Fine Dining hat auf einmal auch Street Credibility.
Gastronomie

Lokalkolorit: Seit wann ist Essengehen cool?

Eine Revolution findet statt. Sie betrifft die Gastronomie und zielt auf den Bauch: Essengehen wird zur Popkultur, Restaurants werden immer lässiger und Köche zu Social-Media-Stars. Nachrichten aus der neuesten Cuisine.

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Vergangenen Montag fand ein Livestream den Weg von Madrid in die Welt, der uns noch beschäftigen wird: In der spanischen Hauptstadt wurde die Rangliste der besten Restaurants Europas verkündet. Erstellt wurde diese von der Online-Plattform OAD („Opinionated About Dining“). Sie ist durchaus einflussreich (und stark skandinavienlastig; beste Österreicher: Steirereck, Platz 39; Restaurant Konstantin Filippou, Platz 45), aber nicht so einflussreich wie „die Liste“, nämlich jene der 50 besten Restaurants der Welt, alias „The World’s 50 Best Restaurants“ (einziger Österreicher im Vorjahr: Steirereck, Platz 13). Deren 2023er-Ausgabe wird am 20. Juni verkündet (via Livestream aus Valencia), was in weiterer Folge weltweit zu erhöhtem Reservierungs- und Flugbuchungsaufkommen führen wird.

Denn Restaurant-Ranglisten leiten Touristenströme, und Städtetrips werden zunehmend zu Restaurant-Ausflügen. Wer heute nach Kopenhagen kommt, kommt tendenziell zum Essen (Wien holt diesbezüglich gerade stark auf). Das Phänomen ist nicht neu, immerhin wurde der „Guide Michelin“ einst ganz dezidiert als Reiseführer gegründet. Doch er richtet sich an eine Klientel, die immer noch gern mit Verbrennerautos durch den Schwarzwald rauscht; während die neuen Bestenlisten vorwiegend junge, urbane Menschen ansprechen, nennen wir sie mit einem schon etwas älteren Wort Hipster, mit einem noch älteren Wort Easyjetset: Leute, die früher vielleicht wegen Berghain- oder Watergate-Besuchen nach Berlin geflogen wären und heute eher in die Weinbar Freundschaft oder ins Restaurant Nobelhart & Schmutzig pilgern. Das ist auch aus tourismuswerblicher Perspektive eine hochinteressante Zielgruppe, weshalb Gastro-Journalisten heute um die halbe Welt gekarrt werden, um die frohe Kunde von der neuen spanischen Spitzenküche zu verbreiten. So wäre auch zu erklären, warum Oberösterreich Tourismus internationale Koch-Events im Mühlviertel sponsert und Wien Tourismus gerade eine kecke YouTube-Show produziert hat, in der Wiens derzeit wohl angesagtester Koch Lukas Mraz (Restaurant Mraz & Sohn) seine Lieblingswürstelstände abklappert.

Es ist cool geworden, essen zu gehen. Restaurantbesuche sind das neue Ausgehen, nicht mehr nur Alltags-, sondern Popkultur. Nur ganz leicht übertrieben erscheint die aktuelle Schlagzeile aus dem US-Magazin „The Atlantic“: „Nothing Is Cooler Than Going Out to Dinner“. Und tatsächlich: Wenn Lukas Mraz einen Samstagnachmittag lang als Gastkoch in der Wiener Mochi Ramen Bar japanische Nudelsuppen kocht, dann dreht der Rapper Yung Hurn dort selbstverständlich eine Runde (sowie eine Insta-Story), und der Platz ist voll mit jungen Leuten, die drei Stunden auf ihr Essen warten (und währenddessen feiern). Szenekundige Künstler wie Rade Petrasevic oder Frank Maria gestalten Speisekarten oder Plakate, junge Koch-Kollektive wie Château Tingeling oder Asiana Prjkt geben Gastspiele nach Art von Designer-Kooperationen, Naturweinwinzer wie Christian Tschida werden wie Popstars gefeiert. Die Grenzen zwischen Rave, Vernissage und Abendessen verschwinden, fine dining hat auf einmal street credibility.

