Das skurrile Ensemble sollte Besucher in "Präuschers Panoptikum" im Wiener Prater leiten. Das Foto machte Herbert List im Jahr 1944.
Fotografie

King Kong in Wien: Bizarre Bilder aus dem alten Prater-Panoptikum

Herbert List, Großmeister der surrealen Schwarz-Weiß-Fotografie, hielt 1944 Hermann Präuschers kurioses „Panoptikum“ im Prater fest: im Auftrag der Nazis, als homosexueller Jude. 80 Jahre später liegt nun erstmals sein damals konzipierter Fotoband vor.

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„Meine Fotobücher liegen noch immer in der Schublade und träumen von erstklassigem Kunstdruckpapier, das es nur im Ausland gibt. In Deutschland werden wohl erst meine (oder Ihre) Enkel daran Freude haben.“ Mit diesem Brief von 1947 erwies sich der 1903 in Hamburg geborene Herbert List als Prophet: Fast 80 Jahre sollte es dauern, bis seine Originalentwürfe realisiert wurden, seine Reportage aus dem Wiener Prater aus dem Jahr 1944 endlich in angemessener Form erscheint.

Herbert List (1903–1975) war kein Schaubudenblitzfotograf, sondern ein visionärer Künstler mit magischem Auge, das er auch für die Fotoagentur Magnum zaubern ließ. Seine Fotoreportagen erschienen in „Life“, in „Harper’s Bazaar“, seine Arbeiten wurden in New York, London, Mailand ausgestellt. Warum hat es dennoch so lange gedauert, bis der nun vorliegende Prachtband „Panoptikum“ erscheinen konnte – nach dem von List 1945 arrangierten Originalentwurf, samt einem Essay von Erich Kästner? „Die Fotos waren immer da“, sagt Monika Faber, Chefin des Wiener Photoinstituts Bonartes und führende Kraft hinter dem Buch, „allerdings als etwas abseitiges Thema wenig beachtet in bisherigen Retrospektiven.“

Schnell wird klar: völlig zu Unrecht.

Die durchaus bizarren Hintergründe von Lists „Pan-optikum“ führen zu Hermann Präuscher: 1839 in Gotha als Sohn eines Schaustellers geboren, später Raubtierdompteur. Laut Artistenlegende gewann er bei einer Wette in Paris 1871 einen höheren Geldbetrag und eröffnete damit noch im selben Jahr sein Panoptikum im Wiener Prater. Dazu beauftragte er die Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer, die in Wien etwa auch das Konzerthaus, das Volkstheater und das Akademietheater gestalteten.

Panoptiken waren ab dem frühen 19. Jahrhundert fixer Bestandteil von Jahrmärkten und Volksfesten. Vor seinen Schaubudenpalast in der Ausstellungsstraße stellte Präuscher als Blickfang die Gestalt eines Gorillas, der ein weißes Mädchen an sich reißt, dargestellt nach einem Original des Bildhauers Emmanuel Frémiet. Dazu deklamierten Rekommandeure ihre Räubergeschichten – aber auch Präuscher war gut darin, selbst abgehärtetes Publikum neugierig zu halten, wie ein Artikel des „Neuen Wiener Tagblatts“ vom 29. April 1872 zeigt, in dem es über das Panoptikum heißt: „Die größte Sehenswürdigkeit desselben wird jedoch nicht für Geld gezeigt, und diese ist der Herr selbst, der bekannte ehemalige Löwenbändiger Hermann. Er dürfte den Wienern bekannt sein, aber was nicht jeder weiß, ist eine eigentümliche, ihn jetzt beherrschende Marotte. Hermann kauft mit einer unbegreiflichen Leidenschaft Menschenhäute noch lebender Personen. Der gewöhnliche Preis ist zehn Gulden, doch soll er für eine besonders gute Haut sogar hundert Gulden gezahlt haben. Zehn Perzent des Kaufpreises werden sofort erlegt und noch soforter vertrunken, und das scheint die Hauptsache zu sein.“

