Laurie Penny: „Die Kernfamilie ist wirklich eine lächerliche Idee“

Laurie Penny, 35, gilt als die zornigste und radikalste Feministin ihrer Generation. Ein Zoom-Interview über Sexismus, Gender und Rihannas Schwangerschaftskult.

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profil: Natürlich bleibt es uns nicht erspart, über Will Smiths Ausbruch bei den Oscars zu reden.

Penny: Müssen wir das wirklich? Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass zu diesem Thema alles gesagt wurde.

profil: Dennoch erzählt der Vorfall auch viel über die oft zitierte toxische Männlichkeit. Warum sind heute so viele Männer, die verstärkt von feministischen Müttern großgezogen wurden, in der Krise, was ihren Selbstwert betrifft?

Penny: Hören wir bitte auf, die Mütter für alle Probleme, die Männer haben, zur Verantwortung zu ziehen. Diese Gesellschaft gibt Müttern ohnehin viel zu wenig Unterstützung für ihre Arbeit. Es ist ein interessantes Phänomen: Wirtschaftskrisen werden immer als
Bedrohung des männlichen Selbstverständnisses betrachtet. Von den Frauen und den Schwulen, die diese letzte Rezession viel härter getroffen hat, spricht niemand. Dann ist es plötzlich kein soziales Problem.

profil: Jobs sind für Männer bedeutend für ihren Selbstwert; der Jobverlust ist weitaus mehr als bei Frauen Auslöser für Depressionen, auch Suizid, der bei Männern generell fünf Mal so hoch ist.

Penny: Was auch damit zu tun hat, dass Männer darauf konditioniert sind, im Besitz der Vorherrschaft zu sein. Dieses Gefühl und die Erwartungen, die damit verbunden sind, wirken für Männer auch sehr einengend. Wenn diese „white supremacy“ aus der Balance gebracht wird, werden dann sehr schnell Sündenböcke gesucht: Frauen, Immigranten, das Bildungssystem. Der Rechtsextremismus bietet Zuflucht. Wenn hingegen Frauen der Zugang zur Bildung verwehrt wird, ist das kein soziales Problem. Ich kenne aber eine Menge Männer, die diesen Bullshit nicht mehr schlucken, sondern eine bewundernswerte Kraft entwickeln, sich selbst in die Verantwortung zu nehmen. 

profil: Sie nennen Ihr neues Buch „Sexuelle Revolution“, die stark mit dem #MeToo-Erdbeben, das 2017 begann, in Zusammenhang steht. Sind die Konsequenzen intensiv genug?

Penny: Das #MeToo-Movement ist nichts als ein Symptom dieser sexuellen Revolution, es hat sie nicht ausgelöst, und sie ist auch noch lange nicht zu Ende. Die sexuelle Revolution ist weit größer. Da geht es nicht nur um so wichtige Debatten wie über Einvernehmen und sexuelle Belästigung, sondern auch um Geschlechtsidentitäten, die Definition von Missbrauch, die neuen gesellschaftlichen Standards, die für sexuelles Verhalten gelten, Kapitalismus und Sexismus, aber auch das Konzept von Elternschaft.

profil: Das Konzept der Kernfamilie scheint angesichts der Statistiken in den letzten Zügen zu liegen. 

Penny: Die  Kernfamilie war und ist ohnehin eine lächerliche Idee und eine komplette Lüge. Der Zusammenbruch des Kapitalismus 2008 hat uns ganz deutlich gezeigt, dass dieses System nicht mehr funktioniert. Gender-Politik und Wirtschaft sind untrennbar miteinander verbunden. Viele Menschen können sich Kinder ganz einfach nicht mehr leisten. Ein Kind mit nur einem Einkommen großzuziehen, ist nahezu nicht machbar, das beobachte ich auch in meinem nächsten Umfeld. Die Mittelschicht, der ich selbst angehöre, bekam die Erwartungen, mit denen sie ins Leben geschickt wurde, nicht erfüllt. Ich bin 35, habe 2007 meinen Uni-Abschluss gemacht und habe inzwischen drei Jobs, um mir irgendwann ein Haus in London kaufen zu können. Aber auch nur deswegen, weil einer ein hoch bezahlter Hollywood-Job ist, ich schreibe für TV-Serien. Wenn du nicht ein solches Einkommen oder eine entsprechende Erbschaft hast, kannst du eine gesunde Wohnsituation, zumindest in London, vergessen.

profil: Sie wären aber in der privilegierten Situation, sich ein Kind leisten zu können?

Penny: Und ich bin auch in diesem bestimmten Alter.

profil: Wo das Ticken der biologischen Uhr lauter wird?

