Sommerlochgestalten Boris, Bruno, Yvonne (Plus Python) Jeder braucht mal Urlaub.

Lob des Sommerlochs: Was wurde eigentlich aus Problemkuh Yvonne?

Wie aus der Saure-Gurken-Zeit die Waldbrandsaison wurde, was das für die Verfasstheit der Gesellschaft bedeutet und warum das Sommerloch auf Englisch „funny season“ heißt.

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Der Kanzler weiß um die Bedürfnisse der Bevölkerung, das ist Teil seines Jobs. Also spendete Karl Nehammer am 1. August dieses Jahres die erlösenden Worte: Das Gemauschel über seine bevorstehende Absetzung durch ihm nahestehende Parteifreunde sei „eine offensichtliche mediale Sommerlochdebatte“.

Da war es also, das erlösende Wort, das vielversprechende, das lange ersehnte. Der Begriff verheißt vieles: Unsinn, Zerstreuung, steile Weltrekorde und fantastische Tierwesen. Vor allem aber erzählt er von einer großen Abwesenheit: Im Sommerloch herrscht keine Barbarei, es führt kein Weg von ihm zur Panik oder gar zur Hoffnungslosigkeit, es lässt uns, frei von Krankheit, Krieg und Bedrohung, Luft zum Atmen. Was im Sommerloch passiert, bleibt im Sommerloch, berührt uns nur leicht, kitzelt die Wahrnehmung und verschwindet dann wieder, spielt in Wahrheit keine Rolle in unserem Leben, lässt uns also, mit einem Wort, in Ruhe. Ins Sommerloch fließen Nachrichten, die zwar einen Fuß in der Realität, aber trotzdem kein großes Gewicht haben, und die mehr der Unterhaltung dienen als der Information. 

Wir haben es, so gesehen, dringend nötig. Aber, leider, schon lange nicht mehr in seiner Reinform erlebt. Das Nehammer’sche Sommerloch entspringt wohl magischem Denken und wird von der Realität schneller aufgefüllt, als ein Niederösterreicher „Tirol“ sagen kann. Schwupps stehen wir wieder auf dem Boden der Tatsachen: Dürre, Hunger, ÖVP-Krise. 

Vor genau 20 Jahren, am 12. August 2002, ging das profil mit einer Titelgeschichte zum Thema „Elvis lebt“ in den Verkauf. Anlass war der 25. Todestag des Musikers und dessen zweifellos interessantes Nachleben als Medien- und Tantiemenphänomen. Nein, das würde man heute wohl nicht mehr so machen. Es drängen sich aber auch ständig andere Themen auf, dauernd passiert etwas, und meistens etwas Schreckliches. Ein Vorbote dieser Zustände erreichte uns allerdings auch schon damals, vor 20 Jahren, keine Woche nach Elvis: Flutkatastrophe in Europa. Donau und Kamp treten über die Ufer, und am profil-Cover steht ein Elefant im überfluteten Prager Zoo, daneben die Titelzeile: „Flutkatastrophe. Ist der Mensch schuld? Warum das Wetter verrückt spielt.“ Nun, es hatte mit dem Verrücktspielen leider gerade erst angefangen.

Das diesjährige Sommerloch ist annähernd kreisrund, hat einen ungefähren Durchmesser von 50 Metern und eine Tiefe von rund 200 Metern. Es hat sich am 30. Juli in der chilenischen Gemeinde Tierra Amarilla im Norden des Landes am Rande der Atacama-Wüste aufgetan. Wie die Nachrichtenagentur Reuters in ihrer Beschreibung des Phänomens erläuterte, sei dieses groß genug, um den kompletten Pariser Arc de Triomphe zu fassen, aber nicht nur das: „Auch die Space Needle von Seattle würde komfortabel in die schwarze Grube passen, genauso wie sechs übereinandergestapelte Christus-der-Erlöser-Statuen aus Brasilien (genauer: Rio de Janeiro, Anm. d. Red.).“

Über die genauen Ursachen der chilenischen Locherscheinung kursieren zahlreiche unbestätigte Expertisen und wilde Spekulationen, was das Wesen eines Sommerlochs schon einmal sehr gut bestimmt. Ein solches fasst ja nicht nur mehr Sehenswürdigkeiten als ein durchschnittlicher James-Bond-Film, sondern auch Unmengen an Fantasie und schmückendes Beiwerk, plus eine Prise Exotik und gern auch die eine oder andere Stilblüte. Hier zum näheren Verständnis noch ein klassisches Beispiel aus dem Archiv von „Spiegel Online“, 14. Juli 2010: „Oslo – Im norwegischen Kongsvinger bei Oslo waren am Mittwoch in einem Supermarkt ungewöhnliche Hilferufe zu hören: ‚Elg, elg!‘, tönte es durch die Gänge des Lebensmittelladens, als plötzlich ein prächtiges, noch junges Exemplar der langbeinigen Paarhufer durch die Eingangstür stürmte. Wie der Sender TV2 am Mittwoch berichtete, suchte das Tier zunächst die Blumen- und Gartenabteilung auf. Die dort arbeitende Verkäuferin Inger-Lise Moss flüchtete zum Bäckerei-Tresen – und wurde zu ihrem Entsetzen von dem Wiederkäuer verfolgt.