Lehrreiches wurde bei Präuscher neben Kuriosem drapiert, Tatsachen neben Flunkereien, Historisches neben Unterhaltsamem, die Schuhe des isländischen Riesen Jóhann K. Pétursson neben der Totenmaske Napoleons. „Des Wieners Stolz ist sein Prater! Präuscher’s Stolz ist seine Praterhütte!“, steht noch im „Illustrierten Wiener Extrablatt“ vom 5. Mai 1889. Doch schon 20 Jahre später schienen sich die Dinge geändert zu haben, der Stolz war verflogen, obwohl man mit Spiegelkabinett, Exotenschau, Flohzirkus, lebendigen Löwen und Affen versucht hatte, das Publikum bei Laune zu halten. Der Niedergang des Prater-Panoptikums hatte wohl mit Hermann Präuschers Tod 1896 zu tun, nach dem das Kabinett von seinen Erben weitergeführt wurde.

Hermann kauft mit einer unbegreiflichen Leidenschaft Menschenhäute noch lebender Personen. Der gewöhnliche Preis ist zehn Gulden, doch soll er für eine besonders gute Haut sogar hundert Gulden gezahlt haben. Zehn Perzent des Kaufpreises werden sofort erlegt und noch soforter vertrunken, und das scheint die Hauptsache zu sein.

„Neues Wiener Tagblatt“ vom 29. April 1872

über einen PR-Schmäh Hermann Präuschers

Felix Salten, der mit Sicherheit den Kinderklassiker „Bambi“ schrieb und mit großem Fragezeichen den „Mutzenbacher“-Pornoschinken, notierte in seinem 1911 erschienenen Buch „Wurstelprater“ über das Panoptikum: „Das Licht des verdämmernden Nachmittags fällt in den weiten Raum auf all die Figuren, die mit starren, toten Gebärden dastehen in verschlissener, schäbig gewordener Pracht. Es ist, als wären schon hundert Jahre vorbei, und alles, was die Welt bewegte, stände hier wie morsches Gerümpel in einer Scheuer beisammen.“

Ein Dritteljahrhundert später hatte der Fotokünstler Herbert List am selben Ort eine noch surrealere Empfindung: „Man ist sich nicht mehr bewusst, wo das Echte aufhört und das Andere anfängt“, beschrieb er seine Eindrücke zwischen den Wachsfiguren. „Er nutzte seine Kamera, um die virtuelle Realität der täuschend echten Figuren noch zu verstärken – um sie zuletzt als raffiniertes Fake zu enttarnen“, so die Herausgeberin Monika Faber: „Aktueller könnte kaum ein Thema sein.“

Präuschers Wachsfigurensammlung umfasste Prominenz aus verschiedensten Epochen: von Martin Luther über Maria Theresia, von Goethe zu Richard Wagner. Man sah römische Gladiatorenkämpfe, Mumiengruppen der Inkas und ein Wachsexponat unter dem Titel „Beim Heurigen“, plus Zusatz: „Das Trinken lernt der Mensch zuerst, viel eher als das Essen, drum soll der Mensch aus Dankbarkeit das Trinken nicht vergessen.“

Im anatomischen Bereich wurden keine Heurigensprüche ausgestellt, sondern – neben Föten, Missbildungen und Schrumpfköpfen aus dem Amazonas – echte Säuferlebern. Im Halbdunkeln schlich das Publikum vorbei an schummrigen Tableaus von abscheulichen Schreckenskammern, lebendig Begrabenen, medizinischen Eingriffen, Massenhängungen sowie an den Serienmördern Hugo Schenk, Peter Kürten („Der Vampir von Düsseldorf“) und Fritz Haarmann („Der Totmacher“): eine Mischung aus Staunen, Schrecken, Neugier, im Kern aber doch eher ein anrüchiger Seitensprung mit lachendem Auge, vom Firmgöd bei der Praterhetz spendiert; ein Spiel mit reizvollen Tabus. List selbst schreibt vom „Wonnegrusel“, wenn man sich der Illusion ausliefert, die lebensgroßen Figuren mit ihren absonderlichen Blicken hätten sich vielleicht doch gerade um einen Ruck bewegt: „Erkenntnis schützt nicht davor, verführt zu werden.“

Zwar gehörte das Panoptikum um 1944 längst zum alten Eisen, dennoch versuchten die Nazis, das Kabinett zur Ablenkung vom Kriegsgräuel zu nutzen, und stellten es in den Dienst der Propaganda. Dafür wurde die groteske Ebene entfernt, das Haus gesäubert. Missbildungen, Verbrecher und Foltermethoden waren im „Volkskörper“ nicht mehr erwünscht.