Penny: Das mit der biologischen Uhr ist eine sexistische Denke. Ich bin sehr schmal gebaut und
der Überzeugung, dass ich eine Geburt nicht überleben würde. Die Natur hat mich nicht dafür
designt. Ich habe einfach keine Lust, die erste tragisch verstorbene Frau in der Biografie eines Mannes zu werden. Außerdem sind Kinder unfassbar viel Arbeit, das schreckt mich ab. Ganz simpel: Ich möchte es einfach nicht machen.

profil: Eine Erklärung, die für viele irritierend ist.

Penny: Natürlich. Darüber sollen Frauen nicht reden, wo die Natur sie doch für die Mutterschaft bestimmt hat. Und wenn sie Fehlgeburten erlitten haben, sollten sie am besten auch darüber schweigen. Die Arbeit, die Mütter leisten, bleibt noch immer viel zu wenig sichtbar, sie würde allen unseren Respekt verlangen.

profil: Popstars wie Rihanna zelebrieren ihre Schwangerschaft wie einen Kult. Ist das eine Form von Backlash?

Penny: Keinesfalls. Sie tut es doch mit ihren Auftritten nach Art einer Königin. Ich halte dieses Zelebrieren des Babybauchs in Rihannas oder Beyoncés Fall für besonders wichtig. Denn schwarzen Frauen, vor allem Immigrantinnen, demonstrierte die Gesellschaft immer, dass sie sich für die Geburt ihrer Kinder besser genieren sollten. Rihanna könnte sich aber zehn gut gebaute Knaben leisten, die ihr jeden Morgen den Bauch massieren. Und Beyoncés Kind hat wahrscheinlich schon eine eigene Modelinie.

profil: Sie erzählen in Ihrem Buch auch über eine Vergewaltigung, die Sie in einem Hotelzimmer erleben mussten, von toxischen Beziehungen, in denen Sie abgewertet wurden. Waren das Auslöser für Ihre Arbeit?

Penny: Es gab kein spezifisches Erlebnis, das mich getriggert hat, feministisch aktiv zu werden, es sind einfach diese ewig wiederkehrenden Muster, die ich bewusstmachen möchte. Viele Menschen sind oft viel zu lang in Beziehungen geblieben, die sie unglücklich machten. Da rede ich gar nicht von Missbrauch, sondern nur von Unglück. Aber wir sind schon viel weiter als noch eine Generation zuvor, was zum Beispiel das Konzept von Geschlechtsidentitäten betrifft. 

profil: Sie bezeichnen sich als „genderqueer“ und leben in einer offenen, polyamourösen Beziehung. Was genau bedeutet genderqueer?

Penny: Ich finde es sehr erfrischend, dass Sie das fragen. Die meisten tun so, als ob ihnen das ohnehin alles sehr klar wäre.

profil: Die Varianten von Geschlechtsidentität oder eben Nicht-Identität sind manchmal etwas verwirrend. Ich muss da dann oft meine Tochter fragen.

Penny: All diese Bezeichnungen sind doch nichts anderes als ein Zeichen dafür, dass Menschen eine Sprache für ihre Gefühle finden wollen.

profil: Und was sind Ihre Gefühle?

Penny: In meinem Fall identifiziere ich mit dem Konzept Frau nicht auf der privaten Ebene, ich bezeichne mich aber als Frau, weil die Gesellschaft und der Staat mich als solche sieht. Mein Frausein ist also politisch.

profil: Im Sinne des Simone-de-Beauvoir-Sagers, dass ein Mensch nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht wird?

Penny: Genau. Ich möchte aber auch gerne als „they“ bezeichnet werden, also non-binär. Sprache macht sehr viel aus. Die Menschen behandeln dich anders.

profil: Mit mehr Respekt?

Penny: Vielleicht. Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass es uns allen angenehmer wird, unangenehm zu sein.

profil: Wie lange leben Sie schon in einer offenen Beziehung?

Penny: Seit 13 Jahren. Es hat einfach damit zu tun, dass füreinander zu sorgen und Sexualität zu leben, für mich unterschiedliche Dinge sind.

profil: Auf Ihrem neuen Pressefoto stylen Sie sich wie ein etwas arroganter Punk-Knabe.

Penny: Lustig, dass Sie das sagen. Das war eigentlich als Parodie gedacht. Ich wollte mich so Jonathan-Franzen-mäßig zeigen: Denkerpose, bedeutungsschwer, der klassische Chauvi-Schriftsteller. Aber meine Freundinnen fanden, dass dieses Foto das beste ist, das je von mir gemacht wurde.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort