Rinderwahnsinn

Kuh-Attacken: Drehen die Rinder durch - oder die Menschen?

Kuh-Attacken. Drehen die Rinder durch - oder die Menschen?

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Von Angelika Hager und Salomea Krobath

Es ist elf Uhr abends und Theresia Innerhofer hat trotzdem noch die Kraft, ihrem durch Orientierungsschwierigkeiten verspäteten Besuch eine Jause zu kredenzen. Ihr Tag hat gegen fünf Uhr früh begonnen; gemeinsam mit ihrem Mann Hansjörg führt die „Resi“, wie die weit über die Grenzen der Pinzgauer Gemeinde Hollersbach bekannte Mutter dreier Buben genannt wird, einen auf Milchwirtschaft spezialisierten Biobauernhof mit 13 Kühen und 30 Jungtieren. Jeden zweiten Tag kommt der Molkereiwagen aus Maishofen, um sich im Schnitt 600 Liter Milch abzuholen. „Wir hatten einmal einen Pariser Aupair-Boy hier“, erzählt sie. „Der hat mich gefragt, ob ich glaube, dass unsere Kühe glücklich sind. Ich konnte ihm ganz ehrlich antworten: Wenn ich eine Kuh wäre, dann würde ich gerne hier bei uns leben.“

Denn Innerhofer, eine Bauerstochter aus Mittersill und studierte Bildhauerin und Malerin (Lieblingssujet naturgemäß die Kuh), ist mehr als eine bloße Bäuerin: eine echte Kuhversteherin. Vor ihrer Ehe hat sie neun Jahre auf verschiedenen Almen als Sennerin gearbeitet: „Ich betrachte die Kühe als meine Mitarbeiterinnen. Und jede Kuh hat ihren eigenen Vogel, so wie wir Menschen eben auch.“

Zwei Tote und sieben Schwerverletzte
Der letzte Sommer war eine harte Zeit für das Image des Rinds. Kühe, in den romantisch verklärenden TV-Werbespots für Schokolade und Milchprodukte gerne als kuschelfreudige Charakterfestungen von Gutmütigkeit und Gelassenheit vorgeführt, entsprechen diesen Klischees auf den Weiden und Ställen nicht mehr.

Zwei Tote und sieben Schwerverletzte nach Kuhattacken lautete die Bilanz im Spätsommer in Österreich. Die „Bild“-Zeitung sprach in ihrer Berichterstattung über die deutsche Wanderin Daniela M., die im Juli im Stubaital mit ihrem Bullterrier von einer ganzen Kuhherde fatal attackiert worden war, von „Killerkühen“. Doch nicht nur Almwanderer, die „Kuhweiden leider mit einem Streichelzoo verwechseln und nicht kapieren, dass sie durch abgezäunte Weiden nicht durchrennen dürfen“, so Innerhofer, zählten zu den Opfern von Rinderangriffen.

Ende Juli überlebte ein 34-jähriger Landwirtschaftsarbeiter in der Steiermark die Wut eines Stiers nicht; unter den Opfern, die mit schweren Kopfverletzungen oder Brust-und Rippenbrüchen davonkamen, waren auch Landwirte und Bäuerinnen, die durch den jahrelangen Umgang mit ihren Tieren der Ignoranz des städtischen Wandertouristen voraus sein müssten. Im Vorjahr waren in der APA nur zwei Vorfälle mit Kühen als Unfallgegner gemeldet worden. Dass österreichische Kühe im Sommer 2014 in ihrem Verhalten eine besondere Aggressionsbereitschaft gezeigt hätten, beweist das nicht.

„Für diese Unfälle werden wieder wir Bauern mit noch härteren Auflagen büßen müssen“, fürchtet Innerhofer. „Es kommt nie vor, dass eine Kuh mutwillig angreift, sie hat immer einen Grund. Sei es, dass sie sich bedroht fühlt, oder eben ihr Kalbl schützen will.“

Viele Tiere wären keine Hunde mehr gewöhnt, sagt Sepp Tiefenbacher, Bio-Bauer, der mit seiner Frau Manuela, acht flachsblonden Kindern, 150 Puten und 30 Milchkühen auf einem Bullerbü-artigen Hof bei Niedernsill lebt, wo man sich auch einmieten kann, „weil ihre Bauern keine mehr halten“. Die Aggression der Kühe würde sich oft weniger auf den Wanderer als auf den begleitenden Hund richten: „Kühe sehen nicht sehr gut; sie verwechseln sicher auch Kinder mit Hunden. Ohne einen Stock sollte man nie eine Weide betreten, und schon gar nicht den Viechern den Rücken zeigen.“