 

Kulinarik-Aktionismus

 

„Es hat sich in den letzten fünf Jahren wirklich wahnsinnig viel getan“, sagt Lukas Mraz: „Ich bin ja noch aus einer Generation, in der es nicht besonders cool war, Koch zu sein (er wird demnächst 33 Jahre alt, Anm.). Als ich 17 oder 18 war, hab ich jedenfalls nie gehört: Wow, krass, du bist Koch!“ Das hat sich definitiv geändert, und Mraz selbst hatte daran keinen geringen Anteil. Zusammen mit Felix Schellhorn und Philip Rachinger gründete er die Kulinarik-Aktionisten-Gruppe Healthy Boy Band, die Happenings zwischen Kunst und Küche veranstaltet und international für Aufsehen sorgt (profil berichtete).

Viel von diesem Aufsehen vollzieht sich auf und dank Instagram. Man kann in den sozialen Medien tatsächlich sehr intensiv an dieser neuen Gastroszene teilnehmen, kann da zum Beispiel feststellen, dass wirklich sehr viele Leute Feuer und Flamme sind für die „Germknödel Saigon“, die Château Tingeling bei ihrem rezenten Gastspiel im Pariser Bistro Dame Jane servierten. Was man auf Instagram nicht kann, ist: schmecken, erleben, leibhaftig dabei sein. Essengehen bleibt eine schwer zu digitalisierende Kunst, ganz im Gegensatz zu Popmusik oder YouTube-Art. Umso mehr wird die Reservierung im angesagten Restaurant der Stunde auch zum Statussymbol.

Eine Weinbar/Restaurant in Wien im Frühsommer 2023. Die Menschen sind jung und tragen Alteleuteklamotten im Stil nordamerikanischer Städtetouristen (weite T-Shirts, beige Hosen, weiße Turnschuhe), sind also modisch stark im Trend. Die Weinkarte ist auf historischen Diddl-Maus-Einlegeblättern gedruckt und enthält exzentrischen Stoff aus exotischen Weingegenden. Das Personal ist freundlich und möglicherweise ein bisschen eingeraucht, die Küche auf eine wohlige Art experimentierfreundlich. Café Kandl, Wien 7 – der heißeste Laden dieses Sommers (des vorigen auch). Mina Härter, 26, kommt ursprünglich aus Stuttgart, hat in Hamburg Politikwissenschaften studiert und „immer schon was mit Gastro“ gemacht. Vor vier Jahren kam sie nach Wien, wollte eigentlich langsam raus aus der Branche, „aber dann habe ich über die Naturwein-Schiene ein neues Interesse gefunden. Das hat mich fasziniert, das macht Spaß.“

Ich bin ja noch aus einer Generation, in der es nicht besonders cool war, Koch zu sein. Als ich 17 oder 18 war, hab ich jedenfalls nie gehört: Wow, krass, du bist Koch!

Lukas Mraz (Restaurant Mraz & Sohn, Wien)

Heute ist sie Sommelière im Café Kandl und erklärt den Boom so: „Es hat sicher mit Zugänglichkeit zu tun, gerade im Naturwein-Kontext. Das ist ein durchgestyltes Produkt, das noch einmal ganz neue Geschichten erzählt und eine klare Identität hat. Und dann gibt es eben Leute wie Lukas Mraz, die fine dining ganz neu definieren und lustiger, auch rougher machen. Das ist alles sehr gut erzählt, da spielt Instagram eine große Rolle, und da schließt dann auch die Kunstszene an. Kein Wunder, dass Felix Schellhorn (von der besagten Healthy Boy Band, Anm.) transmediale Kunst studiert. Was wir da erleben, ist oft mehr Happening als Dining, da geht es schon ums Essen, aber auch darum, was rundherum passiert. Sicher: Es geht immer noch ums Saufen und Feiern. Aber es ist nicht mehr egal, was du trinkst.“

 

Gesamtkunstwerk Gastronomie

 

Köche sind also zu Idolen geworden, und die Gastronomie popkulturell bedeutsam. Das Urbild des zeitgeistprägenden Popstar-Kochs, damals noch eher nach dem Modell „Rockstar“ konstruiert, war der Brite Marco Pierre White, dessen Buch „White Heat“ in den frühen 1990er-Jahren lebensstilprägend wurde, nicht zuletzt auch für den New Yorker Anthony Bourdain, der zunächst ebenfalls stark in Richtung Sex/Drugs/Rock’n’Roll tendierte, aber ab den frühen 2000er-Jahren mit seinen Food-Travel-Shows „No Reservations“ und „Parts Unknown“ selbst wegweisend wurde: Bourdain machte einem großen TV-Publikum klar, dass man in Restaurants und Küchen unter Umständen mehr über ein Land und eine Kultur lernen kann als in Kirchen oder Museen; dass man in einem Pizza-Stand in Brooklyn oder einer Garküche in Phnom Penh das wahre, echte Leben vorfindet. Essen und Essengehen wurde mit kultureller Bedeutung aufgeladen, und Millionen sahen zu.