Herbert List war auf eine andere Weise fasziniert von den schaurig-schönen Menschennachbildungen und begann im Februar 1944, diese zu fotografieren. Offizieller Grund war die kurzlebige Zeitschrift „Tele“: ein Geheimprojekt des Berliner Auswärtigen Amts in Schweden. Das Magazin sollte Sympathie für Nazi-Deutschland im Ausland säen. So war bei „Tele“ plötzlich erwünscht, was im Hitler-Regime längst verboten war – so auch List selbst: ein nach den damaligen Rassegesetzen „jüdischer Mischling zweiten Grades“, der noch dazu homosexuell war und keine Arbeitserlaubnis als Fotograf hatte. Trotzdem: List wurde beauftragt, bezahlt, eine Bildauswahl abgedruckt – allerdings anonym, denn da es sich bei „Tele“ um eine „internationale Kulturillustrierte“ handelte, waren deutsche Namen zu vermeiden.

Wenige Monate später wurde List nach Norwegen eingezogen, und auch vor dem Wurstelprater machte der Krieg nicht halt: Im April 1945 wurde Präuschers Panoptikum im großen Praterbrand vernichtet. Nur wenige der 2000 Figuren konnten von Rosl Frankfurt (1899–1985), einer Enkelin Hermann Präuschers, aus den Flammen gerettet werden. Sie führte das Panoptikum – verkleinert und an einem anderen Standort – weiter und wird in einer Ausgabe der Frauenzeitschrift „Samstag“ zitiert: „Wir wollen den Leuten nicht nur Kuriositäten zeigen, sondern auch etwas fürs Gehirnkastl.“ Zum Beispiel so: „Wenn ein Betrunkener ins Museum hereinkommt, zeige ich ihm als Erstes die Säuferleber. Das soll ihn abschrecken, weiterzutrinken. Und glauben Sie mir, das hat schon bei manchem geholfen.“

Der aufklärerische Sinn des Kabinetts war erwiesen, doch finanzielle Nöte sorgten dafür, dass auch jene Objekte, die den Krieg überstanden hatten, 1956 im Dorotheum landeten: Die Gemeinde Wien zeigte kein Interesse an den kulturhistorischen Raritäten, so schlugen bei der Versteigerung etwa die Galeristin Elisabeth Wong, die Baronin und Antiquitätenhändlerin Heintschel-Heinegg sowie der Maler Hubert Aratym zu. Schließlich wurde die Sammlung in alle Himmelsrichtungen verstreut.

Zum Nachfolgeetablissement des Panoptikums wurde derweil das berüchtigte Prater-Sexmuseum, das von Herrn und Frau Schwingsmehl geführt wurde. Wo Jugendverbot draufstand, war die Jugend selbstverständlich drin, auch wenn der erotisierende Effekt des Hauses von fraglicher Natur war: Schaukästen mit altertümlichen Nackedeibildchen, Geschlechtskrankheiten neben missgebildeten Föten, Lederhandschuhe mit Peitschen und Filmplakate aus dem Sleaze-Bereich. Hier wurde keine Aufklärungsarbeit geleistet, sondern eine Geisterbahnfahrt durch sexuelle Risikogebiete absolviert. Als Höhepunkt legte eine recht nahbar wirkende Frau eine halbherzige Stripteasenummer hin – bevor sie sich wieder ihren Arbeitskittel anzog und weiterputzte.

Das Buch

Herbert List: Panoptikum

Herausgegeben von Monika Faber, Andreas Nierhaus und Peer-Olaf Richter 

Spector Books, 192 S., 54 EUR

Die Ausstellung

Glasblick und Wachshaut.

Herbert List fotografiert in Präuschers Panoptikum

Photoinstitut Bonartes, Seilerstätte 22, 1010 Wien

Besichtigung nach Voranmeldung: www.bonartes.org