„Wenn Regierende nicht handeln, können die Proteste noch sehr weit gehen“
Für Lena Schilling ist der Kampf gegen die Stadtstraße in Wien und die weltweite Erderhitzung noch längst nicht gegessen. Sie kündigt weitere Maßnahmen an.
Im September 2019 befand sich die Klimabewegung auf ihrem Höhepunkt. Mehrere Millionen Menschen gingen weltweit im Kampf gegen die Erderhitzung auf die Straße. Getragen wurden die Proteste zwar von der Jugend und vor allem von jungen Frauen – allen voran von der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg –, zu den Demonstrationen kamen jedoch Menschen aller Altersgruppen. Gewerkschaften, politische Parteien, etablierte NGOs: Alle hatten zur Teilnahme am Klimastreik aufgerufen. Die Anliegen waren in der Mitte der Gesellschaft angekommen. „Ein Erfolg der Bewegung war, dass in Umfragen plötzlich der Klimawandel an oberster Stelle der dringlichsten Probleme stand“, sagt der deutsche Protestforscher Sebastian Haunss, der die erste große Studie über Fridays For Future vorgelegt hat, gegenüber profil.
Dann kam Corona.
Die Pandemie verbannte die Demonstrantinnen und Demonstranten de facto von der Straße, die Sorgen um die Viruserkrankung drängten den Klimawandel in den Hintergrund. Der Wiener Klimaaktivist Manuel Grebenjak konstatierte kürzlich in einem Gastbeitrag für die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“: „Die Klimabewegung als solche ist in der Krise, und das, obwohl uns der Hitzesommer die Folgen der Erderhitzung gerade in brutaler Deutlichkeit vor Augen führt.“ Fridays for Future, Extinction Rebellion und Co hätten enorm an Mobilisierungskraft verloren.
Nun gilt es, den alten Schwung wiederzufinden. Protestforscher Haunss vergleicht die Klimabewegung mit der Anti-Atomkraft-Bewegung. Letzterer gelang es, über Jahrzehnte hinweg präsent zu bleiben und Durststrecken zu überbrücken. „Es wird ein zäher Kampf, bei dem das langfristige Ziel nicht aus den Augen verloren werden darf“, sagt Haunss.
Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten hielt in Österreich der Streit um den Lobautunnel den Klimakampf am Leben. Im August 2021 hatte die Aktivistin Lena Schilling zur Besetzung der Baustelle im Osten Wiens aufgerufen. Es folgten zahlreiche Scharmützel mit der von der SPÖ geführten Stadtregierung, bis das Protestcamp heuer am 5. September geräumt wurde.
Im aktuellen Tauwetter-Podcast erklärt Schilling, dass sie die Proteste nicht aufgeben wird und sich auch von Morddrohungen und Anschlägen nicht stoppen lässt. Die Klimabewegung sei für einen Marathon gerüstet.
Ukraine-Krieg, Energiekrise, Corona-Nachwehen: Wir befinden uns in einer Zeit multipler Krisen. Wie sehr überlagern diese den Kampf gegen den Klimawandel?
Schilling
Fast vier Jahre gehen junge Menschen nun auf die Straße und sind schon wahnsinnig frustriert. Wenn wir fürs Klima kämpfen sollen, dann müssten auch politische Entscheidungen folgen. Ich glaube, die Frustration, die Wut und vor allem die Müdigkeit des Protests ist groß. Es werden sich jedoch neue Formen von Protest etablieren. Und tatsächlich hängen die Krisen ja zusammen. In der Energiekrise stecken wir, weil wir jahrzehntelang in die Abhängigkeit von fossilen Energien investiert haben, anstatt in erneuerbare. Wenn wir über eine Energiekrise reden, dann müssen wir einerseits klar über die Sofortmaßnahmen reden, damit die Menschen heizen können, damit wir alle diesen Winter gut überstehen. Und auf der anderen Seite braucht es, wie in der Klimakrise, einen langfristigen Plan und eine langfristige Wende.
In Deutschland wird über Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken diskutiert, in Österreich soll das Gaskraftwerk Mellach auf Kohlebetrieb umgerüstet werden. Fürchten Sie, dass wir in Sachen Klimaschutz wieder zwei Schritte zurück machen?
Schilling
Das wäre der vollkommen falsche Weg und ein weiteres Versagen der Politik, weil wir dann weiter im Teufelskreis der Abhängigkeit von den Fossilen gefangen wären. Wenn das passiert, kann man Protest erwarten. Wenn in einer Regierung mit den Grünen ein Kohlekraftwerk angeworfen wird, ist das natürlich ein ziemliches Armutszeugnis.
Wie zufrieden sind Sie denn mit der Performance der Grünen in der österreichischen Regierung?
Schilling
Ich habe, wie sehr viele Menschen, ein sehr ambivalentes Verhältnis zu den Grünen. Einerseits gibt es diesen großen Erfolg mit der Absage des Lobautunnels, wo sich Klimaministerin Leonore Gewessler durchgesetzt hat – gegen sehr viele Widerstände. Da waren wir kurz Verbündete. Und gleichzeitig passiert natürlich viel zu wenig. Es fehlen wichtige Gesetze wie das Erneuerbaren-Wärme-Gesetz und das Klimaschutzgesetz.
Man macht den Grünen immer wieder den Vorwurf, dass sie sich zu sehr von der ÖVP unterbuttern lassen. Aber muss man als Juniorpartner in einer Regierung nicht Kompromisse eingehen?
Schilling
Auf jeden Fall. Ich glaube, die Frage ist, wie lange man das mittragen und sich selbst noch in den Spiegel schauen kann.
Es gibt sehr viele Protestgruppen, darunter Fridays For Future, Letzte Generation, Extinction Rebellion und einige mehr. Wie zersplittert ist denn die Klimabewegung?
Schilling
Wir sind eine breite Bewegung und vor allem eine sehr solidarische. Ich würde sagen, wir sind überhaupt nicht zersplittert, sondern gut vernetzt. Klar, ich bin nicht mit jeder Praxis in jeder Gruppe super d’accord und finde nicht alles gut. Aber je mehr Menschen gegen die Klimakrise kämpfen und für eine solidarische Zukunft, umso besser.
Wie stehen Sie zu den Klimaaktivisten von der Letzten Generation, die bekannt dafür sind, sich auf Straßen festzukleben?
Schilling
Das ist, finde ich, nicht die beste Taktik. Da werden Leute konfrontiert, die in dem Moment, in dem man sie blockiert, überhaupt nichts am System ändern können. In meiner Vorstellung verändern wir die Welt mit einer großen Mehrheit der Menschen an unserer Seite. Und es gibt die Mehrheiten für Klimaschutz. Bei unseren Protesten in der Lobau haben wir Baustellen besetzt, auf Grundstücken, die der Stadt oder dem Bund gehören. Damit waren unsere Gegenüber immer die direkt Verantwortlichen.
In den Hochzeiten der Lobau-Besetzung bekam ich mehrere Morddrohungen pro Tag.
Lena Schilling
Wie sehr müssen Klimaaktivistinnen und -aktivisten nerven?
Schilling
Ich finde, nerven klingt so klein, aber klar, wir müssen das System stören, um es zu verändern. Aber man sollte diejenigen stören, die die Verantwortung dafür tragen. Mehr als die Hälfte aller jungen Menschen auf dieser Welt haben wirklich Angst vor der Klimakrise. Und diese Angst manifestiert sich, weil Politiker:innen nicht handeln. Dann muss man sich ja fragen: Wo sind meine Hebel, um das System zu verändern? Da verstehe ich die Letzte Generation durchaus.
Wie weit dürfen Klimaaktivisten gehen – und wie weit werden sie gehen?
Schilling
Die Grenze verläuft immer dort, wo sie die Gesellschaft ausverhandelt hat. Wenn Regierende nicht handeln, dann kann ich mir vorstellen, dass das noch sehr weit gehen wird. Die Grenzen haben sich bereits verschoben. Über den Schulstreik wurde am Anfang gesagt: Oh, wie radikal ist denn das? Und jetzt gehört das zweimal im Jahr zu unserer Normalität. Aber ich möchte nicht nur über Klimaaktivisten reden. Mein Anspruch ist, dass so viele Menschen wie möglich in ihrem Grätzel, in ihren Bezirken, in ihren Bundesländern aktiv werden. Das heißt nicht, dass sie sich an Bagger ketten müssen. Das kann heißen, sich mit den Nachbarn zusammenzuschließen und für einen Radweg vor der Wohnungstür zu kämpfen.