„Inzwischen sind die Medien so aufgeheizt“, so der Pinzgauer Bauer Hannes
Foidl-Bernsteiner, dessen Eltern im Sommer mit 23 Milchkühen und einigen Alm-Schweinen die auf 1600 Metern gelegene Schaunbergalm bewirtschaften und vor Ort ihren eigenen Käse produzieren, „dass wahrscheinlich jeder angeknackste Finger, der von einer Kuh verursacht wurde, zu einem Artikel aufgeblasen wird.“

Schutzinstinkt wird geweckt
Ein wesentlicher Faktor in der Ursachenforschung für das geänderte Verhalten von Kühen stellt die seit Jahren immer häufigere Umstellung von der Milchwirtschaft auf Mutterkuh-Betriebe, die auf den Absatz von Fleisch zielen, dar. „Die Milchwirtschaft ist zunehmend wenig ertragreich, deswegen satteln immer mehr Bauern um“, erzählt Foidl-Bernsteiner, während sein Vater Hans die Kühe am frühen Abend von den Almmatten in Richtung Stall treibt, „da sind die Kühe mit ihren Kalbln gemeinsam, und natürlich werden da ihre Schutzinstinkte geweckt. Solche Situationen sind gefährlich.“

Der holländische „Kuhversteher“ Jan Hulsen, der in seiner Heimat international besuchte Seminare über den richtigen Umgang mit Kühen veranstaltet, macht den Menschen für die „Sittenverrohung“ der Kühe verantwortlich: „Die Kuhhaltung wird immer maschineller, und der Kontakt zu Bezugspersonen deswegen immer kleiner. Aus diesen Defiziten entwickelten sich Ängste, die in unvorhersehbaren Handlungen ihren Niederschlag finden.“ Hier also eine Betriebsanleitung für alle Wanderer in Alm-Idyllen: Bevor man eine Kuhweide betritt, sollte man Kontakt mit den Tieren aufnehmen und ihre Kopfhaltung beobachten. Hulsen: „Sie sind sehr neugierig. Es kann sein, dass sie, sobald man die Weide betritt, auf einen zurennen. Solange der Kopf oben ist, ist alles in Ordnung. Einen Kuhangriff erkennt man daran, dass die Kuh ihn gesenkt hält und kurze, schnelle Bewegungen macht. Sie nickt von unten herauf und hält die Nase hoch.Wenn man dieses Verhalten beobachtet: schnell wegrennen.“ Kuh-Psychologe Martin Ott (siehe Interview hier) rät dazu, „sich nur frontal zu nähern.”

Wie von Geisterhand geführt hingegen trotten die Schaunbergalm-Kühe in ihre Unterkunft, mittendrin die Leitkuh „Enzian“. Ein Anblick, so unwirklich malerisch wie aus einem Heimatfilm, bei dem der Biedermeier-Maler Friedrich Gauermann noch einmal drübergepinselt hat. Vater und Sohn geben uns auf dem Weg einen Exkurs über die hierarchischen Strukturen: Vorne trotten die Halbstarken, das zweite Drittel stellen die stärksten Kühe, die wie die Anführer bei historischen Schlachten den Vortrupp instrumentalisieren, um Gefahrensondierung zu betreiben. Das letzte Drittel bilden die schwachen Kühe. Innerhalb der Herde bilden sich viele Cliquen. Es kommt immer wieder vor, dass eine junge die alte Leitkuh herausfordert. Wenn sie nicht gewinnt, probiert sie es nach einiger Zeit noch einmal. Meistens ist es die gleiche Kuh, die immer wieder an den Machtstrukturen rüttelt. Behält sie einmal die Oberhand, muss die Leitkuh den Generationenwechsel akzeptieren.

Stars und Mauerblümchen
Auch unter den Kühen existieren Stars, aber auch Mauerblümchen, wie der Jungbauer erzählt. „Es gibt Kühe, deren Abwesenheit von der Herde kaum bemerkt wird. Versuche ich jedoch, andere herauszunehmen, trottet wieder die ganze Gruppe mit. Solche Kühe zum Schlachter zu bringen, sorgt für Aufruhr. Dann trauert der ganze Stall, und es entsteht ein Machtvakuum. Es folgt eine unruhige Zeit, in der die Kühe eine neue Rangordnung erkämpfen müssen. Besser ist, eine zu nehmen, die nicht vermisst wird.“ Die Schaunbergalm-Rinder sind friedlich; ihre Kälber hat man ihnen knapp nach der Geburt weggenommen. „Kühe vergessen schnell“, erklärt Hannes Foidl-Bernsteiner, „aber natürlich ist nach der Geburt ein Verlustschmerz da. Damit sie ihre Trauer verarbeiten, geben wir ihnen Globoli.“ Im Alter von 106 Jahren ist der Großvater der Familie im vergangenen Jahr verstorben; seinen letzten Sommer konnte er noch auf der Alm verbringen. Der Käse, den uns Mutter Vroni später kosten lässt, schmeckt nach diesem Lebensgefühl. Dramatisch gestaltete sich der Sommer durch die Verluste von drei Kälbern. Durch den andauernden Regen war der Boden so rutschig, dass drei Tiere abstürzten. Solche Fälle werden der „Gesundheitspolizei“ überlassen – und die Kadaver aufgeschnitten, dass Weißgeier und Marder das Aas vertilgen.

