Stempel auf der Stirn: Langläufer Johannes Dürr startet sein Comeback
An einem vorsommerlichen Mittwochabend sitzt Johannes Dürr in einem Park nahe des Wiener Hauptbahnhofs und erzählt vom Februar 2014. Bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi galt er als Medaillenanwärter für das Massenstartrennen über 50 Kilometer. Vor dem Start wurde der Langläufer positiv auf das Sauerstoff-Aufnahme-Dopingmittel EPO getestet – und sorgte für den sportlichen Skandal der Spiele. „Ich habe damals gedopt. Es ist nicht möglich, auf die Rückspultaste zu drücken und alles ungeschehen zu machen“, sagt Dürr: „Der Stempel ,Doping‘ brennt auf meiner Stirn, den werde ich nie wieder los. Ich kann mich aber auch nicht in Sibirien in einer Höhle verstecken. Ich will mich aus meinem eigenen Schlamassel herausziehen.“
Es ist ein hübscher Zufall, dass Lukas Klapfer, Sonnenbrille, dunkelgraues T-Shirt, in Sichtweite gerade seine Trainingsrunden dreht. Dürrs ehemaliger Teamkollege gewann dieses Jahr bei den Winterspielen im südkoreanischen Pyeongchang zwei Bronzemedaillen in der Nordischen Kombination. Es sind nur wenige Meter. Dennoch trennen die beiden Welten.
Langer Weg zurück ins Glück
Johannes Dürr, 31, hat es sich zum Ziel gesetzt, nach Abbüßung seiner zweijährigen Dopingsperre – und ohne Unterstützung des Österreichischen Skiverbands – bei der Nordischen Ski-WM im tirolerischen Seefeld 2019 im Mannschaftswettbewerb zu starten. Als Jugendlicher lief Dürr auf Augenhöhe mit späteren Weltmeistern, Weltcup- und Olympiasiegern wie Maurice Manificat, Alexej Poltaranin und Dario Cologna. Aber kann das sportliche Comeback nach tollkühnem Aufstieg und jähem Fall gelingen? „Der lange Weg zum Glück“ nennt sich der Arbeitstitel eines ziemlich einmaligen Projekts.
Gemeinsam mit dem Schriftsteller Martin Prinz wird Dürr seine erstrebte Rückkehr in den Spitzensport in einem Buch dokumentieren, das im Jänner 2019 im Berliner Suhrkamp Verlag erscheinen soll. Prinz kennt Dürr seit einem gemeinsam absolvierten Langlaufwettbewerb vor 18 Jahren im letzten Winkel Niederösterreichs. Prinz hatte damals die letzte Runde vor Erschöpfung ausgelassen. „Aufgeben gilt nicht!“, rief ihm der damals zwölfjährige Dürr aus dem offenen Mannschaftsbus zu. Die Geschichte ist zu schön, als dass sie nicht auch in „Der lange Weg zum Glück“ erzählt wird (Hier geht's zur Website des Projekts).
Prinz, 45, ist ein Schriftsteller mit hoher Affinität zum Sport. Er läuft seit über 30 Jahren Marathon; die Disziplin hat in seinem später verfilmten Buch „Der Räuber“ (2002) und in seinem soeben erschienenen, autobiografisch gefärbten Roman „Die unsichtbaren Seiten“ überdeutliche Spuren hinterlassen.
Für Dürr wäre es ein langer Weg zurück ins Glück. Ende November muss er sich bei den ersten FIS-Rennen in Österreich für den Europacup qualifizieren; erst gute Leistungen im Europacup ermöglichen es Dürr, im Weltcup zu starten; mit entsprechenden Ergebnissen könnte er sich dann für die Weltmeisterschaften nominieren.
Jeder verdient eine zweite Chance. Würde ich abermals als Gedopter überführt werden, wäre ich als Sportler und Mensch erledigt. (Johannes Dürr)
profil wird in den Monaten bis November über Dürrs sportliche Bemühungen, erneut zur Langlaufweltspitze aufzuschließen, auf www.profil.at in Abständen berichten (hier geht's zum Link). Es ist ein Experiment mit offenem Ausgang: Nur Dürr selbst weiß, ob es ein von Manipulation und Doping vollständig befreiter Weg sein wird. profil distanziert sich in aller Bestimmtheit von unerlaubter Leistungssteigerung und Sportbetrug.
