Die Spanische Wegschnecke treibt Hobbygärtnerheuer besonders hartnäckig in den Wahnsinn. Allerdings kann das Schneckenjahr 2024 auch Anlass sein, diese faszinierenden Tiere ausnahmsweise einmal zu würdigen.
Unter einer beachtlichen Linde am südlichen Stadtrand von Wien steht der Schneckenzüchter und hält Hof. Andreas Gugumuck erzählt von seinen Tieren, es sind insgesamt gut 300.000, und er muss weit ausholen. Er beginnt also vor ungefähr 600 Millionen Jahren, als sich die ersten Schnecken in den Urmeeren entwickelten, rast dann im Rennschneckentempo durch die gemeinsame Evolution von Homo sapiens und Mollusken (die den frühen Menschen eine wichtige, weil leichter als zum Beispiel ein Mammut einzufangende Proteinquelle waren und damit einen wesentlichen Beitrag zur weiteren Menschwerdung leisteten) – und landet bald beim römischen Kochbuchautor Apicius, den schneckenlastigen Fastenspeisen des katholischen Mittelalters und bei der großen Altwiener Tradition des Schneckengerichts. Und genau da will Gugumuck wieder hin, gegen etliche Widerstände übrigens.
In der „Gartenbar“ seiner Schneckenfarm lässt der Landwirt und Unternehmer neben den klassisch mit Kräuterbutter gratinierten Weinbergschnecken auch Flammkuchen mit geräucherten Schnecken, gebackene „Snails and Chips“ und eingelegte Rumschnecke auftragen, gegen Voranmeldung sogar siebengängige Schnecken-Menüs, die zusätzlich Delikatessen wie Schneckenkaviar und Schneckenleber (die ein bisschen nach Haselnuss schmeckt) umfassen.
„Als Schnecken-Start-up startest du ein Projekt, das keiner braucht. Es gab damals keinen Markt dafür, in Österreich sind mindestens eineinhalb Generationen ohne kulinarische Schneckenerfahrung aufgewachsen.“
Andreas Gugumuck
Schneckenzüchter
Gugumuck hält in seiner Schneckenzucht die kleinen, gefleckten Weinbergschnecken (Cornu aspersum) und die größere heimische Variante (Helix pomatia). Die Tiere wachsen unter Holzbrettern zur Genussreife, werden mit Mangold, Karotten, Salat und Getreideschrot gefüttert – und wenn 300.000 Schnecken mit ihren Raspelzungen (Rabula) an Suppengemüse schaben, ja, dann kann man das sogar hören, meint der Schneckenbauer, wobei es dafür wahrscheinlich ruhiger sein muss als an diesem Samstagmittag.
Gugumuck hat nach einer Karriere in der Softwareentwicklung 2008 mit seiner Schneckenzucht begonnen, wider jede unternehmerische Vernunft: „Als Schnecken-Start-up startest du ja ein Projekt, das keiner braucht. Es gab damals keinen Markt dafür, in Österreich sind mindestens eineinhalb Generationen ohne kulinarische Schneckenerfahrung aufgewachsen.“ Bei seinen ersten Messe-Auftritten hätten die Leute auch konsequent einen Bogen um seinen Stand gemacht, also griff er zu einem Trick und bot Schnecken im Speckmantel an, „als Türöffner“, denn „das Wichtigste ist der erste Bissen, mit dem die Sperre, die viele Leute im Hirn haben, überwunden wird“.
Nacktschneckenalarm
Errichtet haben diese Sperre wohl weniger die Weinbergschnecken, die in Österreich unter Naturschutz stehen, als ihre Artverwandten, die Spanischen Wegschnecken (Arion vulgaris), die zwar eher nicht aus Spanien stammen, aber seit ihrer massenhaften Verbreitung in Österreich seit den 1970er-Jahren (erstmaliger Nachweis durch den Schneckenforscher Peter Reischütz 1972) eine regelrechte Schneckensherrschaft in heimischen Gemüsekulturen errichtet haben.
Kulinarisch sind die Spanischen Wegschnecken leider völlig uninteressant, weil ihre ungenießbaren Innereien nicht wie bei Gehäuseschnecken fein säuberlich vom Muskel getrennt, sondern nach innen verlagert sind.
Kulinarisch sind diese Nacktschnecken leider völlig uninteressant, weil ihre ungenießbaren Innereien nicht wie bei Gehäuseschnecken fein säuberlich vom Muskel getrennt, sondern nach innen verlagert sind. Und weil sie zwecks Abwehr einen auch für nichtmenschliche Fressfeinde sehr unangenehmen, besonders zähflüssigen Schleim produzieren. Außerdem vermehren sie sich prächtig (bis zu 500 Eier pro Generation), haben, sobald ausgewachsen, kaum natürliche Feinde und einen erstaunlich großen Bewegungsradius, halten direkte Sonneneinstrahlung relativ gelassen aus und fressen am liebsten frische Pflanzenbestandteile (während die meisten Gehäuseschnecken abgestorbenes und welkes Grünzeug bevorzugen). Zwei relativ feuchte Jahre hintereinander haben den heimischen Schneckenpopulationen gute Startvoraussetzungen besorgt, auch Arion vulgaris ist heuer entsprechend am Vormarsch, was Salatbeetbesitzer hochgradig frustriert.
„Zum Schädling aus anthropozentrischer Sicht wird die Schnecke erst im Gemüsegarten oder am Acker. Dort sind Nacktschnecken tatsächlich klar häufiger als Gehäuseschnecken“, sagt Thomas Frank, Vorstand des Instituts für Zoologie an der Wiener Universität für Bodenkultur. Von den über 400 in Österreich vorkommenden Schneckenarten sind freilich die allermeisten Gehäuseschnecken, neben Weinbergschnecken kommen hier etwa auch Sumpfdeckelschnecken, Federkiemenschnecken, Schnauzenschnecken, Tellerschnecken, Blasenschnecken, Turmdeckelschnecken, Tönnchenschnecken, Kornschnecken, Windelschnecken, Vielfraßschnecken, Schließmundschnecken, Glasschnecken, Schüsselschnecken und Punktschnecken vor. Der Zoologe Frank hat vor Jahren an der Uni Bern über Nacktschnecken als Agrarschädlinge geforscht: „Wir haben verfolgt, wie sich Nacktschnecken, die wir mit flüssigem Stickstoff zur Markierung bestempelt haben – ja, das halten sie aus – von Brachen in danebenliegende Rapsfelder bewegt und in dem betroffenen Streifen einen Totalausfall an Raps bewirkt haben.“ Das Forschungsprojekt erkundete auch Gegenstrategien; als konkurrenzlos effektiv erwies sich eine 50 Zentimeter schmale Barriere aus dem (leider nicht nur für Arion vulgaris hochtoxischen) Schneckenkorn. „Man kann auch natürliche Fressfeinde hegen, Laufkäfer etwa, die allerdings nur kleine Schnecken und solche, die sich an der Oberfläche befinden, erwischen.“ Auch ein Schneckenzaun sei eine gute Barriere, solange die Schnecken nicht zu groß sind; Laufenten als klassische Schneckenvertilger hätten den Nachteil, dass sie selbst auch junge Pflanzen schätzen. Daher müsse man sie vor der Ansaat neuer Pflanzen von der Fläche entfernen. Ablenkpflanzen, die für die Schnecken noch attraktiver sind als Salat – etwa Löwenzahn, Vogelmiere oder Hirtentäschel – können effektiv sein, wenn der Schneckendruck noch nicht zu groß ist. „Insgesamt wäre es ideal, in Siedlungsräumen möglichst viele und vielfältige Habitate einzurichten, Hecken, Wiesenstreifen oder Brachflächen, um mit hoher Biodiversität dafür zu sorgen, dass viele verschiedene Schneckenarten überleben können“, sagt Frank.
Überhaupt hat der Mensch eine einigermaßen widersprüchliche Haltung zu den Bauchfüßern: Im Mittelalter stand die Schnecke symbolhaft sowohl für die Todsünden der Wollust und der Trägheit, gleichzeitig aber, durchwegs ins Göttliche gewendet, auch als Symbol der unbefleckten Empfängnis und damit der Jungfrau Maria.
