Langeweile: Über die Wiederentdeckung eines Lebensgefühls
Harald Schmidt, der einst rasende TV-Entertainer, suhlt sich in seinem Ruhestand. Er hat seine Firma aufgelöst, die Kostüme dem Fundus der Kölner Oper gespendet und schätzt „den kurzen Tagesschlaf“, wie er dem Wochenmagazin „Stern“ kürzlich berichtete. Auf die Frage, ob in seinem verfrühten, arbeitsleeren Rentnerdasein kein Gefühl von Langeweile aufkomme, antwortete er mit großer Entschiedenheit: „Nie. Ich beobachte den Alltag. Ich genieße das Leben. Ich lasse Vorfahrt.“ Sein Faible für das Prinzip Siesta teilt der Entertainer a. D. mit dem literarischen Popstar der Trägheit, des Prokrastinierens und des Gedankenkreisens: Oblomow, der Anti-Held aus dem gleichnamigen Roman von Iwan Gontscharow, einem russischen Regierungszensor, gilt seit dessen Veröffentlichung im Jahr 1859 als prototypischer „Malvivant“ und Vertreter einer zum Untergang verdammten Kaste, die es sich in der Langeweile, dem Stillstand und der Verantwortungslosigkeit allzu gemütlich gemacht hatte. Womit wir sc hon beim ersten großen kulturellen Missverständnis gelandet sind. So wie Harald Schmidt und Iwan Gontscharow, der paradoxerweise wegen der Doppelbelastung als Beamter und Schriftsteller immer wieder an Erschöpfungszuständen und Migräne litt, setzten viele große Dichter und Denker des Abendlands die Langeweile Lebensüberdruss, Nichtsnutzigkeit, Dekadenz, Sinnleere und in Apathie umgeleiteter Melancholie gleich. Für Charles Baudelaire, Blaise Pascal, Sören Kierkegaard, Arthur Schnitzler, Robert Musil oder Anton Tschechow war Langeweile Symptom eines gesellschaftlichen Krankheitsbilds und das Privileg einer überzüchteten, parasitären Elite, die „um zwölf Uhr mittags aufsteht, im Bett Kaffee trinkt und sich dann zwei Stunden lang anzieht … oh, wie ist das schrecklich“, wie Irina in Tschechows Drama „Drei Schwestern“ über sich selbst klagt.
Der vernunftbegabte, aufgeklärte und intellektuell reflektierte Mensch des 18., 19. und 20. Jahrhunderts hielt Langeweile für einen Zustand, dem es in jedem Fall zu entfliehen galt. „Nichts gleicht an Länge jenen lahmen Tagen, die unter einer schweren Schneelast lagen, wo dumpfe Trübsal Langeweile spinnt“, schrieb Baudelaire in „Die Blumen des Bösen“.
Der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal schlug im 17. Jahrhundert in seinem verzweifelten Kampf gegen den „Ennui“ (so der französische Begriff für Langweile und Lebensüberdruss) einen noch härteren Ton an: „Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen.“
Psychologen, Pädagogen, Hirnforscher und Neurologen und Philosophen sind sich nach rund zehn Jahren Smartphone-Hype einig: Gebt uns und vor allem unseren Kindern die Langeweile zurück!
Doch die Stigmatisierung des Stillstands, des geistigen Flanierens und des unstrukturierten Nichtstuns, das seinen Ursprung im christlichen Moralverständnis und dessen Losung „ora et labora“ (bete und arbeite) hat, wurde in diesem Jahr Jahr quer durch die wissenschaftlichen Disziplinen einer kritischen Überprüfung unterzogen. Schließlich hatten Baudelaire und Pascal noch keine Ahnung, was es bedeutet, ein „Smombie“ zu sein, so der mittlerweile in den Sprachgebrauch eingebürgerte Hybrid aus „Smartphone“ und „Zombie“. In ihrer unheilbaren Abhängigkeit frequentieren „Smombies“ durchschnittlich 100 Mal pro Tag diverse Foren wie Facebook, Twitter, WhatsApp, Instagram oder die Partner- und Sexbörse Tinder. Denn der Selbstwert des digital obsessiven Menschen bemisst sich vor allem nach dem Grad seiner Außenwahrnehmung.
