Küchenweisheiten: Was man von „The Bear“ fürs Leben lernen kann
„Jimmy, Jim … Ist das dein Ernst? Geht’s dir noch irgendwie? Hör mir zu … Kannst du mich hören? Das ist kein Gemüse, das ist ein Scherz. Ich brauche das Ganze organisch, und zwar 13 Mal so viel. Um Gottes Liebe willen! Und zwar jetzt, verstehst du? JETZT! Wie heißt das, wie verdammt heißt das? … Ja, fuck, ja, es heißt: Ja, Chef!“
In der „Tonight Show“ führte Jeremy Allen White seinem Host Jimmy Fallon vor, dass er die Figur, die ihn zum heißesten Markenartikel der jüngsten Hollywood-Generation machte, jederzeit aus der Hüfte schießen kann. Bei den „Golden Globes“ räumte White für seine Rolle des hochneurotischen, superbegabten und in schonungsloser Selbstaufgabe brennenden Koch Carmy Berzatto den Preis für den besten Schauspieler in der Gattung Komödie/Musical ab. Ayo Edebiri, die herausragende Darstellerin der in Hingabe zu ihrem Chef sich verzehrenden Elevin Sydney, bekam ebenfalls einen Globe.
Das Genre ist irreführend, denn „The Bear“ (der in der Comedy/Musical-Kategorie auch die Auszeichnung für die beste Serie abräumte) ist alles andere als eine Komödie, vielmehr oft tragisch, tieftraurig, nervenzerfetzend, ungeschönt, sarkastisch, extrem emotional und entsprechend dramatisch. Zugkraft und Suchtfaktor entwickelt die zur Zeit auf dem Streamingdienst Disney+ zu sehende Hulu-Serie (die Plattform Hulu gehört inzwischen zu Disney) aus ihrem rau dokumentarischen, schnellen und völlig ungelackten Stil. In dieser Blut-Schweiß-Tränen-Ungeschliffenheit ist der mörderische Hochdruck und der oft selbstzerstörerische Dauerstress, der in der hochklassigen Gastronomie zum Alltag gehört, intensiv nachvollziehbar. Die Serie wirkt wie eine Reportage aus dem Inneren des Taifuns.
Inzwischen lernen Spitzenmanager durch Lamastreicheln, Delfinschwimmen oder Überlebenstraining im Gebirge in einer Coach-verseuchten Seminarlandschaft, wie man Mitarbeiter bei Motivation und Laune hält. Es käme wahrscheinlich billiger, alle Beteiligten einfach „The Bear“ gruppendynamisch analysieren zu lassen.
Der Plot, erfunden und geschrieben von dem bis dato unbekannten Regisseur Christopher Storer, in Kurzform: Nach dem Tod seines Bruders, mit dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, übernimmt Carmy die abgefuckte Sandwich-Bude seines Vaters in Chicago. Die Mannschaft ist eine nicht gerade in Motivation und Innovationswillen gebadete Küchencrew, die sich erst – über eine Staffel lang – mit der Vision ihres neuen Bosses anfreunden muss. Denn Carmy, der vor seiner dysfunktionalen Familie (angeführt von einer alkoholkranken Mutter, fantastisch gespielt von Jamie Lee Curtis) floh und in Kopenhagens Nachhaltigkeitstempel „Noma“ zum weltweit gefeierten Chef-Jungstar avancierte, will die coronagebeutelte Geschäftsruine zu einer Qualitätsinstitution stemmen. Und zu einem Tummelplatz nicht nur für betuchte Hipster-Foodies machen, sondern auch für die Normalos aus der Nachbarschaft. Alle sollen eine Leidenschaft für Essen nach Carmys Geschmack entwickeln und danach süchtig werden.
Nach zwei Staffeln Bingewatching verdichtet sich der Verdacht zur Gewissheit: Trotz seiner psychischen Instabilität zeigt Carmy, der von seinem Bruder wegen seiner Sturheit und Zielgerichtetheit einst den Spitznamen „The Bear“ verpasst bekommen hatte, der Crew, wie man einer Vision nachjagt und andere aus ihrer Bequemlichkeitszone herausreißen kann. Viele Unternehmen investieren heutzutage Unsummen für Coachings und Seminare zwecks Verbesserung der Mitarbeiterkultur, Teambildung und Führungsfähigkeiten. Inzwischen lernen Spitzenmanager durch Lamastreicheln, Delfinschwimmen oder Überlebenstraining im Gebirge in einer Coach-verseuchten Seminarlandschaft, wie man Mitarbeiter bei Motivation und Laune hält.
Es käme wahrscheinlich billiger, alle Beteiligten einfach „The Bear“ gruppendynamisch analysieren zu lassen. Was man von Carmy und Co. lernen könnte: