Lehrer fotografierte Schülerinnen: "Wir waren leichte Beute"
von Hannah Frischenschlager
"Ich mach das sicher nicht“, sagte ich damals noch empört zu meinen Schulkolleginnen. Sie hatten mir gerade Bilder gezeigt, die einer unserer Lehrer bei einem Fotoshooting, einem Schulprojekt, von ihnen gemacht hatte. Auf manchen davon sahen sie aus, als wären sie unbekleidet. Der Lehrer hatte sie nämlich angewiesen, ihre BH-Träger abzustreifen, das Dekolleté aufzuknöpfen, die dünnen Spaghettiträger zu verdecken. Eine Schülerin musste sich rückwärts über eine Stuhllehne strecken, sodass er ihr von oben in den Ausschnitt fotografieren konnte. Einer 14-Jährigen machte er selbst den Reißverschluss ihrer dünnen Weste auf, darunter trug sie nur einen BH. Die unbedarften Teenager, wie ich sie kannte, waren hinter den Fotos kaum noch zu erahnen.
Ich werde das nicht mit mir machen lassen, beschließe ich sofort. Doch als ich ein paar Tage später allein vor dem Lehrer im Zeichensaal unserer Schule stehe, ist dieses Selbstbewusstsein wie weggeweht.
Ich sage noch, dass ich solche Fotos nicht möchte, aber als er darauf besteht, gebe ich nach. Was hätte ich auch tun sollen? Hier an der Schule hat der Lehrer das Sagen. Im Rahmen der Fotoprojekte sollen wir Schülerinnen und Schüler den Umgang mit Kameras und Bildbearbeitung lernen, außerdem werden schöne Porträtfotos für Ausweise, Bewerbungen und die Maturazeitung angefertigt. Dass der Lehrer dabei auch ein paar freizügige Bilder unter die Aufnahmen schummelt, scheint an der Schule niemanden zu interessieren. Wir ziehen uns während des Fotoshootings im gleichen Raum um, mitunter sagt uns der Lehrer dabei auch, was wir anziehen sollen. Die Posen gibt er vor. Oftmals sind Schülerinnen dabei mit ihm allein. Dafür opfert er an Samstagen und Feiertagen seine Freizeit – als Dank wird ihm unsere Klassensprecherin später eine Flasche Wein überreichen.
Konsequenzen für dieses Verhalten gab es nie. Der damalige Direktor beantwortet meine Bitte um einen Kommentar vergangene Woche so: "Ihren Wunsch nach einer Stellungnahme meinerseits kann ich nachvollziehen. Die in Ihrem Schreiben angeführten Umstände waren mir während meiner Dienstzeit bis Juli 2010 nicht bekannt."
"Tausende Fotos davon habe ich nach wie vor zu Hause gespeichert."
Seit 2018 ist besagter Lehrer pensioniert, davor war er mehr als zwei Jahrzehnte an unserer Schule. "Ich habe Hunderte Schülerinnen fotografiert im Lauf der Jahre", erzählt er mir stolz am Telefon, während ich an diesem Text arbeite, "Tausende Fotos davon habe ich nach wie vor zu Hause gespeichert." Kein Funke Unrechtsbewusstsein findet sich in seinen Ausführungen, als er mir von aufwendigen Diashows und gewonnenen Fotowettbewerben berichtet. Während seine Grenzüberschreitungen manche Schülerinnen noch lange Zeit beschäftigt haben, hat er sie anscheinend gar nicht einmal bemerkt. Seine Stellungnahme zu meinen Erlebnissen und Empfindungen kommentiert der ehemalige Lehrer heute via E-Mail so:
"Die Teilnahme an den Fotoaktionen ist für alle immer völlig freiwillig gewesen, und sie haben in der Freizeit in der Schule stattgefunden. Die sogenannten ‚freizügigen Bilder‘ sind schulterfreie Porträts und nichts anderes. Ebenso finde ich es gänzlich unangebracht, von Vorfällen zu schreiben. Mit dem Begriff werden die Porträtaufnahmen in ein schiefes Licht gerückt. Ich habe immer nur positive Reaktionen von Schülerinnen, Eltern und Kollegen erlebt. Sonst hätten die freiwilligen Fotoaktionen für Maturazeitungen etc. gar nicht stattgefunden."
Abschließend schreibt er: "Wenn Du Dich für den Schutz junger Mädchen einsetzt, dann ist das ja richtig und wichtig." Fairerweise muss ich hinzufügen, dass der Lehrer wie viele andere in dieser Schule sehr engagiert war und sich mitunter durchaus feministisch orientiert zeigte.