Psychologen, Pädagogen, Hirnforscher und Neurologen und Philosophen sind sich nach rund zehn Jahren Smartphone-Hype einig: Gebt uns und vor allem unseren Kindern die Langeweile zurück! Der Drang zur dauerhaften Verschmelzung mit seinem Kommunikationsequipment hat aus dem Menschen ein Opfer der Ablenkungsvielfalt gemacht. Jedes Mal, wenn ein Alert-Signal auf unseren Smartphones blinkt oder auf der Facebook-Site ein Like-Daumen aufscheint, wird im Gehirn das Belohnungssystem aktiviert und der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, der in prädigitalen Zeiten bei Sex, Sport, Drogen oder beruflichen Erfolgen auf den Plan trat.
Der US-Neurowissenschafter Daniel Levitin beschreibt in seinem Buch „The Organized Mind“, in welch bedenklichen Zustand unsere innere Biochemie durch diese permanente Torpedierung mit Mini-Impulsen gerät: „Der Effekt dieses Prinzips ist: Wir werden dafür belohnt, dass wir uns nicht mehr konzentrieren können, und suchen deswegen permanent Stimuli von außen.“ Während der Urzeitmensch diesen Alarmzustand nur auf der Jagd oder angesichts feindlicher Attacken verspürte und die Stresshormone danach rasch wieder abbaute, steht der „homo iphoniensis“ fast permanent unter Druck; Tag- und Nachtstrukturen lösen sich in einer rund um die Uhr im Bereitschaftsmodus stehenden Gesellschaft zusehends auf.
Das schädigt nicht nur die Psyche, sondern auch die Gesundheit: Blutdruck und Herzfrequenz steigen, Verdauungs- und Schlafstörungen treten auf. Die Fähigkeit, sich auf eine Aktivität zu fokussieren, wird durch ununterbrochenen Wahrnehmungsstress stark in Mitleidenschaft gezogen. Verharrte der digitale Mensch 2012 im Schnitt noch 75 Sekunden bei einer Arbeit auf seinem Computerscreen, hat sich diese Konzentrationsspanne nach Erhebungen der University of California inzwischen auf 40 Sekunden verringert. Dann gibt er sich diversen anderen Verlockungen im Netz hin, ehe er nach 23 Minuten an den Ausgangspunkt zurückkehrt.
Die Zwischenräume des Loslassens
In seinem „Leitfaden für eine extreme Gegenwart“ bezeichnet der kanadische Autor Douglas Coupland die Konsequenz dieses sprunghaften Verhaltens als „Zeitschmelze“: „Die so wahrgenommene Verkürzung des durch Multitasking übereffizient gewordenen Lebens lässt nicht mehr genug Zwischenräume für konkretes eigenes Erleben zu.“ Doch genau in diesen Zwischenräumen des Loslassens und der Befreiung von äußeren Zwängen entstehen Gedanken, Erkenntnisse und kreative Prozesse. Der Renaissance-Dichter Francesco Petrarca nahm den gegenwärtigen Stand der Kreativitätsforschung schon im 14. Jahrhundert vorweg: „Nur wenn der Mensch zur Ruhe kommt, dann wirkt er.“ Johann Wolfgang von Goethe bezeichnete die Langeweile als „Mutter aller Musen“, die vom „Olymp kam, um mich zu retten“. Im 19. Jahrhundert war Arthur Schopenhauer, der sich als einer der ersten abendländischen Philosophen intensiv mit dem Buddhismus auseinandersetzte, überzeugt: „Das glücklichste Los ist die Entbindung von Tun und Lassen.“
Für digitale Neurotiker werden solche Befreiungsrituale allerdings zu verhaltenstherapeutischen Extremsituationen. Digital-Detox-Kuren sind in den USA inzwischen zu einem regelrechten Industriezweig avanciert; im oberösterreichischen Schärding wurde kürzlich die erste Institution eröffnet, in der Menschen langsam wieder lernen, über längere Zeiträume ohne „die dauerhafte Symbiose mit dem Ich-Gerät“ (so die Autorin Nina Pauer) zu existieren. Die katholische Kirche hat die Vermarktbarkeit der Stille und des geschützten Nichts schon längst gewittert. Im Verbund „Kloesterreich“ bieten 19 Klöster Schweigeseminare und digitale Entgiftung an: Bei spartanischem Lebensstil kann man die Schönheit des Nichts und der Langeweile wiederentdecken. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann sieht darin nichts Verwerfliches: „Wer zu schwach ist, um mit sich allein zu sein und die Stille auszuhalten, wer auch dafür einen Trainer oder ein bestimmtes Ambiente braucht, der soll dafür bezahlen.“
Helikopter-Eltern und -Kids
Jene, die dafür noch nicht bezahlen können und die Wisch-Tools quasi mit der Muttermilch serviert bekamen, sind Kinder, denen die Langeweile fahrlässigerweise genommen wurde. Das geförderte Kind wird schnell zu einem überforderten Kind. Besonders in der gebildeten Mittelschicht, in der die Eltern immer älter werden, gilt ein Kind auch als Prestigeobjekt. Langeweile und Leerläufe sind im Alltag der Helikopter-Kids, deren Mütter und Väter mit Argusaugen gleichsam über ihrem Nachwuchs kreisen, nicht mehr vorgesehen. Helikopter-Eltern werden oft zu strengen Verwaltern der Freizeit ihres Nachwuchses: Kaum dem Windelalter entsprungen, müssen die Kinder schon einen dicht gedrängten Stundenplan abarbeiten und werden vom Cello-Unterricht zum Kiddy-Yoga und zurück chauffiert. Dabei wären Zeitfenster, in denen Kinder sich selbst überlassen sind und Fantasie und Improvisationsgeist zum Schwingen bringen können, für die Entwicklung und Adaptionsfähigkeit von essenzieller Bedeutung. „Kinder sind keine Fässer, die mit Wissen angefüllt werden können“, sagt der deutsche Neurowissenschafter Gerald Hüther: „Viele Eltern erliegen dem Irrglauben, dass die Gehirne ihrer Kinder wie Muskel trainiert werden können. Doch der tatsächliche Lernerfolg hängt von emotionalen Komponenten wie Begeisterung und Interesse ab.“
Beim Weltwirtschaftsforum in Davos im Jänner 2016 erregte die britische Entwicklungspsychologin Teresa Belton mit ihrem Vortrag „Warum Langeweile so wichtig für Kinder ist“ weltweites Aufsehen; ihre Thesen wurden tausendfach in den sozialen Medien geteilt. „Langeweile ist kein Defizit, sondern eine Gelegenheit“, sagte Belton: „Nur so kann der Geist eines Kindes flanieren lernen. Und nur mit einem vom ständigen Bombardement der Außenwelt immer wieder geschützten Geist können sich soziale Fähigkeiten und selbstständiges Vorstellungsvermögen entwickeln.“
Das Erlernen der Langeweile war auch eines der dringlichsten Anliegen des deutschen Philosophen Martin Heidegger in den 1920er-Jahren. Er pochte in seinen „Grundbegriffen der Metaphysik“ darauf, den Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung „lange Weile“ zu verstehen, und setzte ihn mit „einem Heimweh nach tiefem Philosophieren“ gleich. Das über Jahrhunderte so übel beleumundete Gefühl sollte als Ausgangspunkt für geistiges Flanieren, Gedankensprünge und neue Erkenntnisse dienen, die aus dem scheinbaren Nichts den Weg in das Bewusstsein finden.
Auch das größte Wunderkind der Kulturhistorie, Wolfgang Amadeus Mozart, entzog sich immer wieder den strengen Anforderungen seines Vaters, indem er sich besonders auf langen Reisen in ein Fantasieuniversum zurückzog, das er „das Königreich Rücken“ nannte. Am 13. Juli 1770 hielt er im Alter von 14 Jahren in seinem Tagebuch einen dieser Chill-Momente fest: „Gar nichts erlebt. Auch schön.“