Jahresausgabe

Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs

2022 setzte sich eine neue Art der Männlichkeit durch. Einige prominente Herren fielen damit ganz schön aus der Rolle, darunter Will Smith, Elon Musk oder Flynn Kliemann.

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Wir müssen, leider, über Männer reden. Leider, denn der Anlass ist ein unangenehmer. Eigentlich sind es mehrere Anlässe, sehr viele sogar, hier soll es aber nur um die allernotwendigsten gehen, also die prominentesten und damit wohl leider auch folgenschwersten. Die Männer, von denen hier die Rede ist, standen-mehr oder weniger lang-im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit und am Rande ihrer individuellen Zurechnungsfähigkeit. An diesem Rande des Nervenzusammenbruchs standen Verweigerung, Patzigkeit und wildes Um-sich-Schlagen, Letzteres manchmal leider auch physisch, zum Teil sogar in aller Öffentlichkeit. Schlimm, aber gut-vielleicht lässt sich daraus ja etwas lernen, für die Zukunft, für eine zukünftige Männlichkeit.

Diese definiert sich ja regelmäßig neu, wobei sich der Takt der Neuerfindung gesteigert hat. Stabile Rollenbilder haben sich in veränderlichen Zeiten als unhaltbar erwiesen-außer natürlich, man ist zum Beispiel Tiroler Seilbahnunternehmer und sich der eigenen Stabilität mehr als bewusst. Dann kann man auch auftreten wie der Tiroler Nationalratsabgeordnete Franz Hörl und als tragende Säule ganz selbstverständlich über weltanschaulichen Kleinigkeiten wie dem globalen Klimawandel oder der zwischenmenschlichen Solidarität stehen. Von solchen Ausnahmeerscheinungen abgesehen wurden Männer aber auch in diesem Jahr-in ihren Rollenmodellen jedenfalls-weicher, dabei zum Teil auch entspannter, was man früher einmal als Metrosexualität bezeichnet hat, bis man draufkam, dass es sich nur um einen Trick handelte, um mehr Hautcremes zu verkaufen. Heute kommt im Rahmen dieser Rollenverschmelzung allerdings vermehrt auch das Kind im Mann zu seinem Recht. Leider erwies es sich oft als unerzogenes, egoistisches, beim kleinsten Gegenwind sich schreiend auf den Boden werfendes Ekelpaket.

Am Anfang stand: großes Tennis. Der Erstplatzierte der ATP-Weltrangliste, Titelverteidiger und neunfache Melbourne-Sieger, also der serbische Tennisprofi Novak Đoković, wollte sich vor den Australian Open, die vom 17. bis zum 30. Jänner in Melbourne stattfanden, partout nicht gegen Covid-19 impfen lassen (oder dies jedenfalls nicht öffentlich bekannt machen),was seine Einreise nach Australien erheblich behinderte. Seine angebliche Ausnahmegenehmigung wurde von der Einwanderungsbehörde nicht anerkannt, Đoković in ein Abschiebehotel verlegt, es kam zu Verwerfungen zwischen Spieler, Turnierveranstalter, Regierung, Fans und Gegnern.

Der griechische Profi Stefanos Tsitsipas formulierte es neutral bis kritisch: "Eine sehr kleine Minderheit hat sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen. Das lässt die Mehrheit irgendwie wie Idioten aussehen." Am Ende stand allerdings die kleine Minderheit bedröppelt da. Am Ende nämlich, also nach einem Spruch des australischen Bundesrichters James Allsop, wurde Đoković von der Polizei zum Flughafen begleitet und in einen Emirates-Flug nach Dubai gesetzt. Seinen Platz im Turnier übernahm als Lucky Loser Salvatore Caruso, zu dem Zeitpunkt 150. der Weltrangliste. Đoković erklärte in einer ersten Reaktion, er wolle sich "Zeit nehmen, um mich auszuruhen und zu erholen", zudem sei er "extrem enttäuscht über das Urteil"-und erwies sich damit als totaler Zeitgenosse: Der Mann nimmt sich Zeit für sich, ist auf Achtsamkeit bedacht und scheitert vor lauter Ichbezogenheit bei der Gewaltenteilung. Justizielle Entscheidungen hin und her: Meine Gefühle sind stärker als deine Argumente!

