Love me, Tinder! Über die Rückkehr des Sozialdarwinismus
„Diese erbärmliche, mit Blumensträußen und Theaterbesuchen vermischte Komödie nennt sich seiner Braut den Hof machen“, klagte der französische Philosoph und Schriftsteller Jean de la Bruyère im Paris des 17. Jahrhunderts.
Tinder hätte dem zwischengeschlechtlicher Höflichkeiten überdrüssigen Gelehrten gefallen. Auf der 2012 gestarteten Dating-App, die 2015 zum sexuellen Angelplatz Nummer eins weltweit avancierte, kommt man schneller und billiger als an jeder Bartheke ans Ziel, vor allem ohne „zache Labberflashs“, wie österreichische Web-2.0-Eingeborene das gute alte Anbahnungsgespräch bezeichnen.
Tinder (zu Deutsch: Zunder) revitalisiert mit der Perfektionierung des zwischengeschlechtlichen Pragmatismus auch das Prinzip eines brutalen Darwinismus. Denn es geht im Grunde nur um Äußerlichkeiten und das Motto „survival of the fittest“. Romantik gibt es allenfalls in Form eines Stahlbads, wie der Instagram-Blog Tinder Nightmares, wo Tausende der schlimmsten App-Erlebnisse gesammelt werden, dokumentiert: Derbe Anmachsprüche von „Alpha-Kevins“ (weibliche Definition für geistig beschränkten Netz-Macho) à la „Deine Titten sehen so traurig aus. Ich bin Arzt!“ oder „Willst du einen Milkshake mit mir trinken und danach auf meinem Gesicht sitzen?“ gehören unter „Tingles“ (auf Tinder pirschende Singles) zum Online-Alltag, die niemanden mehr zu spitzen Schreien des Entsetzens verleiten.
59 Prozent aller digitalen Schatzi- beziehungsweise Sex-Sucher sind auch in Österreich auf Tinder unterwegs.
Die – nach der Sesshaftwerdung der Urmenschen und der Erfindung der Antibabypille – dritte sexuelle Revolution, die durch das Internet vor zwei Jahrzehnten ihren Anfang nahm, hat nach Facebook mit Tinder zweifelsfrei eine neue Spitze erreicht. Rund 50 Millionen Menschen weltweit wurden 2015 auf der Dating-App registriert, inzwischen wird circa eine Milliarde Mal täglich gebalzt, pro User im Durchschnitt elf Mal am Tag. In 140 Ländern, angeführt von den USA, Großbritannien und Brasilien, und in 30 Sprachen matchen sich Paarungs- und natürlich auch Seitensprung-Willige, um ihrer Abenteuerlust Entfaltungsraum zu geben.
Der Altersschnitt der User liegt zwischen 18 und 24 Jahren (60 Prozent männlich, 40 Prozent weiblich), wobei die Altersgruppe der Endzwanziger bis Mittdreißiger stetig anwächst. Einen ähnlichen Entwicklungsverlauf nahm auch Facebook: In den ersten Jahren nach seiner Gründung 2004 galt das soziale Netzwerk vor allem als Bassena für spätpubertierende Teenies; inzwischen frönen unter den 1,35 Milliarden Nutzern deutlich mehr 25- bis 55-Somethings ihrem Befindlichkeitsexhibitionismus.
59 Prozent aller digitalen Schatzi- beziehungsweise Sex-Sucher sind auch in Österreich auf Tinder unterwegs. Nicht nur eine Beziehung ist zerbrochen, weil der Partner, der gerade eine Auszeit für sich beansprucht hatte, der tindernden Daheimgeblieben als potenzielles Match vorgeschlagen wurde. Der Begriff „Tinder-Revenge“, verfestigte sich unter späten Teenagern 2015 auch in unserem Sprachgebrauch: Die Zunder-Rache bezeichnet das schnelle Einloggen nach einer unfreiwilligen Trennung, um dem oder der taufrischen Ex zu demonstrieren, wie heiß der Verkehrswert des oder der Verlassenen noch immer ist. Die Sucht nach Anerkennung und Feedback für die narzisstischen Anteile der eigenen Psyche sind naturgemäß der Hauptmotor für jedwede Form von obsessivem Social-Media-Konsum.
Der zweifelhafte Hit-and-Quit-Ruf, der Tinder umwehe, so Rad im „Evening Standard“ , müsse eigentlich dem Feminismus angelastet werden.
Für die älteren Tinder-Debütanten, die mit dem hormonellen Geschwindigkeitsrausch der jungen App-Veteranen überfordert sind, haben sich die Macher kürzlich eine Zusatzfunktion einfallen lassen: Auf dem Zahlportal „Tinder plus“ (20 Dollar monatlich) kann man allzu hastig weggewischte Spielgefährten aus dem Orkus des Nicht-begehrt-Werdens wieder zurückholen. Im April 2015 zogen die Tinder-Betreiber noch eine kontrollverschärfende Transparenzebene ein: Ohne Preisgabe von politischen und religiösen Einstellungen und früheren sowie aktuellen Arbeitgebern darf nicht mehr gezundert werden. Denn wie auf vielen anderen Dating-Portalen kursierten auch auf Tinder jede Menge gefälschte Profile, hinter denen sich Prostituierte ebenso wie pädophile Triebtäter auf Kunden- beziehungsweise Opferfang begaben.
Trotz der fulminanten Zahlen war 2015 für Tinder-Gründer Sean Rad, rein imagemäßig, ein desaströses Jahr. Im August hatte das Hochglanzmagazin „Vanity Fair“ mit einer aufsehenerregenden Sozioreportage Tinder als einen Abschleppplatz für verrohte Wall-Street-Broker porträtiert, in dem New Yorker Single-Frauen sich aus purer Vereinsamungsverzweiflung auf die Schlachtbank begeben. Nach einer Klage wegen sexueller Belästigung aus dem eigenen Unternehmen, die nur durch Millionenflüsse abzuwenden war, schoss Rad im vergangenen November noch ein weiteres tragikomisches Eigentor. Als sich der Tinder-Mutterkonzern Match Group gerade für seinen Börsegang hübsch machte, demontierte Rad sich in einem Interview mit einer britischen Zeitung, indem er seine Vorliebe für Sodomie (im Englischen: Analverkehr) kundtat und eine seiner Tinder-Bekanntschaften mit vollem Namen outete. Rads bizarre Sexbeichte und der damit verbundene Misstrauensvorschuss bei den potenziellen Aktionären soll dem Mutterunternehmen laut „Financial Times“ beim Börsegang rund 60 Millionen Dollar weniger Erlös eingebracht haben. In der Erregung ging eine Bemerkung aus dem Interview unter, die man als zutiefst frauenfeindlich einstufen kann.
Der zweifelhafte Hit-and-Quit-Ruf, der Tinder umwehe, so Rad im „Evening Standard“ , müsse eigentlich dem Feminismus angelastet werden: „Die Frauen sind jetzt unabhängiger und werden auch sexuell aktiver. Dass es dadurch zu mehr und schnellerem Sex kommt, hat nichts mit Tinder zu tun.“
Nur um ein Haar hat der Begriff „Tinderella“ beim kürzlich erfolgten Jugendwörter-des-Jahres-2015-Rennen des Wörterbuch-Verlags Langenscheidt das Rennen gegen „Smombie“, ein Hybrid aus „Smartphone“ und „Zombie“, verloren. „Tinderella“ gilt als Synonym für junge Frauen, die auf Tinder erfolgreich jenes Benehmen kopieren, mit denen Männer die vergangenen zwei Millionen Jahre die Evolution am Laufen gehalten haben.
Nie war es einfacher, schnell und ohne Wareneinsatz oder Energieaufwand zu unverbindlichem Sex zu kommen.
Mit der Selektion der in nächster Nähe verfügbaren Männer, die den Cornetto-ähnlichsten Oberkörper und den verführerischsten Fuck-me-Blick bieten, wählen auch sie – ganz im Sinne von Charles Darwin – unbewusst jene Exemplare, die das größte Potenzial für erfolgreiche Fortpflanzung signalisieren. Unbewusst wohlgemerkt, denn Tingles leben hauptsächlich gemäß dem Oscar-Wilde-Aphorismus: „Wer unter die Oberfläche schaut, ist selbst schuld.“ Sie setzen in der Regel weder auf Romantik noch auf dauerhafte Beziehungen; hier kommen vielmehr Faktoren wie emotionale Ökonomie, Flüchtigkeit, Austauschbarkeit, rasche Entsorgung ohne deprimierende Nachwirkungen und problemfreie Nachbeschaffung ins Spiel.
„Tinder mit einer ernsthaften Partnerbörse zu verwechseln, ist ein fataler Fehler“, schrieb das Online-Medium „Huffington Post“: „Es geht vorrangig um das Spiel und die Selbstinszenierung.“ Schließlich ist die „Me-You-Balance“ (auch ein Langenscheidt-Unwort), welche die Befriedigung des eigenen Egos für wichtiger als alle Zweisamkeitsrücksicht erachtet, das oberste Gesetz der Generation Y. Mit „Welches Sternzeichen bist du?“- oder „Magst du Kinder?“-Geplauder halten sich echte Tinderellas nicht auf.
„Die größte Notwendigkeit ist die Einfachheit“, erläutert der iranischstämmige Tinder-Chef Sean Rad, 29, der im Gegensatz zu Mark Zuckerberg aus betuchtem Bel-Air-Milieu stammt, die Grundvoraussetzung für seinen Online-Erfolg. Und tatsächlich: Nie war es einfacher, schnell und ohne Wareneinsatz oder Energieaufwand zu unverbindlichem Sex zu kommen.
Die Anmeldung und Registrierung erfolgt über das „Zuck-House“ (so der Jargon unter Silicon-Nerds für Mark Zuckerbergs „Facebook“) mit den Angaben von Geschlecht, Alter, dem aktuellen Standort, einer Kurzbeschreibung und einem Foto, das wie ein Köder ausgeworfen wird. Und damit ist auch schon der „Fleischmarkt“, wie die Jane-Austen-Heroine Emma einst die Debütantinnenbälle der Regency-Periode bezeichnete, eröffnet. Innerhalb von – im Idealfall – Minuten wird der Tinder-User, wenn der Look und die Art der Selbstinszenierung passen, mit einer Flut von Bildern torpediert, deren Besitzer sich in praktischer Greifnähe befinden.
Seit den Neandertalern fürchtet sich der Mensch im sozialen Miteinander vor allem vor zwei Dingen: ausgeschlossen zu sein und zurückgewiesen zu werden.
Und dann tritt jenes Prinzip in Kraft, das „Yuccies“ (Young Urban Creatives, quasi die Kinder der Yuppies) zu obsessiven Tinderianern macht und einem hormonellen Zeitmanagement in seiner effizientesten Form gleichkommt: Mittels einer Wisch-Bewegung kann die Spreu vom Weizen getrennt werden. Wischt man links, wird er oder sie in das zwischengeschlechtliche Nirvana befördert, streicht man rechts (und die Gegenpartei hat auch grünes Licht gegeben), ploppt die Erlösungsformel „It’s a match“ auf, begleitet von dem – in der deutschsprachigen Variante – grammatikalisch nicht korrekten „Du und X steht aufeinander“, und die Chat-Pforten öffnen sich. Tatsächlich soll es nur bei 20 Prozent der „Matchmaker“ auch tatsächlich zu einem analogen Treffen kommen, das meist, so eine Interviewpartnerin bei einer profil-Feldumfrage unter Jugendlichen, „eher voll depro“ ausfällt. Doch auch hier tritt ein Facebook-ähnlicher Effekt ein: Zwar lamentieren die Benutzer über die Niveaulosigkeit der Mitglieder und deren Postings, bleiben aber ungeachtet des Gejammers weiter dran.
Seit den Neandertalern fürchtet sich der Mensch im sozialen Miteinander vor allem vor zwei Dingen: ausgeschlossen zu sein und zurückgewiesen zu werden. Besonders die Abfuhr-Panik wird auf Tinder, im dramatischen Kontrast zur analogen Wildbahn, eliminiert: Denn die, die links versenkt wurden, müssen nie davon erfahren.
Anthropologen, Sexual- und Genderforscher sowie Analytiker des digitalen Lebens sind sich einig: Tinder hat das Paarungs- und Beziehungsverhalten der Generation Y revolutioniert, radikalisiert, aber auch infantilisiert wie keine andere Online-Institution zuvor. Im Vergleich zu der raschen Anbagger- und auch schon wieder Entsorgungskultur, die die Erfolgsformel der App ausmacht, erscheinen Online-Paarvermittler wie Parship oder eDarling mit ihren ausgeklügelten Übereinstimmungslogarithmen so anachronistisch wie viktorianische Brieftauben. Auf Tinder haben Geschmacksgemeinsamkeiten wie Paulo Coelho, indische Küche und italienische Oper so wenig verloren wie der naive Glaube, durch dieses Instrumentarium den einzig richtigen Partner für das restliche Leben in den Einkaufswagen gelegt zu bekommen.
Man muss kein altmodischer Kulturpessimist sein, um unter das Phänomen einer solchen Sex-als-Snack-Entwicklung keinen Like-Daumen zu positionieren.
Als der Zukunftsforscher Matthias Horx vor zehn Jahren konstatierte, dass die Menschheit in ihrem Paarungsverhalten „die infantile Phase“ überwunden habe und man sich auf dem Weg in eine „reifere Liebeskultur“ befände, war Tinder noch nicht erfunden. Tatsächlich kann man die App auf einen globalen Beauty-Contest reduzieren, in dem die Diktatur der Attraktivität alle zivilisatorischen Errungenschaften, welche die Choreografie der zwischengeschlechtlichen Annäherung bestimmen, lahmlegt. Die israelische Soziologin Eva Illouz ortet in Tinder und seinen Derivaten den endgültigen Todesstoß für das „monogame Beziehungsmodell“. Im „emotionalen Kapitalismus“, der den Gesetzen der Konsum- und Wegwerfkultur sowie dem Prinzip von Angebot und Nachfrage unterliege, führe die Freiheit der Wahl auch zu einem stetigen Prozess von Abwägung und Vergleich sowie Überforderung und Orientierungslosigkeit.
„Eine Frau für schnellen, unkomplizierten Sex zu finden, ist auf Tinder so einfach, wie sich online eine Pizza zu ordern“, bringt ein 24-jähriger, von profil danach befragter User, warum er sich bis zu 30 Mal am Tag einloggt, die These der Soziologin auf einen pragmatischen Punkt.
Man muss kein altmodischer Kulturpessimist sein, um unter das Phänomen einer solchen Sex-als-Snack-Entwicklung keinen Like-Daumen zu positionieren. Das Schwinden der Empathie-Fähigkeit nach über einem Jahrzehnt Parallelleben in sozialen Medien wurde in Studien längst nachgewiesen – auch wenn „Playboy“-Gründer Hugh Hefner trotz seines hohen Alters noch immer der Überzeugung ist, dass es besser ist, „Sex ohne Liebe als gar keinen Sex zu haben“.