„Es ist nicht nichts, was das Sommerloch in seinem Kern ausmacht, keine reine Lochhaftigkeit, beziehungsweise auf Englisch: Lochness.“

Als Fluchtweg bot sich demnach nur der Abort an: ‚Ich hab mich in der Toilette eingeschlossen‘, berichtete die verängstigte Moss. Deren Chefin Ingunn Sørli blieb um einiges cooler. Sie filmte –  ebenso wie eine im Laden installierte Überwachungskamera – das Elchkalb auf seinem Weg von der böse zugerichteten Blumenabteilung zu den Getränken.

Hier verharrte der Elch eine lange Weile vor einem Stapel mit kühlen Bierflaschen und ließ die Flaschen klirren. Mitnehmen wollte er aber offensichtlich keines der alkoholhaltigen Getränke. Unverrichteter Dinge trollte sich das Tier und verschwand, wie es gekommen war –  durch die Eingangstür.“

Über den Nachrichtenwert dieser Meldung lässt sich gewiss streiten. Die Bilder, die sie einem in den Kopf zaubert, sind aber allemal anmutiger als jene, die uns derzeit aus dem südchinesischen Meer (Kriegsspiele), Kalifornien (Waldbrände) oder der FPÖ-Zentrale (Parteifreunde) erreichen. 

Es ist nämlich nicht nichts, was das Sommerloch in seinem Wesenskern ausmacht, es ist keine reine Lochhaftigkeit, oder, wie die Schotten sagen: Lochness. Apropos: Man kann durchaus beklagen, dass uns seit mittlerweile drei Jahren keine einzige Nachricht aus dem gleichnamigen Süßwassersee mehr erreicht hat, die jüngste APA-Meldung zum Thema stammt vom 5. September 2019 und fällt ernüchternd aus: „Nessie ist aller Wahrscheinlichkeit nach kein monströses Seeungeheuer, sondern ein Aal – wenn auch möglicherweise ein sehr großer. (…) ‚Es gibt ein sehr großes Vorkommen an Aal-DNA‘, sagt der Forscher Neil Gemmell von der Universität Otago in Neuseeland. Hinweise auf ein saurierartiges Untier gebe es nicht.“

Klar: Die Welt ist nicht alles, was ein Aal ist. Die eigentliche ontologische Funktion des Sommerlochs besteht ja auch darin, Kraft seiner Transparenz auf etwas Abwesendes zu verweisen. Es blendet das Schlechte, aus dem die Welt eben auch besteht, aus und rückt an seine Stelle das Belang- und Harmlose, ohne dieses gleich ganz abwegig erscheinen zu lassen. Die Sommerlochmeldung bleibt daher auch eine journalistische Gratwanderung; nirgendwo sonst (ausgenommen: Leitartikel) ist die Fallhöhe größer, die totale Peinlichkeit eine ständig präsente Möglichkeit, der man sich mutig stellen muss.

Historisch beruht das Sommerloch auf der schlichten Tatsache, dass selbst Politiker einmal Urlaub machen, Parlamente eine Pause einlegen, Sportligen stillstehen und auch kulturell im August oft weniger los ist. Aus dieser Tatsache erwuchsen verschiedene Geschäftsmodelle, bestehende Lücken wurden mit Sommertheaterfestivals und Trash-TV gefüllt. Auch politische Karrieren ließen sich gut auf Sommerlöchern aufbauen. So mancher Spitzenpolitiker verdankt seine Prominenz  nicht zuletzt der Tatsache, bis tief in den August hinein für jeden Anruf verzweifelter Innenpolitikredakteure erreichbar und dann auch noch für jedes noch so blöde Foto parat gewesen zu sein. In den Kalenderwochen 29 bis 35 liegen die 40 Tage des Müßiggangs, die Zeit der Hinterbänkler und Bikinimodels, der Kirschkernweitspuckerin und des umgefallenen Blumenkübels. Wir erinnern uns: Vor genau zwölf Jahren ging in einem Altenheim in Neuenkirchen (Nordrhein-Westfalen) ein Pflanzgefäß zu Bruch. Es war wohl Opfer eines Vandalenaktes geworden, dessen Hintergründe aber bis heute im Dunklen liegen. Die entsprechende Meldung der „Münsterschen Zeitung“ verbreitete sich in jenen Augusttagen 2010 auf dem damals noch jungen Medium Twitter wie verrückt und erreichte als eines der ersten Beispiele irrationaler Viralität internationale Bekanntheit: „Fassungslos waren die Bewohner des Antoniusstifts, als sie am Dienstagmorgen vor die Tür sahen: Einer der zwei Blumenkübel vor dem Eingang des Altenheimes wurde umgestoßen und lag zerbrochen vor dem Eingang.“ Ja, wir hatten wirklich keine anderen Sorgen. 