So ganz ohne Weiteres wollte sich die alte Männlichkeit in diesem Jahr aber auch nicht geschlagen geben, sie beharrte auf ihren angestammten Rechten, zu denen selbstverständlich auch die großzügige Verteilung von Hausdetschn zählt. 27. März 2022, Los Angeles, Dolby Theatre: 94. Academy Awards Gala. Als bester Film wurde das Gehörlosen-Drama "Coda" ausgezeichnet, durch den Abend führten Regina Hall, Amy Schumer und Wanda Sykes; so richtig divers wurde es aber erst bei der Ankündigung des besten Dokumentarfilms (Oscar ging an: "Summer of Soul" über das Harlem Culture Festival 1969):Nach einem (für Eingeweihte) geschmacklosen Witz des Laudators Chris Rock, der auf Kosten der Schauspielerin Jada Pinkett Smith ging, betrat deren Ehemann Will Smith die Bühne, holte aus, schlug zu, ging wieder ab. Rock rieb sich die Wange, schaute verdutzt, machte weiter. Eine halbe Stunde später wurde Smith als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet (für seine Rolle als Tennis-Übervater Richard Williams in "King Richard") und sprach bei seiner Dankesrede unter Tränen von seiner gottgegebenen Aufgabe, "Menschen zu beschützen", plus: "Ich will ein Gefäß für die Liebe sein." Man kann das wohl unter "mixed signals" verbuchen.

Ganz andere Familienwerte wurden, wie man inzwischen weiß, im Kreis um Altkanzler Sebastian Kurz, Finanzminister a. D. Gernot Blümel, deren Kabinettsmitarbeiter sowie den ehemaligen Vorstand der Österreichischen Beteiligungsgesellschaft ÖBAG, Herrn Thomas Schmid, gepflogen. Während ihrer Zeit an der Spitze der Republik war den Beteiligten das wechselseitige Fort-und Vorankommen ein zentrales Anliegen; seit die Öffentlichkeit genauer weiß, wie sie dabei vorgingen, ist es mit der Freundschaft aber leider vorbei. Thomas Schmid sagte heimlich gegen seine ehemaligen Gefährten aus, diese patzten ihn daraufhin ganz öffentlich an; aus "Wir sind Familie!" wurde "Ich kenne diesen Menschen nicht". Stabile Werte? Alles nur Spaß! Als Gewinner steigt aus, wer die Sache nicht allzu ernst nimmt.

In eben dieser Disziplin haben Kurz & Co. heuer allerdings ihren Meister gefunden. Es handelt sich um den US-amerikanischen Krypto-Währungs-Unternehmer Sam Bankman- Fried. Der 30-Jährige wurde einem größeren Publikum zunächst als Hauptdarsteller seine eigenen Werbeinserate bekannt, in denen er, an der Seite wohlangezogener Menschen wie Gisele Bündchen, oft auch selbst zu sehen war, leider fast ausnahmslos in seiner Standarduniform, also in Tennissocken, Turnschuhen und locker sitzenden Bermudashorts. Die kurzen Hosen waren Programm, die versprochenen Werte luftig - sowohl in ökonomischer als auch in moralischer Hinsicht. In einer ersten Reaktion quittierte Bankman-Fried den Untergang seines Unternehmens, der über Nacht in die Milliardenpleite gekrachten Krypto-Handelsplattform FTX, mit einem Tweet an seinen größten Konkurrenten und Intimfeind, den Gründer der Krypto-Börse Binance, Changpeng Zhao: "Gut gespielt; du hast gewonnen." Die Anleger, deren Milliarden in Bankman-Frieds Krypto-Gruft verschwanden, werden das vielleicht nicht so entspannt sehen wie der geradezu bizarr phlegmatische Herr Bankman-Fried, der im Angesicht der Katastrophe bloß ein schulterzuckendes Als-wäre-nichts-Gewesen zur Schau stellte, eine toxische Wurschtigkeit. Der Kaiser war nicht komplett nackt, aber völlig blank, was Verantwortungsbewusstsein, Empathie oder auch nur Zerknirschung betrifft.

