischen Kontext ist es vielmehr so, dass die Lehrer die Kinder anstecken. Bei Kindern hat Covid minimale Auswirkungen.

profil: Gab es unterschiedliche Krankheitshäufigkeiten innerhalb der Altersgruppen?

Skala: Ganz klar. Die Kleinen sind besonders von Angststörungen betroffen. Angst war ja auch ein gezieltes Instrument, das sowohl von der Regierung als auch von den Eltern eingesetzt wurde. Nach dem Motto: "Wenn du die Oma nicht besuchst, dann wirst du sie auch noch ganz lange haben." Dazu eine Fallgeschichte: Ein Siebenjähriger besuchte nach Monaten seine geliebte Großmutter, allerdings durfte er ihr nur vom Gartenzaun aus zuwinken. Wenig später ist sie verstorben. Dieses Kind verlässt seit vier Monaten nicht mehr das Haus, weil es in Furcht lebt, dass es dadurch wieder jemanden umbringen könnte. Angstmache und die Tendenz, Kinder unter einen Glassturz zu stellen, sollten Eltern tunlichst vermeiden. Denn die Kleinen nehmen alle diese Schreckensszenarien leider für bare Münze.

"Es ist hart, miterleben zu müssen, wenn ein Zehnjähriger einen Abschiedsbrief schreibt"

profil: Womit hatten Pubertierende besonders zu kämpfen?

Skala: Mit dem verstärkten Auftreten von Depressionen, leider auch vermehrt mit Lebensüberdruss und Suizidgedanken, besonders zu Beginn des zweiten Lockdowns im Herbst. Der erste Lockdown wurde von vielen noch als eine Art Experiment und Abenteuer betrachtet. In der Pubertät ist es so wichtig, sich an den Eltern zu reiben, zu rebellieren, seine Aggressionen auszuleben. Da ist es auch durchaus normal, wenn Kinder ihren Eltern "Ich hasse euch!" zurufen, die Türen knallen und sie sich dann mit Gleichaltrigen darüber austauschen, wie sehr ihnen die Alten auf die Nerven gehen. Das fiel alles weg. Mit fatalen Folgen. Es ist hart, miterleben zu müssen, wenn ein Zehnjähriger einen Abschiedsbrief schreibt.

profil: Was sind die wichtigen Warnsignale, wann sollten Eltern Maßnahmen ergreifen?

Skala: Wenn sich das Verhalten durch einen starken Rückzug verändert, die Kinder nicht mehr ihr Zimmer verlassen und hinausgehen wollen. Sie über Schlafstörungen klagen. Und Dinge, die sie früher gerne getan haben, auf einmal nicht mehr machen.

profil: Was halten Sie von mobiler Betreuung?

Skala: Sehr, sehr viel. Diese Angebote gehören dringend ausgebaut. Je länger man Kinder in ihrem Setting lassen kann, desto besser.

profil: Wie traten Essstörungen während der Pandemie auf?

Skala: Verstärkt, allerdings in einer modifizierten Form. Oft durch exzessiven Online-Sport, der mit großen Gewichtsverlusten einherging. Wir hatten Jugendliche mit lebensbedrohlichem Körpergewicht bei uns in der Ambulanz, betroffen waren auch bei dieser Form mehr Buben als sonst. Diese Form von Anorexie passte nicht in das normale Diagnoseraster. Diese Kinder konnten in der richtigen Betreuung wieder ganz normal essen, bei anorektischen Mädchen wird ja der Verzehr jeder Erbse schwierig. Wir haben jetzt auch wirklich sehr, sehr kranke Patient*innen auf der Warteliste, die wir aus Platzmangel einfach nicht aufnehmen können. Das macht einen dann schon auch sehr zornig.

Lesen Sie die Titelgeschichte zum Thema im aktuellen profil.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort