Was bedeutet das eigentlich: toxische Männlichkeit?
Markus Theunert
Wissenschaftlich ist der Begriff nicht klar definiert. Ich finde ihn trotzdem wertvoll, weil er zeigt: Es gibt gesellschaftliche Anforderungen, die erfüllen muss, wer als „richtiger Mann“ anerkannt sein will. Und diese Anforderungen sind ganz schön dysfunktional.
Warum ist das so?
Markus Theunert
Die Orientierung an traditionellen Männlichkeitsanforderungen – Härte, Stärke, Leistung – macht einsam, krank und bitter. Das ist wissenschaftlich bestens belegt. Die Fassade des allzeit souveränen Alles-im-Griff-Mannes zu pflegen, kostet unheimlich viel Energie und lässt lebenswichtige Kompetenzen verkümmern. Beispielsweise die Fähigkeit, sich Unterstützung zu suchen, wenn man allein nicht mehr weiterkommt.
Auf TikTok kursieren zahlreiche Videos zum Thema Männlichkeit, viele davon versprechen Fürsorge und „caring masculinity“. Was unterscheidet sie von offen frauenfeindlichen Videos wie jenen des Influencers Andrew Tate?
Markus Theunert
Andrew Tate ist die Galionsfigur einer erstarkenden Bewegung von verunsicherten Männern, die einer essentialistischen Männlichkeitsideologie anhängen. Diese behauptet, dass Kampf und Konkurrenz in der Natur des Mannes lägen, während sich die Natur der Frau in der Fürsorge erfülle. Wissenschaftlich ist das Unfug: Kultur- und epochenvergleichende Studien zeigen eindrücklich, wie veränderlich solche Zuschreibungen sind. Sie bieten aber unmissverständliche Orientierung. Für Männer, die unter Frauenemanzipation oder der Problematisierung traditioneller Männlichkeit leiden, ist das verführerisch. Videos wie jene von Jasper Brown sehe ich aber als Soft-Variante derselben Männlichkeitsideologie. Denn das Ganze ankert ebenso in der Idee, dass die Natur vorgebe, was „männlich“ ist. Aus meiner Sicht ist das ein altes Macho-Mindset in neuer Verpackung: Der männliche Überlegenheitsgestus bleibt ungebrochen. Neu ist nur, dass die Dominanz subtiler ausgeübt wird.
Welchen Einfluss haben solche Videos auf junge Männer?
Markus Theunert
Das ist noch kaum untersucht und kommt ganz auf die Empfänglichkeit der Betrachter an. Ich nehme aber schon wahr, dass solche Kanäle zusehends zur Sozialisationsinstanz für heranwachsende Männer werden. Das ist durchaus beunruhigend. Aber dass sich junge Männer an virtuellen Helden statt an realen Rollenmodellen abarbeiten, ist nichts Neues. Im Alltag von Kindern sind Männer noch immer Mangelware. Es ist schwierig, unter diesen Umständen eine realistische Vorstellung zu haben, was „Mann sein“ heißt.
In sozialen Medien sind aber zunehmend auch Väter mit Kleinkindern oder beim Erledigen des Haushalts präsent. Ist das kein Fortschritt?
Markus Theunert
Das hat sicher einen geschlechterpolitischen Nutzen, weil es väterliches Engagement fördert und normalisiert. Wichtig ist aber, dass Männer im Alltag präsent sind und tatsächlich ihre Hälfte der unbezahlten Care-Arbeit leisten. Wenn es bei der Inszenierung als Superdaddy bleibt, ist wenig gewonnen.
Stehen Väter heute vor anderen Herausforderungen als vor 50 Jahren? Was wird von ihnen erwartet?
Markus Theunert
Mehr Präsenz. Und zwar nicht nur zeitlich, sondern auch emotional. Gleichzeitig sind die Strukturen der Arbeitswelt immer noch stark auf den Vollzeiterwerbsmann ausgerichtet. Der Graben zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist enorm. In allen Milieus gelingt es bloß etwa der Hälfte der Väter, die sich egalitär in der Familie engagieren wollen, dies auch tatsächlich umzusetzen. Viele Väter lasten sich das als individuelles Versagen an. Das ist durchaus tragisch.
In den sozialen Medien erscheinen Männer häufig in Extremen: entweder in alten patriarchalen Verhaltensweisen oder im reflektierten feministischen Mannsein. Wie werden sich diese Männlichkeitsbilder weiterentwickeln?
