Luzides Träumen: Eine Gutenachtgeschichte
Von Eva Sager
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Es waren einmal eine Journalistin, eine superlustig klingende Idee und zwei leere Seiten in einem Magazin. Zugegeben, die meisten Gutenachtgeschichten beginnen um einiges spannender. Da geht es um Ritter und Hexen, ständig muss irgendjemand die Welt retten oder anderweitig Ventile für seine latent narzisstische Persönlichkeitsstörung finden. Also gut, ich beginne noch einmal, diesmal mit einer positiven Nachricht: Schlafen ist eines meiner besonders ausgeprägten Talente. Diese Geschichte baut dementsprechend auf einem soliden Fundament, schließlich bin ich Könnerin. Wahrscheinlich schlägt mir mein TikTok-Algorithmus auch deshalb seit Wochen eine Videoanleitung nach der anderen zum luziden Träumen vor. Die App kennt meine Stärken. Schlafen, aber luzid – kein Problem, gute Nacht! Kurze Frage noch: Was soll das überhaupt sein?
Ein luzider Traum oder Klartraum ist ein Traum, in dem sich der Träumer oder die Träumerin bewusst ist, dass es sich um einen Traum handelt, und dementsprechend in das geträumte Geschehen eingreifen kann. Einer der bedeutendsten deutschen Klartraumforscher, der Psychologe Paul Tholey, definierte es so: „Klarträume sind solche Träume, in denen man völlige Klarheit darüber besitzt, dass man träumt und nach eigenem Entschluss handeln kann.“ Die Fähigkeit dazu hat vermutlich jeder Mensch. Wenn man es nicht sowieso schon beherrscht, gibt es unterschiedliche Techniken, die dabei helfen sollen, diese Form des Träumens zu lernen. Und da kommt wieder mein TikTok-Algorithmus ins Spiel. Basierend auf meiner Begabung, was das Schlafen angeht, ist dieser wohl zum Schluss gekommen, ich sei fürs Klarträumen eine ganz ausgezeichnete Kandidatin. Die schlechte Nachricht: Mir fehlt nicht nur die Konsequenz, mich selbst herauszufordern, wenn ich müde bin, sondern auch jegliche Willensstärke, die fokussiertes Träumen voraussetzt. Die jungen Menschen auf der App meinen trotzdem, dass das alles gar nicht so schwierig sei. Gut, den Versuch ist es wert.
Versuchsnacht 1
Der Mann im Video sitzt in einem rot beleuchteten Raum. „How to lucid dream“ heißt es und hat über 700.000 Aufrufe. Er sagt, um klarzuträumen, müsse man beim Einschlafen einfach nur konstant in einer Position liegen bleiben und sich darauf konzentrieren, von welcher Situation oder Umwelt man träumen will. Er betont mehrmals, dass man sich dabei auf keinen Fall kratzen darf, sonst war alles umsonst und man müsse wieder von vorn anfangen. Mit dieser Technik träume er fast jede Nacht luzid, sehe irgendwann Farben und Lichter – und boom: „Welcome to your own alternate universe!“ („Willkommen in deinem eigenen Alternativuniversum!“)
Das klingt erst einmal recht vielversprechend, werden Sie sich denken – dachte ich ja auch. Einfach liegen und denken? Machbar. Rückblickend kann ich berichten: Es ist leider überhaupt nicht machbar. Schon „ruhig in einer Position zu liegen“ hat mich herausgefordert, vom Kratzen will ich gar nicht erst anfangen.
Das Ergebnis der ersten Versuchsnacht: kein luzider Traum. Um ganz ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal, ob ich überhaupt geträumt habe.
Versuchsnacht 2
Nach meiner ersten Blamage steht fest: Ich muss mich intensiver vorbereiten. Deshalb habe ich mir alle TikTok-Videos, die ich zum luziden Träumen finden konnte, angeschaut. Das ist per se schon eine ziemliche Leistung, weil sich meine Aufmerksamkeitsspanne durch die App auf ungefähr zehn Sekunden reduziert hat und die „lucid dreaming bubble“ gern mit Drei-Minuten-Videos arbeitet.
Ich lerne: vor elf ins Bett gehen, Wecker auf drei Uhr nachts stellen. Wenn er läutet, fünf bis zehn Minuten durch das Schlafzimmer gehen, dann weiterschlafen. Außerdem soll ich in meinem Traum unter keinen Umständen in einen Spiegel schauen, mein Hirn würde mir sonst etwas „aus den tiefsten Tiefen meines Bewusstseins zeigen“, und so etwas „Verstörendes“ würde ich wirklich nicht sehen wollen. Außerdem: Ja nicht nach der Uhrzeit fragen, sonst würden alle Menschen um einen herum „creepy“ werden.
Leider muss ich an dieser Stelle vermelden, dass es auch in Versuchsnacht zwei gar nicht so weit kommen konnte. Immerhin: Das traurige Bild, wie ich mitten in der Nacht orientierungslos durch die dunkle Wohnung falle, wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Weit hab ich es im Journalismus gebracht.
Versuchsnacht 3
Zeit, sich Unterstützung zu holen. Brigitte Holzinger vom Institut für Bewusstseins- und Traumforschung und dem Masterlehrgang Schlafcoaching der Medizinischen Universität Wien erklärt: „Natürlich kann man luzides Träumen lernen. Dafür braucht es meiner Ansicht nach generelle Umkehrprozesse. Das beginnt schon mit einem grundlegenden Interesse am Träumen. Außerdem kann ein Traumtagebuch helfen, sich besser an die eigenen Träume zu erinnern und damit einen neuen Zugang zum Träumen zu erschließen.“ Wichtig sei dabei aber, sich professionelle Unterstützung zu suchen. „Luzides Träumen ist kein Spielzeug. Unsere Träume spiegeln, soweit wir das aus der Psychotherapie wissen, grundlegende psychodynamische Gegebenheiten wider. Sich da ohne Begleitung hineinzustürzen, ist nicht für jeden vorteilhaft. Vor allem, wenn die Realitätsverhaftung kritisch ist, weiß man oft nicht, was das mit einem machen kann“, sagt Holzinger.
Ich starte meinen letzten Versuch also mit etwas Bauchweh, schließlich besteht meine professionelle Unterstützung derzeit aus fremden Jugendlichen im Internet, die Kurzvideos aus KI-Bildern zusammenschneiden und den Soundtrack von „Inception“ darunterlegen. Bei einem von ihnen habe ich gesehen, dass es helfen kann, sich untertags immer wieder die Frage zu stellen, ob man sich gerade in einem Traum befindet. Mein Unterbewusstsein werde das dann übernehmen und mich dasselbe auch im Traum fragen. Mein Unterbewusstsein mittlerweile kennend, blicke ich dieser Technik nicht sonderlich optimistisch entgegen. Schließlich bin ich schon um drei Uhr nachts durch meine Wohnung getigert, ohne dass ich in meiner Realitätsverhaftung auch nur ansatzweise erschüttert wurde. Es wundert wahrscheinlich niemanden, dass auch mein dritter Versuch kläglich scheiterte.
Aber keine Sorge, TikTok hat schon reagiert. Neuerdings überschwemmt es mich mit „Tutorials“ für Astralprojektionen und Seelenreisen. Die gibt es zwar garantiert nicht, aber dann wird wenigstens niemand enttäuscht, wenn es schiefgeht.
Eva Sager
seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Gesellschaft und Gegenwart.