Konrad Paul Liessmann: „Praxis der Selbstzensur“
profil: Wie ist der Stand der Streitkultur in Österreich?
Liessmann: Kultur? Es gab heftige Debatten, etwa in der Corona-Pandemie um die Fragen: Wo liegt die Grenze zwischen Fakten und Fiktion, was kennzeichnet Verschwörungstheorien, wann enden bürgerliche Freiheiten? Diese Debatten hatten aber eher den Charakter von öffentlichen Erregungen. Etwas kommt in sozialen und anderen Medien hoch, man empört sich darüber, bezieht sofort Position, verurteilt andere Sichtweisen. Und dann legt sich das Ganze wieder. Das ist kein Streit.
profil: Ab wann wird aus Erregung Streit?
Liessmann: Schon in der antiken Rhetorik machte man eine feine Unterscheidung zwischen der Dialektik, der Methode der argumentativen Auseinandersetzung, wie sie zum Beispiel Wissenschafter führen, bei der es um die Sache geht und an deren Ende man der Wahrheit ein Stück näher gekommen ist. Und der Eristik, der Technik des Streitgesprächs. Arthur Schopenhauer hat im 19. Jahrhundert darüber ein Büchlein geschrieben: „Die Kunst, recht zu behalten“. Im Streit geht es darum, dass der Konkurrent am Ende klein beigibt, zerknirscht dasteht oder wutentbrannt das Podium verlässt. Es geht nicht um Wahrheit, sondern um den Triumph über einen anderen. Deshalb ist der Begriff Streitkultur eigentlich ein Widerspruch in sich. Aber er hat sich eingebürgert, gerade in der Politik.
profil: Wie ist es um die Diskurskultur in der Politik bestellt?
Liessmann: In einer politischen Debatte geht es um Macht, Machtgewinn und Machterhalt. Wir haben uns in zivilisierten Demokratien daran gewöhnt, dass man dabei Spielregeln einhält, etwa den politischen Gegner nicht untergriffig oder ad personam attackiert. Diese Regeln sind leider aufgeweicht. Man hat den Eindruck, dass in der Politik mittlerweile nahezu alles erlaubt ist.
profil: Politikerinnen und Politiker beklagen die Verrohung von Sprache und Diskurskultur. Zu Recht?
Liessmann: Wenn man sich diverse Chatprotokolle anschaut, dürfte in der Politik ein rauer Umgangston herrschen. Aber ich vermute, dass Gewerkschafter, die sich früher am Biertisch über Unternehmer unterhielten, das auch nicht in feiner Sprache taten – und umgekehrt. Neu ist, dass alles sofort publik gemacht wird, rund um die Uhr zugänglich ist und nie mehr aus dem Netz verschwindet. Auch deshalb werden Debatten unversöhnlicher – gerade bei brisanten Themen wie der Pandemie oder der Flüchtlingswelle.
profil: Gerade beim Thema Flüchtlinge lässt sich keine allgemeingültige Wahrheit finden.
Liessmann: Ja, empirische Wahrheiten gibt es nicht, da es um politische Einschätzungen geht. Aber zu Beginn der Flüchtlingswelle dominierte die Willkommenskultur, und wer 2015 vor einer Öffnung der Grenzen warnte, galt als reaktionär. Das waren keine offenen Debatten, in der Gegenpositionen respektiert wurden. Sondern es war klar, auf welcher
Seite man zu stehen hatte. Dasselbe gilt für Corona: Wer eine andere Position vertrat, galt als Querdenker, Verschwörungstheoretiker, nicht ernst zu nehmen. Das ist allerdings Strategie: Gegenstimmen zu disqualifizieren und nur als Ausdruck einer gestörten Persönlichkeit zu werten. Natürlich muss man dazusagen: Viele Positionen wollen sich gar keiner kritischen Überprüfung unterziehen – sondern fühlen sich wohl im Eck.
profil: Weil die Opferrolle bequem ist?
Liessmann: Ihre Beanspruchung ist mittlerweile selbst eine rhetorische Strategie. Jemand betont, etwas zu sagen, das man eigentlich nicht sagen darf, und hat sich dadurch genauso immunisiert wie derjenige, der lautstark im Namen einer Minderheit spricht, die angeblich keine Stimme hat.
profil: Muss man allen Positionen Raum geben? Oder gibt es Positionen, die schlicht Unfug sind?
