Quer durch alle Lager präsentieren dort auch Politiker:innen im Jopperl oder Dirndl-Outfit bierselige Volksverbundenheit: vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen bis zum Kanzler Karl Nehammer, dessen Fähigkeit, im „Zölt“ ein Krügel Bier in einem Zug auszutrinken, viral ging. In einem Ausnahmezustand der kollektiven Enthemmung befindet sich die Bevölkerung des Salzkammerguts sonst nur zur Zeit des Faschings; wo in der Ausseer Region die promillegeladenen „Trommelweiber“ (Männer in Nachthemden) mit Schlagwerk und dem Willen zur Anarchie johlend von einem Wirtshaus zum anderen ziehen.
Das Authentizitäts-Gestreber der zweitheimischen „Wearner“, die ihre Forsthäuschen und Eichkatzl-Villen mit Fleckerlteppichen, Blaudruckvorhängen, Tonkrügen mit Wiesenblumen, Hinterglas-Heiligenbildern, Jausenbrettln, Gmundner Keramik und sündteuren Holzherden im Nostalgielook dekorieren, belustigt die regionale Bevölkerung, manchmal mischt sich in das Amüsement auch etwas Mitleid, ebenso allerdings ein Schuss Verachtung. „Die tuan sie halt so viel gern verkleiden“, kommentiert eine alteingesessene „Dåsige“ das Bemühen um bäuerliche Authentizität seitens der Städter.
Thomas Bernhard lässt eine Figur in seinem Stück „Elisabeth II.“ zetern: „Ich verstehe gar nicht, dass es Leute gegeben hat, die sich freiwillig in Altaussee angesiedelt haben / Schriftsteller, Komponisten, Komödianten / dieses ganze Gesindel hat sich dort angekauft / Kaum haben die Leute Geld / kaufen sie sich diese alten scheußlichen Häuser / gehen in Dirndlkleidern herum und in Lederhosen.“ Soziologen und Anthropologen betreiben seit geraumer Zeit Ursachenforschung für den verstärkten Drang nach Ursprünglichkeit, Brauchtum und Heimatliebe, der sich mit einer „Veränderungserschöpfung“ (so der deutsche Schriftsteller Jan Weiler), mit wachsender Verunsicherung und der Sehnsucht nach Nostalgie und Geborgenheit erklären lässt. Die wachsende Xenophobie und der aus dem rechten Lager befeuerte Nationalismus tragen einen wesentlichen Teil dazu bei, dass „die Gesinnungen kernhafter, spröder und kleinhorizontiger geworden sind“, wie der Publizist Anton Kuh 1922 in seinem Essay „Wien am Gebirge“ in weiser Vorahnung kommentierte. „Die Politik trägt Berg- und Almluft herein, holzigen Scheunenhauch.“
Historisch belastet
Das historisch belastete Image der Tracht scheint heute wie weggeblasen. Denn schon in der Zeit zwischen den Weltkriegen verlangte man in Trachtenvereinen „die Echtheit des Trägers“, was ein wenig subtiles, antisemitisches Statement war. Im Salzkammergut wurde 1938 den österreichischen Juden, diesen „volksfremden Elementen“, das Tragen von „Lederhosen, Joppen, Dirndlkleidern, weißen Wadenstutzen, Tirolerhüten usw.“ verboten. Zu lange schon hätte man es hingenommen, dass „das Dirndl – etwa in Bad Ischl – geradezu als jüdisches Nationalkostüm erschien“, geiferte damals der Salzburger Polizeipräsident. Die jüdischen Intellektuellen und Künstler, die das Prinzip Sommerfrische ab dem Ende des 19. Jahrhunderts zelebrierten, hatten es geliebt, sich in schlichter Ländlichkeit zu inszenieren. Es war Teil ihrer Assimilierungsbemühungen, genau wie das Konvertieren zum Katholizismus. Zahlreiche historische Fotos von Sigmund Freud, Theodor Herzl oder Hugo von Hofmannsthal dokumentieren diese spielerische Hingabe zur alpinen Folklore.