Sie kämpfen seit über einem Jahr gegen den Lobautunnel. ÖVP-Finanzminister Magnus Brunner hat das aktuelle Straßenbau-Programm der Asfinag unterschrieben, in dem der Tunnel nicht enthalten ist. Gleichzeitig betonte er, dass das keine Absage sei. Wie ist denn Ihre Einschätzung? Ist das Projekt gestorben oder nicht?
Schilling
Solange die Grünen in der Regierung sind, ja. Danach bin ich mir relativ sicher, dass man versuchen wird, das weiter zu forcieren. Ich kann aber auch sagen, wenn das tatsächlich passiert, wird es wieder massiven Protest geben.
Die Stadt Wien will die anschließende Stadtstraße trotzdem weiterbauen …
Schilling
Ja, die Stadt Wien hat sich dazu entschieden, diesen Weg zu gehen. Ich bin mir sicher, dass wir das in einigen Jahren als das historische Versagen der SPÖ bezeichnen werden. Selbst die Asfinag rechnet damit, dass es 2035 auf diesen Straßen genauso stauen wird wie jetzt auf der Tangente. Unser Protest wird also weitergehen. In welcher Form, kann ich noch nicht verraten. Aber die Stadtregierung darf gespannt sein.
Fridays for Future – Die Jugend gegen den Klimawandel. Konturen der weltweiten Protestbewegung.
Sebastian Haunss / Moritz Sommer (Hg.)
transcript Verlag.
264 S., 22 Euro
Junge Frauen, die öffentlich für etwas kämpfen, sind oft heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Ist das bei Ihnen auch so?
Schilling
In den Hochzeiten der Lobau-Besetzung bekam ich mehrere Morddrohungen pro Tag. Und gerade junge Frauen sind oft Androhungen von sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Der schockierendste Moment für mich war der Brandanschlag auf das Protestcamp am 31. Dezember 2021. Ich war zu Hause, als um vier Uhr früh mein Handy klingelte. Freundinnen von mir waren in dem Holzturm, der in Flammen stand, manche waren nicht älter als 16. Später an diesem Tag hat mir jemand geschrieben: „Wir werden dich anzünden, du Hexe.“
Wie gehen Sie mit solchen Angriffen um?
Schilling
Das sind die Momente, in denen es wirklich schwierig ist. Komme ich irgendwann nach Hause, und die Wohnung ist abgefackelt? Wird mich jemand am Straßenrand abfangen? Und dann gibt es Gott sei Dank ein Kollektiv, viele Menschen, mit denen man darüber reden kann. Meine Eltern, die unfassbar besorgt sind. Und viele liebe Freunde und Freundinnen, die mich dann, wenn es dunkel ist und ich doch einmal Angst haben sollte, ein Stück begleiten.
Gibt es inzwischen Hinweise auf den oder die Täter?
Schilling
Nein, die Polizei konnte uns noch nichts sagen. Es gab einige Wochen danach einen zweiten Anschlag, bei dem das ganze Camp mit Hakenkreuzen beschmiert wurde. Auch das habe ich angezeigt. Ich war zwei Mal beim Verfassungsschutz zur Einvernahme. Aber wir wissen derzeit den Ermittlungsstand nicht.
Fühlen Sie sich von den Behörden ausreichend unterstützt?
Schilling
Eigentlich zu wenig. Ich will aber nicht jammern, sondern Lösungen suchen. Es braucht eine unabhängige Stelle, wo man zum Beispiel Einvernahmen, die nicht gut gelaufen sind, melden kann. Also es braucht eine unabhängige Dokumentationsstelle für die Polizei.
Offensichtlich brauchen Klimaaktivisten einen langen Atem. Wie ist das bei Ihnen?
Schilling
Vor einem Jahr habe ich mit einem Anrainer in der Lobau geplaudert, der schon seit elf Jahren gegen das Projekt gekämpft hat. Er hat gesagt: „Lena, ich weiß, wie ungeduldig du bist, aber das wird ein Marathon und kein Sprint.“ Dieser Satz verfolgt mich. Er hat leider recht: Wir müssen für einen Marathon gerüstet sein. Es ist nun mal eine historische Notwendigkeit, dass wir den Kampf gegen die Klimakrise in den nächsten Jahren gewinnen. Und ich glaube, das werden wir auch.
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Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.