Auch Theresia Innerhofer glaubt fest an Charaktertypen von Kühen. Sie reicht uns eine Farbtafel, die die „homöopathischen Konstitutionstypen beim Rind“ aufzeigt. Knapp vor Mitternacht wandern wir in den Stall. An ihren „Mitarbeiterinnen“ erläutert sie die verschiedenen Gemütskategorien: „Unsere Klara zum Beispiel – die ist eine ganz liebe, aber sie meint, sie darf alles. Sie ist der Typ ‚Pulsatilla‘ – lieb, anhänglich, mütterlich, sie liebt Streicheleinheiten. ‚Belladonna‘-Konstitutionstypen sind hitzig. ‚Nux Vomica‘ ist der Managertyp – ständig geschäftig und wichtigtuerisch. ‚Sepia‘ passt gut zu alten, müden Kühen, und ‚Ignatia‘ gebe ich ihnen, wenn sie traurig sind.“ Über den neuadaptierten Stellplätzen prangt ein riesiges Ölgemälde eines imposanten Stiers. „Das habe ich ihnen gemalt, das hat fast die Funktion eines Pin-ups“, lacht sie. „Die Kühe sollen auch ihren Spaß haben.“
Doch die Verheißung bleibt eine Illusion: „Wir arbeiten mit Eigenbesamung, das heißt: Wenn eine Kuh stierig wird und andere Kühe zu bespringen beginnt, sind wir vorgewarnt. Der Samen wird bei uns mit Stickstoff so gelagert, dass wir jederzeit loslegen können. Ich war vor 17 Jahren eine der ersten Frauen, die einen solchen Kurs absolviert hat.“

„Wenn ich etwas über Frauen wissen will“, erzählt Sepp Tiefenbacher, „frage ich Manuela oft: Wie ist das bei den Kühen?“ Nur was die Monogamie betrifft, sind Kühe anders gepolt: „Sie sind sehr soziale Tiere, die Freundschaften pflegen. Aber Liebesbeziehungen zum anderen Geschlecht finden nicht statt. Da reicht ein Stier für 50 Kühe,Wenn man da zuschaut, denkt man sich: ‚Kann das alles gewesen sein?‘ Das dauert nur Sekunden.“
Christian Friedl ist Züchter, und zwar der beste Fleckviehzüchter des Jahres 2013. Im steirischen Unterlamm betreibt er seinen „Kindheitstraum“ im großen Stil: inklusive Melkroboter und einem riesigen Stall, wo auch auf den Wohlfühlfaktor seiner Schützlinge allerhöchster Wert gelegt wird: „Ich achte immer darauf, dass sie von ihren Stellplätzen auch auf die Landschaft schauen können. Die Boxen mit der besten Aussicht sind auch am schnellsten besetzt. Eine elektronische Kratzbürste sorgt für Unterhaltung.“
Bei der Auswahl des Zuchtstiersamens agiert Friedl wie „bei Parship“: „Sie müssen sich ergänzen. Ist die Kuh eher klein, wähle ich einen großen Stier.“ Das Geheimnis seines Zuchterfolgs liege, abgesehen vom Züchter-Know-how so Friedl, „in der starken Verbindung, die ich mit meinen Tieren aufbaue“: „Ich verbringe mindestens eine Stunde jeden Tag damit, sie zu beobachten. Wenn ein Mensch stressgeladen und fahrig ist, registriert die Kuh das sofort und übernimmt diese Nervosität. Sie kann sehr genau meine Befindlichkeit spüren. Hat sie sich einmal erschreckt, reagiert sie beleidigt und distanziert sich einmal vom Menschen. Es dauert dann oft bis zu zwei Wochen, bis sie wieder Vertrauen fasst.“

Sepp Tiefenbacher hat Recht: Kühe ticken nahezu wie Frauen. Sie sind verletzlich, intuitiv und schützen ihre Kinder. Bis auf die Sache mit dem Stier passt alles.

Foto: Monika Saulich für profil