„Früher dachte ich: Ich muss Höchstleistungen erbringen, egal wie“, zeigt sich Dürr einmal mehr reumütig. „Ich will nach wie vor Spitzenleistungen liefern. Aber nicht auf schmutzige Weise. Heute ist das Wie nicht mehr egal.“ Es ist keine Heroengeschichte, die in „Der lange Weg zum Glück“ erzählt wird. „Vielleicht kann ich anderen Mut machen: Man kann auch einmal hinfallen, Blödsinn machen – und sich wieder aufrappeln“, sagt Dürr. „Jeder verdient eine zweite Chance. Würde ich abermals als Gedopter überführt werden, wäre ich als Sportler und Mensch erledigt. Ich wäre juristisch, menschlich, sportlich am Ende. Ich hätte jegliches Vertrauen, das in mich gesetzt wurde, verspielt. Meine Geschwister und meine Mutter würden jedes Zutrauen in mich verlieren.“
Bravos und Buhrufe
Die Vorbereitung für Seefeld findet diesen Sommer statt. Bis 2014 führte Dürr das getaktete Leben eines Profisportlers; für die Weltmeisterschaft trainiert der in Innsbruck stationierte Zollbeamte vor Dienstantritt und nach Feierabend. „Das Thema Doping ist für mich erledigt. Auch die Verheißung eines Olympiasiegs durch Doping bekommt mich nicht mehr in diese Ecke. Mein Ziel ist es nicht, Weltmeister meiner Disziplin zu werden, sondern der vierte Starter in der österreichischen Staffel in Seefeld 2019.“ Er baut auf den Heimvorteil: „Auf der Loipe dort trainiere ich seit Jahren. Ich kenne jeden Meter.“
Aus der Teufelsspirale, in die sich Dürr 2014 freiwillig und in vollständiger Kenntnis des Strafbestands begeben hat, gibt es kein leichtes Entkommen: „Wenn ich bei zukünftigen Wettbewerben auf den hinteren Plätzen landen werde, wird es bald heißen: Aha, jetzt nimmt er nichts mehr! Laufe ich aber auf die vorderen Ränge, werde ich mir anhören müssen, dass ich wieder gedopt habe.“
Die Zuschauer vor den Fernsehgeräten sind fasziniert von Gelben Trikots und Spitzenzeiten. Sie schenken den Sportlern Bravos und Buhrufe. „Wir alle wollen begeistert und gefesselt werden. Wir wollen vor den TV-Geräten sitzen und ausrufen dürfen: ,Das gibt es ja nicht!’ Vom Sport fordert die Gesellschaft, dass es all das geben muss“, sagt Martin Prinz, der in den gemeinsam mit Dürr absolvierten Trainingseinheiten eher verzweifelt versucht, mit dem Athleten Schritt zu halten. „Die Sportler sollen mit unverfälschtem Körper ans Werk gehen. Die Körper von Hochleistungsathleten sind jedoch aufgrund des Trainings bereits in einer Weise entstellt, die von vornherein einer Fälschung gleichkommt. Das ist auch ohne Doping der Fall. Das soll Doping nicht entschuldigen, ist aber eine Tatsache. Beim Cirque du Soleil fragt sich kein Zuschauer im Zirkusrund, ob die Artisten in der Manege zur Regeneration bestimmte Mittel einnehmen. Der Sport muss aber mit diesem Dauerverdacht leben. Unsere Hochleistungsgesellschaft giert nach Hochleistungssportlern.“
Sport unter Leistungsbedingungen ist eine ständige Gratwanderung. (Martin Prinz)
Martin Prinz wagt sich weit vor; der Wahrheitsgehalt seiner folgenden Aussagen ist nicht zu überprüfen und mehr als zweifelhaft: „Die gesamte Weltspitze im Skilanglauf dopt. Es gibt so gut wie keinen Athleten unter den 30 Erstplatzierten auf der aktuellen Bestenliste, der nicht zu illegalen Substanzen greift. Die Frage lautet nur, wer als Nächster auffliegt. Viele dieser Spitzensportler haben bereits positive Proben abgegeben, sie werden nur allzu oft nicht veröffentlicht. Ganz abgesehen vom offenen Geheimnis, wie viele der entsprechenden Mittel über Nacht nicht mehr nachweisbar sind. Auffälligkeiten im Blutbild sind ebenfalls zuhauf zu finden. Strukturell wird jeder Läufer, der nicht dopt, immer nur erweiterte Weltspitze sein. Dauerhaft ins Spitzenfeld wird er nie vordringen. Gerade im Skilanglauf ist es dennoch nicht ganz ausgeschlossen, dass saubere Läufer Wettbewerbe für sich entscheiden können. Ausreißer sind immer möglich: Dem Athleten liegt die Loipe, er hat sich für das richtige Material entschieden. Gesamtweltcupsieger ohne Doping wird er aber nie werden.“
Der Sport lässt sich auch als gezielte Hervorbringung von Augenblicken beschreiben, die Wundern gleichkommen: das perfekte Fußballtor; der mustergültige Marathonlauf; das Herzschlagfinale beim Langlauf; der krachende Uppercut auf das Kinn des gegnerischen Boxers. „Sport unter Leistungsbedingungen ist eine ständige Gratwanderung“, sagt Prinz. „Feierabend- und Freizeitsportler haben oft keine Vorstellung davon, durch welches Dunkel an Schmerzen, Stress und Ungewissheiten sich die Profis im Training herantasten müssen.“ Die Ungewissheit im Fall Dürr bleibt. So oder so.