Eine höhere Sensibilisierung bei der Schutzhaltung gegenüber jungen Menschen ist auch ein Grund, warum ich diesen Text heute schreibe. Nicht um jemand bloßzustellen, denn alle Beteiligten sind anonymisiert, sondern um sicherzustellen, dass solche Situationen an Schulen von vornherein verhindert werden und niederschwellig Anlaufstellen angeboten werden, wo Schülerinnen und Schüler sich Unterstützung holen können.
"Ich habe das damals nicht hinterfragt", erklärt mir eine frühere Mitschülerin ihre Beweggründe, für Fotos zu posieren. "Wenn ein Lehrer auf etwas besteht, dann machte man das." Vor einiger Zeit hatte ich begonnen, meine ehemaligen Schulkolleginnen zu kontaktieren und nach ihren Ansichten über diese Fotoprojekte während unserer gemeinsamen Schulzeit zu fragen. Ich stellte ihnen und indirekt auch mir die Frage: Warum hat keine von uns etwas gesagt? Warum haben wir uns nicht geweigert?
Man fragt sich ja ständig: Bin ich schuld, habe ich etwas falsch gemacht?
Warum niemanden um Hilfe gebeten? Auch heute, mehr als zehn Jahre später, finden wir darauf keine befriedigende Antwort. In den Gesprächen höre ich immer wieder die gleichen Sätze: "Es war mir unangenehm." - "Eigentlich wollte ich das überhaupt nicht." - "Ich wusste nicht, was ich tun konnte." - "Vermutlich hätte ich anders reagieren sollen", meint eine Mitschülerin heute, "aber ich habe mich geschämt, weil ich nicht stark genug war, meine Grenzen aufzuzeigen."
Scham- und Schuldgefühle sind bei Grenzüberschreitungen keine Seltenheit, sogar selbstbewusste Erwachsene erleben Übergriffe häufig als tiefe Verunsicherung. Umso mehr trifft das bei Kindern und Jugendlichen zu. "Ich habe niemandem an der Schule etwas davon gesagt. Man fragt sich ja ständig: Bin ich schuld, habe ich etwas falsch gemacht?", erzählt mir eine andere aus unserer damaligen Klasse.
Daher reichen herkömmliche Anlaufstellen, wie etwa die Schülerinnenvertretung oder Vertrauenslehrerinnen und -lehrer, bei Belästigungsvorwürfen oft nicht aus. Wer sich für sein Verhalten schämt, wendet sich nicht an das beliebteste Mädchen der Schule – geschweige denn an eine Lehrperson, durch die man vielleicht noch benotet wird. Auch Möglichkeiten zu anonymem Feedback haben Schülerinnen selten, und wenn, dann werden die Rückmeldungen meist nur von der betroffenen Lehrperson eingesehen, was die Sache erschwert.
An vielen Schulen fehlen außerdem neutrale Ansprechpersonen wie Sozialarbeiter und Schulpsychologinnen. Für 1,1 Millionen Schülerinnen und Schüler gibt es derzeit in Österreich insgesamt 208 Schulpsychologen und Schulpsychologinnen. Das entspricht einer psychologischen Betreuungsperson für rund 5300 Schüler. Auch an meiner früheren Schule stand die Schulpsychologin den 700 Schülerinnen und Schülern nur alle 14 Tage für zwei Stunden zur Verfügung.
Oft kennen die Schülerinnen und Schüler die zuständige psychologische Fachkraft ihrer Schule selbst kaum, oder sie wissen nicht, wie man den Kontakt herstellt. "Ich glaube, sie hat sich vor fünf Jahren in der ersten Klasse einmal bei uns vorgestellt“, sagt mir eine 19-jährige Schülerin, "das Angebot der psychologischen Betreuung ist an unserer Schule eher pro forma, da geht niemand hin." Eine Vertrauensperson, an die man sich mit seinen Sorgen wenden würde, sieht wohl anders aus.
Und noch etwas kommt in den Gesprächen mit meinen früheren Schulkolleginnen immer wieder zur Sprache: Wir waren nicht genug sensibilisiert. Jede war der Meinung, die Angelegenheit mit sich selbst ausmachen zu müssen. In zwölf Jahren Schulbildung hatten wir von sexueller Belästigung kaum jemals etwas gehört. Am ehesten wurden in der Schule noch gewaltsame Übergriffe von fremden Personen im öffentlichen Raum thematisiert. Daran hat sich auch in den letzten Jahren kaum etwas geändert, wie mir eine Lehrerin bestätigt.