Liessmann: Ich stehe radikal am Standpunkt des englischen liberalen Vordenkers John Stuart Mill: Eine andere Meinung zu verbieten, stünde uns nur dann zu, wenn unsere eigene Position unfehlbar wäre. Wer von uns hält sich für unfehlbar? Nicht einmal mehr der Papst. Also sind alle Meinungen zulässig. Manche Meinungen entlarven sich von selbst. Oder auch nicht: Charles Darwin war am Anfang genauso umstritten wie Albert Einstein. Mit dem Begriff Unsinn sollte man also vorsichtig sein. Aber man muss natürlich nicht allen Stimmen das gleiche Gewicht geben. Doch sie zu verbieten, hielte ich für einen schweren Fehler.
profil: Diese Meinungsverbote gibt es doch nicht.
Liessmann: Es gibt – abgesehen vom Verbotsgesetz – keine Meinungsverbote im legistischen Sinne. Aber die Grenze zwischen Hassrede – die verboten ist – und pointierter Kritik – die erlaubt sein muss –, ist nicht immer leicht zu ziehen. Daneben gibt es Versuche, bestimmte Positionen so zu diskreditieren, dass sie in seriösen Kontexten nicht mehr auftauchen. Wir kennen die Beispiele: Menschen werden von Diskussionspodien ausgeladen, Bücher von Verlagen wieder zurückgezogen. Als neulich im Katalog des Donaufestivals ein Essay des Autors Karl Bruckmaier über das Phänomen des Blackfacing erschien, der offenbar nicht den üblichen Erwartungen entsprach und gegen den eine Künstlergruppe protestierte, wurden die Kataloge eingestampft. Man wollte jeden Streit darüber vermeiden. Ich hätte den Essay gerne gelesen und mir selbst eine Meinung gebildet. Das kann ich nicht, ich werde für unmündig erklärt, und das nervt schon sehr. Das ist kein Verbot von oben, sondern eine freiwillige Praxis der Selbstzensur. Die Cancel Culture existiert also auch in Österreich.
profil: Existieren die viel zitierten Gräben, die die Gesellschaft spalten?
Liessmann: Die angebliche Spaltung der Gesellschaft ist ein Mythos. Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war wesentlich gespaltener. Jeder sprach damals vom Klassenkampf, davon, dass die Bourgeoisie und das Proletariat einander unversöhnlich gegenüberstehen und es irgendwann zum Endkampf kommen wird. Im Vergleich dazu haben die heutigen Debatten, vor allem in sozialen Medien, einen eminent fiktionalen Charakter. Wahr ist: Menschen bewegen sich gern in der viel zitierten Blase, also unter ihresgleichen, und wollen nur Dinge lesen und hören, die sie selbst denken. Die Erklärung dafür ist einfach: Menschen wollen eigentlich nicht streiten. Es geht uns besser, wenn wir nicht streiten müssen. Deswegen war ja Corona so ein Schock, weil wir erfahren mussten, dass die besten Freunde, mit denen wir sonst – bei Fußball, Flüchtlingen, dem Bundeskanzler oder dem Veganismus – immer derselben Meinung waren, über die Impfung plötzlich ganz anders dachten.
profil: Sie sagen, es geht den Menschen gut, wenn sie nicht streiten. Gilt das auch für Sie, oder sind Sie streitbar?
Liessmann: Ich kenne beides. Ich mag es schon, wenn geschärfte Argumente aufeinanderprallen, und gebe manchmal gerne den advocatus diaboli. Aber ich werde anderen Meinungen gegenüber auch nachsichtiger. Das ist vielleicht eine Alterserscheinung, weil man die Erfahrung gemacht hat, wie oft man sich selbst schon geirrt hat. Auf der anderen Seite kenne ich auch das gute Gefühl, nicht auf Widerspruch, sondern auf Zustimmung zu stoßen. Dieses Gefühl spiegeln die sozialen Medien stark wider. Wir sehnen uns nicht nach Kritik. Wir wollen – und das wissen wir seit Hegel – Anerkennung. Also Likes. Und zwar so viele wie möglich.
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Bei welchen Themen gehen in ihrem Umfeld die Wogen hoch, was beschäftigt Sie gerade? Wir bitten um Anregungen oder streitbare Debattenbeiträge auf [email protected].
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