Ähnlich sieht es der aus dem ORF bekannte Biogärtner Karl Ploberger: „Ich habe gerade wieder ein paar Stück eingeklaubt, aber es hält sich bei mir wirklich in Grenzen, weil ich im Garten nicht penibel alles aufräume, sondern auch wilde Ecken zulasse, in denen sich Laufkäfer, Igel und andere Schneckenfeinde wohlfühlen.“ Von den klassischen Hausmitteln gegen Schneckenplagen – Bierfalle, Kaffeesatz, Eierschalen – hält er wenig, diese wirken entweder gar nicht oder seien sogar kontraproduktiv, denn „ein Garten ist ein komplexes System, da kommt man mit Einzelmaßnahmen nicht weit.“ Im Zweifel sei regelmäßiges Absammeln das Mittel der Wahl, „dafür kann man an neuralgischen Stellen kleine Holzbretter ablegen, unter denen sich die Schnecken sammeln. Dort kann man sie dann einfach abklauben.“ Die Beute sei am besten mit kochendem Wasser zu überbrühen, der dabei entstandene Sud könne auf den Kompost ausgebracht werden.
Fluide Sexualität, beharrliche Entschleunigung
Die zoologische Klassifikation der Gastropoden, griechisch für Bauchfüßer, aus dem Stamm der Weichtiere, ist historisch verworren. Der Stamm umfasst weltweit bis zu 100.000 Arten, von denen die meisten im Wasser leben. Die Schnecke kam aus dem Meer zum Menschen. Laut einem Schöpfungsmythos der Südseeinsel Nauru war die Erde zunächst eine Riesenmuschel, die von zwei Schnecken bewohnt war. Eine davon wurde zum Mond, eine zur Sonne. Im Alten Testament wurde die Schnecke als unreines Tier gebrandmarkt, als katholische Fastenspeise aber trotzdem sehr gern im Umfeld mittelalterlicher Klöster gezüchtet (protestantische Gegenden sind traditionell eher keine schneckenverzehrenden Regionen).
Überhaupt hat der Mensch eine einigermaßen widersprüchliche Haltung zu den Bauchfüßern: Im Mittelalter stand die Schnecke symbolhaft sowohl für die Todsünden der Wollust und der Trägheit, gleichzeitig aber, durchwegs ins Göttliche gewendet, auch als Symbol der unbefleckten Empfängnis und damit der Jungfrau Maria. Dies deshalb, weil man seit der griechischen Antike annahm, dass Schnecken ohne sexuellen Fortpflanzungsakt aus sich selbst heraus Nachkommen erzeugen können. Das ist nicht ganz richtig, aber tatsächlich sind die sexuellen Vorlieben der Schnecke durchaus speziell. Landschnecken haben in der Regel männliche und weibliche Geschlechtsorgane. Die Paarung der Weinbergschnecke ist ein stundenlanger, komplexer Vorgang, bei dem unter anderem auch „Liebespfeile“ zur Übertragung von Sexualhormonen zum Einsatz kommen und die Begattung wechselseitig erfolgt – bei dem Paarungsakt sind beide beteiligten Tiere männlich wie weiblich aktiv (andere Schneckenarten bestehen auf Einwegbegattung, wobei die Beteiligten ihre Rolle teils situationselastisch einnehmen; teils ändern Schnecken auch ihr Geschlecht im Lauf ihres Lebens). Der Kulturwissenschafter und Autor Florian Werner schreibt in seiner empfehlenswerten Monografie „Schnecken“ (in der Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz): „Durch ihre schiere Existenz hinterfragen die Schnecken unser Verständnis von Identität, Familie, Gesellschaft. Sie sind fleischgewordene, kriechende Heteronormativitätskritik.“
Welche Majestät in einer kriechenden Schnecke, welche Überlegung, welcher Ernst. Gewiss, eine Schnecke ist ein erhabenes Symbol des tief im Innern schlummernden Geistes.
Lorenz Oken
Naturphilosoph
Nicht weniger zeitgemäß erscheint auch die buchstäbliche wie symbolische Langsamkeit, die die Schnecken dem Menschen signalisieren. In ihrer unerschütterlichen Beharrlichkeit hat die Schnecke tatsächlich das Zeug zum Leitmotiv unserer Ära, indem sie dem Diktat der Beschleunigungsgesellschaft widerspricht, Einspruch erhebt gegen soziale und ökonomische Tempovorgaben und offenbar immer ganz bei sich ist, ohne erkennbare Ablenkung oder Zerstreuung. Florian Werner zitiert den Naturphilosophen Lorenz Oken: „Welche Majestät in einer kriechenden Schnecke, welche Überlegung, welcher Ernst. Gewiss, eine Schnecke ist ein erhabenes Symbol des tief im Innern schlummernden Geistes.“ Die seit den 1960er-Jahren im englischen Congham abgehaltenen „World Snail Racing Championships“ sind ganz in diesem Sinne als kontemplativ-ironischer Zeitvertreib zu betrachten.