Laut Erhebungen der Wiener Frauenberatungsstelle gehen Belästigungen, Grenzüberschreitungen und Übergriffe jeder Natur überwiegend von Personen aus, die das Opfer kennt; nur in 38 Prozent der Fälle sind die Täter fremde Männer. Auch die Beschränkung auf öffentliche Orte lässt sich nicht bestätigten: In einer Erhebung aus dem Jahr 2019 gaben 80 Prozent der befragten Frauen an, am Arbeitsplatz, in ihrer Partnerschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis oder innerhalb der Familie belästigt worden zu sein.
Auch an Schulen können somit – wie an anderen Arbeitsplätzen auch – solche Grenzüberschreitungen in Form von Übergriffen und Belästigungen vorkommen.
Warum hat niemand reagiert?
Warum, frage ich mich, war unsere Schule darauf nicht vorbereitet? Warum hat niemand reagiert? Möglicherweise liegt es daran, dass Schulen diese Präventionsarbeit noch immer nicht als ihre Aufgabe sehen. "Sie waren noch nicht so weit, das Shooting erfolgreich abzuwehren. Heute würden sich Schülerinnen das nicht mehr gefallen lassen", schreibt mir eine ehemalige Lehrerin meiner Schule, als ich sie nach ihrer Sicht der Dinge befrage. Reflexartig suchte sie die Verantwortung also bei den betroffenen Schülerinnen. Kinder und Jugendliche (vor allem Mädchen) müssten nur lernen, richtig Nein zu sagen und so Übergriffe abzuwehren, so das allgemeine Credo der letzten Jahre. Das ist eine klassische Opfer-Schuldzuweisung, mit der wir auch in der #MeToo-Debatte so oft konfrontiert waren.
Kinder sind unerfahren und verletzlich, selbst eine fortschreitende #MeToo-Bewegung und Missbrauchsdebatte werden daran so schnell nichts ändern. Die Frage, die mich beschäftigt, ist daher eine ganz andere: Wie sieht es mit der Verantwortung der erwachsenen Beteiligten aus? Würden Lehrer oder Schulleiterinnen eine solche Situation heute richtig einschätzen und intervenieren?
Der heute amtierende Direktor der Schule schreibt mir, als ich ihn um eine Stellungnahme bitte: "Das von Frau Frischenschlager zur Sprache gebrachte Fotoshooting fand auf Wunsch der Schülerinnen statt. Der Kollege wurde gebeten, Fotos für die Maturazeitung anzufertigen. Darüber hinaus hat er auf Wunsch einiger Schülerinnen und ihrer Mütter, darunter auch der Mutter von Hanna Frischenschlager, auch Mutter-Tochter-Fotos sowie Bewerbungsfotos von Schülerinnen gemacht. Weder die Mütter noch die Schülerinnen selbst haben sich nach dem Shooting beim Kollegen oder dem damaligen Direktor beschwert."
Aktuell werde in der Schule von der ersten bis zur fünften Klasse das Schulfach „Soziales Lernen“ angeboten, generell lege man großen Wert darauf, "das Selbstbewusstsein junger Menschen zu stärken." "Es ist uns wichtig, dass sie lernen, für sich selbst zu sorgen, Grenzen zu setzen und sich bei Grenzüberschreitungen zu wehren." Ob das ausreicht, wage ich zu bezweifeln. Für viele Schülerinnen in Österreich mag diese fehlende Präventionsarbeit kein großes Problem darstellen – aber eben nicht für alle. Denn noch etwas fällt mir bei den Gesprächen mit meinen ehemaligen Mitschülerinnen auf: Es gibt ein Muster. Obwohl fast alle Schülerinnen meines Jahrgangs an den Fotoshootings teilgenommen haben, wurden nicht alle zu solchen freizügigen Fotos genötigt. Es waren Schülerinnen, die in der Klasse isoliert waren, aus schwierigen Verhältnissen stammten, wenig Unterstützung hatten, introvertiert und schüchtern waren; solche eben, die beim Fotografieren häufig allein waren, weil sie sozial nicht oder kaum vernetzt waren. "Ich glaube, er hat gespürt, wie unsicher wir waren", sagt eine Schulkollegin zu mir, "dass wir kein soziales Netz hatten, auf das wir uns stützen hätten können."
Wir waren leichte Beute, weil wir allein dastanden.