Markus Theunert
Derzeit herrscht eine spannungsreiche Übergangssituation. Die alten Männlichkeitsanforderungen werden zwar problematisiert, haben aber ihre Wirkmächtigkeit keineswegs verloren. Junge Männer wollen auch heute noch zur Gruppe der „richtigen Jungs“ gehören, sind weiterhin bereit, dafür Risiken einzugehen, Mutproben zu bestehen. Gleichzeitig wird von denselben Jungen erwartet, dass sie soziale Kompetenzen entwickeln, empathisch und sensibel sind. Diese beiden Anforderungsprofile passen aber überhaupt nicht zusammen. Es ist völlig unmöglich, beides gleichzeitig zu erfüllen. Jungs werden mit dieser Überforderung weitgehend allein gelassen. Nur eine Minderheit nimmt das als Herausforderung an und sucht proaktiv nach Wegen, um zeitgemäß, fair und gut Mann zu sein.
Wie ist man „gut“ Mann?
Markus Theunert
Viele Männer sind verunsichert und wollen nichts falsch machen. Meine Erfahrung ist: Wenn man als Mann ernsthaft Verantwortung für seine Privilegien und seine Emanzipation übernimmt, darf man mit einer großen Fehlerfreundlichkeit rechnen. Nicht mehr akzeptiert wird dagegen die trotzige Vogel-Strauß-Haltung in der Hoffnung, diese ganzen Veränderungen aussitzen zu können.
Wie gehen Männer mit dem Stress sich verändernder Männerbilder um?
Markus Theunert
Befragungen zeigen immer dieselben Muster: Knapp ein Drittel lässt sich auf Veränderung ein. Ein weiteres Drittel wehrt sie fundamental ab und will zurück zur alten Geschlechterordnung. Das Drittel in der Mitte ist entscheidend. Ich nenne sie die passiv-ambivalenten Pragmatiker. Sie haben sich in ihren Einstellungen modernisiert, aber nicht in ihrem Verhalten. Der emanzipatorische Lack kann sich da schnell als ziemlich dünn erweisen. Sie sind deshalb die ideale Zielgruppe für männerrechtlerische Scharfmacher und deren verführerische Botschaft: „Sei einfach Mann.“
Wie kann männliche Emanzipation gesellschaftlich gefördert werden? An wen können sich Männer mit ihren Schwierigkeiten wenden?
Markus Theunert
Das eine sind Public-Health-Angebote, die von Männern aber viel seltener genutzt werden. Das andere ist die riesige Frage: Was können wir als Gesellschaft tun? Da braucht es eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage: Wollen wir wirklich eine Gleichstellung, die die männliche Norm unangetastet lässt – und Mädchen und Frauen primär dazu ermuntert, sich so zu verhalten, wie das bisher Jungen und Männern vorbehalten war? Natürlich ist es toll, wenn junge Frauen heute selbstbewusst in die Sphären von Macht und Geld vordringen. Aber als Gesellschaft braucht es doch die Einsicht, dass wir uns das Patriarchat ökologisch und gesellschaftlich nicht mehr leisten können.
Warum?
Markus Theunert
Das Patriarchat ist heute keine Herrschaft der Männer mehr, sondern die Herrschaft einer Männlichkeitsideologie, die es völlig normal erscheinen lässt, sich selber, andere und die natürlichen Lebensgrundlagen auszubeuten. Karrierefrauen geben dem Patriarchat frische Legitimation. Ein Resultat davon sieht man im Gesundheitsbereich: Die Lebenserwartung gleicht sich zwar an, aber nicht, weil Männer länger leben, sondern weil Frauen sich riskanter und gesundheitsschädlicher verhalten.
Was haben Sie in der Männerberatung über die Gefühlswelt Ihrer Klienten gelernt?
Markus Theunert
In unserem Beratungsalltag sind Trennung und Scheidung die dominierenden Themen. Das heißt aber, die meisten Männer suchen erst dann Unterstützung, wenn der Scherbenhaufen bereits angerichtet ist. Erst dann hinterfragen sie sich selbstkritisch: Will ich wirklich um jeden Preis Vollzeit erwerbstätig sein? Will ich meine Arbeit wirklich wichtiger nehmen als die Beziehung zu meinen Kindern?
Wie sehr tragen Kriege und Krisen zu solchen Unsicherheiten bei?
Markus Theunert
Je krisenhafter die Stimmung, umso größer die Sehnsucht nach dem starken Mann. Das lässt sich wissenschaftlich gut belegen. Umso erstaunlicher, dass es den konservativen Parteien nicht gelingt, den Männern in der Mitte ein vernünftiges Angebot zu machen, wie sie in passender Schrittlänge die geschlechterpolitische Transformation bewältigen können. Da gäbe es großen Bedarf. Die Bereitschaft dieser Männer ist da, sie wollen Beziehungen auf Augenhöhe führen, haben aber keine Ahnung wie. Die Vernachlässigung der Geschlechterpolitik durch konservative Parteien ist aus meiner Sicht eine gefährliche Schützenhilfe für Rechtspopulisten.