Markus Lust im Interview: "Die österreichische Light-Version eines Claas Relotius"
Das Konzert sollte wie das legendäre Woodstock-Festival werden, ein „Woodstock für Niederösterreich, quasi“. In „Semmelmenschen“, dem literarischen Debüt des ehemaligen „Vice“-Chefredakteurs Markus Lust, versuchen die Alt-68er einer niederösterreichischen Hippie-Kommune ein Protestkonzert gegen Sebastian Kurz und den politischen Rechtsruck zu organisieren. Helfen soll ihnen dabei Elenora und Philip, ein ganz normales Hipster-Pärchen aus der Bundeshauptstadt.
Die Idee für „Semmelmenschen“ hatte Markus Lust schon vor gut 20 Jahren. Seine damalige Freundin hatte ihn zu einem Wochenendausflug mit ihrem Vater, einem Hippie-Haschdealer, überredet. Die Sache mit Sebastian Kurz kam natürlich erst viel später hinzu, wie Lust im Gespräch mit profil betont. Veröffentlicht hat der 36-Jährige seine Erlebnisse aber erst jetzt. „Semmelmenschen“ ist ein autobiografischer Roman über Rechtsruck und Linkskollaps, zwischen Hipster und Alt-Hippies, Weltflucht und Smartphone-Sucht.
profil: In „Semmelmenschen“ spannen Sie einen Bogen von der 68er-Generation zur aktuellen schwarz-blauen Regierung. Wie geht sich das aus? Lust: Innenminister Herbert Kickl hat diese Kiste selbst aufgemacht – und zwar in einem Interview mit der „Tiroler Tageszeitung“. Kickl hat die Heimatsuche von FPÖ-Wählern in Opposition zu den Sinnsuchgedanken der 68er gestellt. Und ich hatte endlich die nötige Dringlichkeit für meine Geschichte.
profil: Was haben die Selbstfindungstrips von Alt-Hippies mit der aktuellen Regierung zu tun? Lust: Ich wollte aufzeigen, dass ein gewisser esoterischer Unsinn, der schon bei den Hippies beliebt war, heute wieder auf fruchtbaren Boden stößt. Vom Buddhismus-Blödsinn und Selbstfindungstrips ist es eben nicht weit zu Energieringen, Humanenergetik oder Homöopathie. Wir erleben heute einen Neuaufguss des faktenbefreiten Hippie-Zeugs in Form einer rechten Reinkarnation.
profil: Bundeskanzler Kurz wird in Ihrem Buch nur als „Babyhitler“ bezeichnet. Dennoch wurde das Buch vom Bundeskanzleramt gefördert? Lust: Sogar mit freundlicher Unterstützung! Das ist das Schönste an dem Ganzen. Man kann den Verantwortlichen wohl unterstellen, dass sie den Roman nicht sehr weit gelesen haben.
profil: Ihr Hauptprotagonist Philip ist Journalist und wittert beim Besuch der Hippiekommune die große, preisverdächtige Story. Liest sich Ihr Roman nach den Manipulations-Enthüllungen beim „Spiegel“ heute anders? Lust: Das stimmt wohl. Mein Hauptcharakter ist die österreichische Light-Version eines Claas Relotius. Er leidet unter dem journalistischen System, hatte bereits einen kleinen Erfolg in der Branche und ist jetzt auf der Suche nach der großen Geschichte. Er besitzt zudem die Bereitschaft, die tatsächlichen Geschehnisse ein wenig zu verändern, damit seine Geschichte dann auch stimmig ist.
profil: „Semmelmenschen“ scheint österreichweit der erste Roman zu sein, der mit Sternchen gendert. Meinen Sie, dass Sie gesellschaftlich etwas bewegen können? Lust: Ich habe mich selber gefragt, ob es überhaupt zulässig ist, in der Literatur zu gendern. Heute weiß ich, dass das bestens funktioniert. Geglückt ist dieses Experiment dann, wenn sich auch etwas ändert – und wenn es nur ein paar Leserinnen und Leser zum Nachdenken anregt.
profil: In Ihrem Roman verwenden Sie Emoticons wie ¯\_(ツ)_/¯, Sie arbeiten mit unzähligen Versatzstücken und popkulturellen Zitaten. Wollten Sie den Literaturbetrieb provozieren? Lust: Es war mehr ein Abreagieren, vielleicht auch eine Art Rebellion. Rein aus Prinzip wollte ich aber nie provozieren. Wenn es nur um die Provokation geht, ist man sehr schnell da, wo auch „Vice“-Mitgründer Gavin McInnes heute ist: nämlich in der Alt-Right-Ecke. Auch der Literaturbetrieb ist mir herzlich egal. Ich habe mich noch nie gefragt, wie es ist, beim Bachmannpreis zu lesen.
profil: Auch stilistisch halten Sie sich nicht an gängige Konventionen? Lust: Rhetorik ist die Kunst der angemessenen, nicht der schönen Sprache. Wie sollen junge Menschen sonst reden und schreiben? Ohne Internet-Sprache, Ich-Marketing, Emojis und popkulturelle Referenzen? Das gehört heute alles dazu.
profil: In Ihrem Roman geht es auch um Beziehungen zwischen Vätern und Töchtern, zwischen jungen Pärchen, um das Zusammenleben in einer Kommune. Haben Sie an der Arbeit an Ihrem Buch auch etwas für Ihr Leben gelernt? Lust: Man lernt vor allem Empathie. Beim Schreiben geht es ja hauptsächlich darum, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Man versucht die Welt aus Sicht seiner Protagonisten zu sehen, egal ob es sich dabei um den Chauvinisten-Vater oder die homöopathisch angehauchte Hundesalonbesitzerin dreht. Um die eigene Lebensaufarbeitung ging es mir beim Schreiben nicht.
Markus Lust: „Semmelmenschen“ (Achse Verlag), 411 Seiten, 18,50 EUR.