Für die langjährigen „Zweitheimischen“ ist eine Dependance im Salzkammergut heute oft Teil des Wohlstandsbeweises und eine Art Lifestyle-Trophäe. Je offenkundiger die Anstrengung jedoch ist, zu den Einheimischen zu gehören und den Eindruck zu erwecken, schon immer hier gewesen zu sein, desto mehr entfernt man sich vom angestrebten Ziel. Gemäß der berühmten Anekdote des Publizisten Alfred Polgar, der einem Kaffeehausbesucher, der dort immer in makelloser Reitkleidung erschienen war, um die Illusion eines Landgrafen zu erwecken, den Satz zugeworfen haben soll: „Ich hab ja auch kein Pferd, aber so kein Pferd wie der Soyka hab ich nicht.“
„Manche Wiener verkleiden sich bei uns wie Kasperln“, erklärt der „Salzbaron“ und ehemalige Finanzminister (unter Bruno Kreisky) Hannes Androsch, der schon als Kind mit seinen Eltern hierher in die Sommerfrische fuhr und dessen Luxus-Kuranstalt „VIVAMAYR“ Altaussee auch der internationalen Jetlag-Society erschlossen hat. „D’Moss Kate“ und die „Tyler Liv“ waren schon da, wie eine ehemalige Angestellte aus dem Nähkästchen plaudert, auch Cherie Blair, Anwältin und Frau des britischen Ex-Premierministers Tony Blair, fastete an jenem Ort. Der Trachtenhandel in Bad Aussee profitiere ebenso von der neuen Klientel und erfreue sich regen Umsatzes, so eine Verkäuferin: „Denn die Verschleierten“, so die Bezeichnungen der Kurgästinnen aus dem arabischen Raum, „kaufen brav Dirndln, die’s halt dann unter ihrem eigenen G’wand tragen.“
Problematische Symbiose
Genauso gelassen wie die Ausseer der Prominenzdichte in ihrer Region begegnen, so ungerührt bleiben sie auch angesichts der glosenden Aufregung um den neuen Status der Kulturhauptstadt des gesamten Salzkammerguts (insgesamt 23 Gemeinden). Kurzfassung: „Ja, mei, wenn s’ meinen …“
„Wir sind eben ein Herrenvolk“, erklärte der langjährige und inzwischen verstorbene Altausseer Bürgermeister Karl Moser die Psyche seiner Bevölkerung, „stolz und unbestechlich.“
Da die Symbiose, die die Bewohner des Salzkammerguts, egal ob in Goisern, Ischl, am Atter- oder Traunsee oder eben im steirischen Teil (Bad Aussee, Altaussee, Grundlsee), seit noch nicht ganz, aber fast zwei Jahrhunderten mit den „Großkopferten“ aus der Hauptstadt, den Sommerfrischlern und – ja, die muss es leider auch geben – den Tagestouristen eingegangen sind, so lukrativ ist, duldet man die „net von då“. Mit der Übersiedlung des Kaiserhofs nach Bad Ischl, der bevorzugten Sommerresidenz des jagdbesessenen Franz Joseph, waren die Aristokratie, das Großbürgertum und in Folge auch die Künstlerkarawane, allen voran die „Dichterlinge“ (© Joachim Ringelnatz), ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in die von „amoralischer Lieblichkeit“(Hermann Broch) geprägte Gebirgs- und Seenlandschaft rund um das neuralgische Habsburger-Machtzentrum gepilgert. Die alteingesessenen Salzkammergut-Bewohner und -Bewohnerinnen sind also mit nahezu genetischer Vorbelastung daran gewöhnt, manchmal auch davon genervt, in den Sommermonaten mit einer hohen Dichte von ländlich ambitionierter Prominenz aus Kunst, Wirtschaft und Politik auf Tuchfühlung zu gehen.
Von Thomas Bernhard, Stammgast in Gmunden, in dessen Ohlsdorfer Vierkanthof in der Küche ein nie benutzter, teurer Bauernherd stand und dessen gesamtes Interieur von edler Bäuerlichkeit und ein Understatement war, existieren ebenfalls einige Fotos in Lederhosen, Stutzen und Jopperl. In seiner Abrechnung „Holzfällen” lässt er den Erzähler über „dieses nach Landluft schnappende Stadtgesindel“ schimpfen, das sich seinem Spleen hingebe, sich wie „steirische Grafen“ zu benehmen.
Es ist typisch Bernhard, dass er selbst ein wenig zu dieser soziologischen Spezies zählte.