Aber Gefühle sind nun einmal, das wissen wir aus zahlreichen identitätspolitischen Lehrstücken, als effektive Tatsachen zu betrachten. Bankman-Fried hatte ein gutes Gefühl, und er verkaufte es auch bestens. Etwas Ähnliches hatte auch der niedersächsische Heimwerk-Influencer und "Indoormützenträger" ("Die Zeit") Fynn Kliemann gemacht -so lange es halt ging. Kliemanns Implosion vollzog sich im Mai, als der TV-Influencer und Anzugträger Jan Böhmermann in seiner Sendung "ZDF Magazin Royale" aufdeckte, dass Kliemann bei einem angeblich gemeinnützigen Coronaschutzmasken-Vertrieb durchaus eigennützig gewirtschaftet hatte. Die spaßgetriebene Weltverbesserung des manisch Kreativen schlug um in harte Selbstverteidigung. Die Mach-dich-locker-Kommune "Kliemannsland" distanzierte sich von ihrem Namensgeber, der aber doch nie ein Geheimnis daraus gemacht hatte, dass ihm Wohltätigkeit und Geschäftssinn kein Widerspruch sind. Und wenn die Work-Life-Balance derart ausgeglichen ist, wie sie das im Kliemannsland angeblich war, dann kann das Gleichgewicht zwischen moralischer Tat und asozialem Egoismus halt auch schnell einmal kippen. Also nahm Fynn K. in seiner Werkstatt einen der Filme des Jahres auf, eine knapp zweiminütige Wutrede gegen seine Hater, Journalisten und die "woke linke Szene", die ihm sein Anderssein madigmache, "gegen Regeln von Menschen mit ihren Scheiß-Zeigefingern, gegen die fucking Vorurteile den ganzen Tag, einfach eine Freiheit für die Art, wie du sein willst, und nicht wie jemand auf Twitter sagt, wie du sein sollst." Nachsatz (erregt):"Ey, ich krieg das einfach nicht in meinen Kopf. Und genau deswegen mach ich weiter. Und wenn ich Bock habe, einen Riesenpimmel ins Feld zu sprengen, dann spreng ich einen Riesenpimmel ins Feld. Und zwar für die Freiheit." Fight for your right to whatever.

Wenn einer in diesem Jahr Konventionen sprengte, dann war das allerdings ein hochrangiger englischer Politiker namens Boris Johnson, der sich als britischer Premierminister zwar an alle erdenklichen Strohhalme festklammerte, aber trotzdem per 6. September aufgrund schwerer Verfehlungen gegen Anstand, Moral und Wahrheit zum bloßen Member of Parliament for Uxbridge and South Ruislip degradiert wurde. Allerdings ließ er auch danach keine Gelegenheit aus, seine Haare in den Wind zu hängen und dabei möglichst wenig Haltung zu bewahren. Als ruchbar wurde, dass seine Nachfolgerin Liz Truss ihrerseits schon nach wenigen Tagen im Amt eines Nachfolgers bedürfte, unterbrach Johnson einen wohlverdienten Urlaub in der Dominikanischen Republik, um sich daheim in Stellung zu bringen. Nicht alle seine ehemaligen Untertanen fanden die Vorstellung eines doppelten Johnson prickelnd: Beim Boarding seines Flugs nach London buhten seine Mitreisenden Johnson relativ gnadenlos aus.

Ab einer gewissen Flughöhe profitieren Männer wie Frauen von der Aura des Amtes. In einer subversiven Volte gelang es in diesem Jahr einigen Inhabern solch hoher Positionen, dieselben durch grassierenden Unfug zu beschädigen. Das galt nicht nur für Boris Johnson, sondern insbesondere auch für den reichsten Menschen der Welt, den Unternehmer Elon Musk, der den ihn seit Jahren umgebenden Schein des entrückten Genies heuer doch mit einigem Anlauf befleckte. Insbesondere beim Versuch, die soziale Kurznachrichtenplattform Twitter nicht nur ökonomisch, sondern auch ideologisch an sich zu reißen, legte der immerhin auch schon 51-Jährige Geist und Gestus eines Halbstarken an den Tag, der sich und seine Meinung absolut setzt, selbst wenn er behauptet, unbedingt für Meinungsvielfalt einzustehen. Dazu hat Spinoza einmal etwas Wertvolles geschrieben: "Ich glaube, dass ein Dreieck, wenn es sprechen könnte, ebenso sagen würde, Gott sei herausragend dreieckig, dass ein Kreis sagen würde, Gott sei herausragend rund." Gott ähnelt insofern wohl einer Meinungsrakete auf dem Weg zum Mars. Elon Musk hat sich im Verlauf dieses Jahres, in dem er - unter anderem -Twitter mit erratischen Manövern in eine tiefe Sinn-und Werbekrise führte, sich in seiner Funktion als wankelmütiger Internet-Dienstleister in den russisch-ukrainischen Krieg einmischte und bei alledem auch noch als Weltmeister des geschmacklosen Bubenhumors inszenierte, unterm Strich als kindlicher Kaiser entpuppt. Es regiert das Gesetz der Sandkiste: Wer die Plastikschaufel in der Hand hat, knallt sie den anderen auf den Scheitel.

Vielleicht liegt es ja daran, dass so vieles, was uns hier als kindisch verkorkste Männlichkeit erscheint, in digitalen Umständen entstanden und gewachsen ist, in den Meinungsblasen und Echokammern, in die man nur laut genug hineinkrakeelen muss, um endlich und ausschließlich mit sich selbst zu reden. Dieser neuen Form der Isolationsfolter ist wohl auch der US-Musiker und Modeschöpfer Kanye West erlegen, der mit genialischen HipHop-Alben bekannt und danach leider immer schrulliger und schließlich wohl wirklich pathologisch wurde. In diesem Jahr schaffte er es, sich sowohl mit Antirassisten (die er mit einem White-Lives-Matter-Pulli provozierte) als auch mit Donald Trump anzulegen (dem er sich als Vize-Kandidat angedient, allerdings auch einen bekannten Holocaust-Leugner zum Abendessen in Mar-a-Lago mitgebracht hatte),allerlei antisemitische Aussagen unters Volk zu bringen und mit den späteren Rechtfertigungen alles nur noch viel, viel schlimmer zu machen. Am Ende saß West in der Talkshow eines mehrfach verurteilten Rechtsradikalen und erklärte, dass Hitler auch seine guten Seiten habe.

Merke: Nicht jede Perspektive trägt Früchte, die man auch genießen kann. Und wenn der neue Mann sich neuerdings auch am Kulturrelativismus versucht, mag das im Sinne der Dekonstruktion verkrusteter Strukturen sinnvoll erscheinen, aus der Sicht der TV-Zuschauer aber, nun ja, weniger. Bestes Beispiel: Gianni Infantino. Der FIFA-Boss war am Vorabend der WM in Katar, die ja von allerlei Bedenken moralischer, ökologischer, juridischer und weltanschaulicher Natur überschattet war, doch ein wenig von der Rolle. Seine Pressekonferenz zum Start des Turniers geriet dem 52-jährigen Schweizer gar zu einer öffentlichen Redetherapie. Infantino war, um es in der Sprache des Vorzeige-Metrosexuellen (und Katar-Werbeträgers) David Beckham zu sagen, etwas out of shape-und tanzte dabei auch identitätspolitisch auf dünnem Eis:  "Heute fühle ich mich als Katarer. Ich fühle mich als Araber. Ich fühle mich als Afrikaner. Heute fühle ich mich schwul. Heute fühle ich mich behindert. Heute fühle ich mich als Wanderarbeiter. Natürlich bin ich kein Katarer, kein Araber, kein Afrikaner, ich bin nicht schwul, ich bin nicht behindert. Aber ich fühle mich so, weil ich weiß, was es heißt, diskriminiert zu werden, tyrannisiert zu werden, als Ausländer in einem fremden Land. Als Kind wurde ich tyrannisiert, weil ich rote Haare und Sommersprossen hatte, außerdem war ich Italiener, also Sie können sich das vorstellen."

Oh Mann.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.