In der antiken Säftelehre war der Schleim – nicht nur der Schnecken – ein Zeichen für das phlegmatische Temperament, heute dient der Schleim mancher Gehäuseschnecken als kosmetischer Wirkstoff. Schon bei Plinius dem Älteren ist verzeichnet, wofür sich Gastropoden medizinisch einsetzen lassen: gegen Kopfschmerzen seien die Köpfe von Schnecken zu zerreiben und auf die Stirn zu streichen; bei Erkrankungen der Augen möge man die Tiere lebendig verbrennen und die Asche mit Honig als Salbe auftragen, außerdem hülfen Schnecken – oral eingenommen – gegen Husten, Schnupfen, Schwindel, Menstruationsbeschwerden, Wahnsinn sowie Ohnmachtsanfälle.
Wer die Weichtiere in ihrer ganzen faszinierenden Vielfalt erleben will, kommt um Anita Eschner nicht herum. Die Zoologin leitet die Molluskensammlung des Wiener Naturhistorischen Museums und präsentiert mit ansteckender Begeisterung ihre malakologischen Schätze, die teils 250 Jahre alt sind: Schneckengehäuse aus der Sammlung von Kaiser Franz I. Stephan, aber auch Mollusken neueren Datums; insgesamt umfasst die Sammlung bis zu eine Million Exemplare, was aber ehrlich gesagt nur eine Schätzung darstellt, weil die digitale Aufarbeitung noch Jahre dauern wird. Rund 200.000 Einträge sind aktuell digital datenbankfest.
Schneckengeld und Nervengift
Anita Eschner leidet darunter, dass Schnecken so oft nur „unter dem Fokus der Schadproblematik“ betrachtet werden. Dabei hätten diese Tiere so viel Faszinierendes zu bieten. „Allein ihre Bandbreite ist gewaltig, die Weichtiere sind nach den Insekten der artenreichste Stamm der Tierwelt. Entsprechend gibt es eine unglaubliche Vielfalt der Lebensräume, von den unwirtlichsten Regionen der Tiefsee bis in alle Landregionen. Nur die Luft haben sie nicht erobert. Dafür können sie sich aber an ihren Schleimfäden abseilen, wenn nötig.“ Überhaupt gelte, so Eschner: „Der Schleim ist das Highlight. Er schützt vor Feinden und vor Austrocknung, hilft als Gleitmittel bei der Fortbewegung, kommt beim Paarungsakt und bei der Wundheilung zum Einsatz.“ Eschner erzählt von den Cauri-Schnecken, die im Südpazifik jahrhundertelang als Zahlungsmittel zum Einsatz kamen, von der letzten verbliebenen Perlmuttmanufaktur im Waldviertel, die bis heute aus Muschel- und Schneckenschalen Perlmuttknöpfe stanzt, und von den Giftpfeilen mancher maritimer Kegelschneckenarten, die ein potentes Nervengift verbreiten, das in der medizinischen Forschung gerade ein wichtiges Thema wird. Weinbergschnecken seien in Europa übrigens wohl als „Konservennahrung“ römischer Legionäre verbreitet worden: In der Trockenstarre können die Tiere relativ wartungsfrei Wochen, ja Monate überstehen.
Schöner freilich sind sie in Aktion, dazu ein Auszug aus Erwin Mosers Kinderbuchklassiker „Der Tigerkäfer“: Liebesbrief eines Mistkäfers an eine (leider ausgesprochen hochnäsige) Weinbergschnecke: „Du bist das schönste Wesen, das ich je erblickte. Dein schlanker Leib, deine zarten Fühler und zärtlichen Augen, dein unvergleichliches Schneckenhaus … zwei Tage lang hatte ich das unbeschreibliche Glück, dir auf deinem Weg über den Zaun zuzusehen …“