In einer Szene in dem Film „Harry und Sally“ (1989) erklärt die Figur der Marie ihrem Love Interest Jess: „Restaurants sind für die Leute in den 80er Jahren, was Theater für die Menschen in den 60ern waren.“ Diese Beobachtung lässt sich auf die Gegenwart umsetzen: Casual Fine Dining ist für die Mittzwanziger der 2020er-Jahre das, was heruntergerockte Bars für ihre Altersgenossen in den 2010er-Jahren waren: ein soziales Biotop, in dem sie ihre Zeit verbringen, Freunde treffen, feiern – und in dem sie gern auch mehr Geld ausgeben (auch weil es sich heutzutage kaum lohnt, auf eine ohnehin nie im Leben leistbare Wohnung zu sparen).

In Österreich fand eine für diese Szene maßgebliche Lokaleröffnung schon anno 2010 statt. Damals sperrten Sandra Jedliczka, Tobias Müller, Eduard und Nicole Dimant das Mochi auf, ein kleines, japanisch inspiriertes Lokal, in dem das Essen durchaus im Vordergrund steht, aber eben auch die Atmosphäre, die Stimmung, das Spaßhaben – und trafen damit einen Nerv. Was als Projekt zweier befreundeter Paare begann, ist heute ein Unternehmen mit 120 Mitarbeiter:innen und fünf Lokalen (plus Shop). Sandra Jedlicka erinnert sich: „Zehn Jahre sind in der Gastronomie eine lange Zeit. Unser Publikum ist mit uns erwachsen geworden. Die Zehnjährigen, die damals mit ihren Eltern bei uns waren, kommen heute mit ihren Freunden. Das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum heute viele junge Menschen eher gut essen gehen als früher: Sie sind von ihren Eltern so geprägt worden. Kinder werden immer selbstverständlicher auch in gehobene Lokale mitgenommen und machen früher die Erfahrung, dass das Teil des Alltags und der Kultur ist.“

Ein wichtiger Teil der Mochi-Kultur ist übrigens auch eine wohlwollende Konkurrenzlosigkeit. Erfolg entspannt offenbar, also werden die Mochi-Lokale regelmäßig zu Bühnen für befreundete Gastronomen, Köche, Winzer, für Gastspiele, Pop-ups und Events. Auch im Café Kandl lebt man dieses Prinzip sehr intensiv. Gerade war das Asiana Prjkt – der gastronomische Ableger eines Asia-Geschäfts in der Praterstraße – da und kochte einen Tag lang koreanisch-französische Fusionküche; kurz vorher fand an selber Stelle ein „Fest des Huhnes“ statt, featuring Weine von und mit Christian Tschida, dem Natural-Wine-Weltstar aus Illmitz. Das neue Foodie-Biotop kennt keine – oder keine besonders sichtbaren – Konkurrenzgedanken: Man arbeitet zusammen, miteinander, beieinander. Viele der jungen Kreativen, die diese Szene prägen, stehen gar nicht mehr Vollzeit in eigenen Restaurantküchen, sondern machen ausschließlich solche Gastspiele und Events.

Es geht immer noch ums Saufen und Feiern. Aber es ist nicht mehr egal, was du trinkst.

Mina Härter (Cafe Kandl, Wien)

So wie die schon erwähnten Château Tingeling, namentlich Lukas Anton Stein, 29, und Viola Aimée Waldeck, 27. Gemeinsam machen sie kulinarische Events verschiedenster Natur; momentan überwiegt freilich der Semesterende-Stress (Waldeck studiert Food & Design an der New Design University St. Pölten). Aber das sei ja auch der Reiz am Teilzeit-Küchenleben, sagen Waldeck und Stein: „Man ist flexibel, man hat Spaß, kocht das, was einem genau jetzt genau richtig vorkommt. Man hat freie Hand, kreativ zu sein, und man kann sich die Energie gut einteilen. Château Tingeling ist unser kreatives Outlet, eine Plattform, bei der es nicht nur um Dining geht, sondern um kreative Gesamterlebnisse, nicht nur um Essen und Trinken, sondern auch um Kunst, Design und Atmosphäre.“ Es geht, mit anderen Worten, um „Germknödel Saigon“ aus Wien in Paris. Schöne neue Welt.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.