Legendäre Kriminalfälle: Der große Postzugraub
Tat
8. August 1963, England. Ein Postzug der britischen Royal Mail wird bei Ledburn (Grafschaft Buckinghamshire) durch zwei manipulierte Rot-Signale zum Stehen gebracht. Als der Zugführer Jack Mills die Wagons anhält, stürmen maskierte Männer die Lokomotive und schlagen ihn mit einer Eisenstange k.o.. Die Bande koppelt die Lokomotive und den Packwagen mit den Geldsäcken vom Rest des Zuges ab und versucht, die beiden Wagons zu einer 1200 m entfernten Brücke zu manövrieren, wo mehrere Fluchtwägen bereit stehen, in die das Geld geladen werden sollte. Da der - von der Bande angeheuerte pensionierte Zugführer - mit der neuartigen Lokomotive nicht zurecht kommt, wird Mills wachgerüttelt und gezwungen, den Zug in Bewegung zu setzen.
Bei der Brücke angekommen, überwältigen die Räuber drei weitere Wachmänner im Wagon mit dem Geld und laden alle 128 Postsäcke in die Fluchtfahrzeuge um. Daraufhin fährt die Bande (nach heutigem Erkenntnis-Stand waren zumindest 16 Personen an dem Raub beteiligt) zu ihrem 40 Kilometer entfernten Versteck auf einem abgelegenen Bauernhof und teilt die Beute auf.
Der minutiös geplante Überfall klappte nahezu perfekt und wurde ohne den Gebrauch von Schusswaffen vollzogen. Bis auf leichte Verletzungen kamen keine Menschen zu Schaden - der Zugführer Jack Mills wurde durch den Überfall jedoch traumatisiert und musste seinen Beruf aufgeben. Insgesamt gelang es der Bande, 2.631.684 Pfund (nach heutigem Wert etwa 57 Millionen Euro) zu erbeuten.
Nachspiel
Anführer der Räuber war der damals 32-jährige Bruce Richard Reynolds. Außerdem gehörten Douglas Gordon Goody, Charles Frederick Wilson, Ronald "Buster" Edwards und Brian Arthur Field zum logistischen Kern der Bande. Ronald "Ronnie" Biggs, der schließlich zum medialen Aushängeschild des Coups werden sollte, war lediglich für die Rekrutierung des Ersatz-Zugführers verantwortlich.
Die polizeilichen Ermittlungen in dem Fall verliefen zunächst schleppend. Am fünften Tag gelang der Exekutive jedoch ein Durchbruch, als der (mittlerweile verlassene) Unterschlupf der Bande auf dem Bauernhof entdeckt und zahlreiche Fingerabdrücke sichergestellt werden konnten. Innerhalb weniger Monate wurden zwölf der Räuber verhaftet und 1964 - im Zuge des bis dahin längsten Prozesses der britischen Justizgeschichte - zu teils drakonischen Haftstrafen verurteilt. Anführer Bruce Reynolds (Verhaftung 1968, Entlassung 1978, Tod (Leukämie) 2013) und Ronald Edwards (Verhaftung 1966, Entlassung 1975, Tod (Selbstmord) 1994) gelang es, sich vorerst abzusetzen.
Die meisten der verurteilten Posträuber saßen ihre Hafstrafen ab oder wurden in den 70er-Jahren vorzeitig entlassen. Zwei Tätern gelang allerdings eine spektakuläre Flucht aus dem Gefängnis und gerieten somit in den besonderen Fokus der Öffentlichkeit: Charlie Wilson und Ronnie Biggs.
Wilson floh zunächst nach Mexiko, ging dann nach Kanada und lebte dort mit seiner Familie, bis ihn Scotland Yard im Jahr 1968 aufspürte und verhaftete. Er saß zehn Jahre ein und war schließlich der letzte der Posträuber, der aus dem Gefängnis entlassen wurde. Wilson gelang es jedoch nie, seine kriminelle Vergangenheit hinter sich zu lassen und wurde 1990 in Spanien ermordet aufgefunden.
Das Schicksal von Ronnie Biggs sollte noch Jahrzehnte nach der eigentlichen Tat für Schlagzeilen sorgen. Am 8. Juli 1965 gelang Biggs - gemeinsam mit drei anderen Insassen - die Flucht aus dem Gefängnis von Wandsworth. Er floh daraufhin mit seiner Familie nach Paris, versorgte sich dort mit gefälschten Papieren und ließ sogar sein Gesicht chirurgisch verändern. Nach einem jahrelangen Aufenthalt in Australien setzte sich der Posträuber schließlich 1974 nach Rio de Janeiro ab.
Noch im selben Jahr spürte ihn der Scotland Yard-Ermittler Jack Slipper in Brasilien auf und begrüßte ihn mit den Worten „Hallo Ronnie, lange nicht gesehen!“. Da Brasilien einer Auslieferung von Biggs nicht zustimmte, musste Slipper - nicht ohne Schadenfreude des englischen Boulevards - die Heimreise alleine antreten. Der Scotland Yard-Mann sollte in der Folge noch jahrzehntelang vergeblich versuchen, den schlitzohrigen Räuber dingfest zu machen. Nachdem eine brasilianische Stripperin Biggs einen Sohn geboren hatte, wurde es endgültig unmöglich, auf diplomatischem Wege eine Auslieferung zu erzwingen. In Rio lebte der ehemalige Posträuber fast ausschließlich von Arrangements mit Touristen, denen er für Geld ein "Frühstück mit einem echten Verbrecher" oder Devotionalien mit seinem Konterfei anbot.
Biggs kehrte schließlich im Jahr 2001 aus gesundheitlichen Gründen freiwillig nach England zurück und wurde am Flughafen von 60 Exekutivbeamten in Empfang genommen und verhaftet. Er saß bis zu seiner Begnadigung im Jahr 2009 im Gefängnis und starb im Alter von 84 Jahren am 18. Dezember 2013 in East Barnet, London.
Vermächtnis
Aufgrund der perfekt geplanten Tat und des vergleichsweise gewaltfreien Ablaufes genossen die Posträuber in der englischen Öffentlichkeit den Status von "Gentleman"-Verbrechern, denen ein Jahrhundert-Coup ohne direktes menschliches Opfer (den traumatisierten Zugführer Mills ausgenommen) gelungen war.
1965 wurden die Geschehnisse rund um den Postraub unter dem Titel "Die Gentlemen bitten zur Kasse" für das deutsche Fernsehen adaptiert. Der Dreiteiler mit Horst Tappert in der Hauptrolle wurde ein Riesenerfolg.
Die Geschichte von Ronald "Buster" Edwards wurde 1988 verfilmt. Phil Collins übernahm im Streifen "Buster" die Hauptrolle.
Ronnie Biggs wurde in fortgeschrittenem Alter zu einer Art Punk-Ikone. In den späten 70er-Jahren nahm er als Gastsänger mit den legendären Sex Pistols zwei Songs auf. 1991 folgte eine Kooperation mit den Toten Hosen für das Lied "Carnival In Rio (Punk Was)".