Selige Zeiten, löchrige Welt. Tempi passati. Es folgten, im anschwellenden Katastrophentakt, Euro- und Flüchtlingskrisen, Klima- und Populistenhorror, Pandemie und Krieg. Sommer ist nicht mehr SaureGurken-Zeit, sondern Waldbrandsaison. Dazu kommen Dürren im Burgenland und in Niederösterreich, Inflation und Energiekrise überall, und schließlich auch noch eine rettungslos gespaltene Gesellschaft. Letzteres ist, möglicherweise, auch ein Effekt akuten Sommerlochmangels. 

Nachrichten tendieren heute immer häufiger zum Niederschmetternden, es gibt also auch gute Gründe dafür, einmal keine Schlagzeile zu lesen. Viele dieser Gründe sind psychologischer Natur. Es kann dem seelischen Wohlbefinden schaden, zu viel darüber zu wissen, was gerade auf der Welt passiert (ausgenommen: Blumenkübel). Man will sich die Nachrichten einfach nicht mehr antun, zieht sich zurück ins Vollprivate, will nicht mehr darüber reden, selige Ignoranz leben. Darunter leidet aber der Kitt, den wir Gesellschaft nennen. Gleichzeitig erwischen uns perfide Falschnachrichten auf dem falschen Fuß, indem sie in der Gestalt von Sommerlochmeldungen auftreten, also irre unwahrscheinlich, aber irgendwie auch unterhaltsam und angenehm einleuchtend daherkommen. Das Sommerloch wird so mit sozialem Sprengstoff gefüllt. Die Form ist die gleiche, der Inhalt brisant. Die Albinopython, die aus der Toilette kam, ist eine nahe Verwandte des russischen Trolls, der uns den Impfchip weismacht.

In England heißt die Saure-Gurken-Zeit übrigens funny season, und das schon seit dem 13. Juli 1861, als ein Kommentar in der Wochenzeitschrift „Saturday Review“ nach mildernden Umständen für die unbefriedigende Berichterstattung in der Londoner „Times“ suchte: „Die großen Männer der ‚Times‘ sind dieser Tage zweifellos auf Reisen, wie andere große Männer auch (…) Die Finger, die zu anderen Zeiten die Feder zum Zwecke unserer Erleuchtung schwingen, führen nun ein Gewehr in einem schottischen Moor oder den Wanderstock auf einem Schweizer Berg. Die Arbeit liegt in schwächeren Händen.“

Nun sind Gewehre und Wanderstöcke gerade in der funny season lustigerweise zentrale Werkzeuge, etwa wenn es um die Verfolgung und Ruhigstellung klassischer Sommerlochwesen wie des legendären (aber dabei zweifellos realen) Problembären Bruno (alias JJ1; Sommer 2006) oder der eigentlich ja domestizierten (aber deshalb kaum unproblematischeren) Kuh Yvonne (alias Angie; Sommer 2011) geht. Man kann natürlich auch die Reuse zur Hand nehmen und sich am Aalfischen versuchen, ein bekannter schottischer Süßwassersee soll diesbezüglich sehr ergiebig sein.

Karl Nehammer hat, apropos, seinen heurigen Sommerurlaub kurzfristig storniert. Wie er der „Kronen Zeitung“ verriet, möchte er nun doch nicht nach Griechenland fliegen, sondern in Wien an der Bewältigung diverser Krisen arbeiten und sich lediglich zwei lange Wochenenden freinehmen. Spontaner Vorschlag für einen Kurztrip: Die Gemeinde Sommerloch liegt etwa zehn Kilometer nordwestlich von Bad Kreuznach im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz, ziemlich genau in der Mitte zwischen Wallhausen und Mandel. Vom Ballhausplatz aus wäre man mit dem Auto, vorbehaltlich Baustellen, in 
etwa achteinhalb Stunden vor Ort. Es soll dort auch ganz hervorragenden Wein geben. Zum ersten Mal wurde die 400-Einwohner-Gemeinde im Jahr 1158 urkundlich erwähnt; der Tourismusverband „Hunsrück-Nahereise“ beharrt darauf, dass der Ortsname – mittelhochdeutsch „Sumerlachen“ – im wörtlichen Sinn „eine nach Süden gelegene feuchte Mulde“ bezeichne. So viel zur Waldbrandgefahr. Der Nationalrat tagt dann planmäßig wieder am 21. September. Mit viel Glück erwartet uns eine langweilige Session.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.