Mathew Ingram: „Vielleicht schaut die EU in die falsche Richtung“
profil: Wir Journalisten empfanden uns traditionell als Gatekeeper – als diejenigen, die entscheiden, was von öffentlicher Relevanz ist. Ist diese Selbstbeschreibung zunehmend lächerlich, weil Google und Facebook diese Aufgabe übernommen haben? Mathew Ingram: Diese Gatekeeper-Mentalität ist vorbei. Das beschreibt längst nicht mehr, wie Medien funktionieren. Einst hatten Zeitungen, Radio- und TV-Stationen ein Monopol über die Vertreibung von Inhalten. Sie kontrollierten, welche Informationen die Menschen erhielten. Im Grunde war das undemokratisch, denn Bürger sollten selbst entscheiden. Jetzt haben wir jedoch noch stärkere Gatekeeper. Sie heißen Facebook und Google. Der Facebook-Algorithmus bestimmt, was man im sogenannten „NewsFeed“ angezeigt bekommt. Er übernimmt somit die Rolle, die einst Journalisten innehatten. Eines schockiert mich dabei wirklich: 60 Prozent der User wissen nicht, dass ihr NewsFeed gefiltert wird.
profil: Die Algorithmen von Google und Facebook entscheiden, welche Inhalte sie uns anzeigen. Ist das ein Problem, wenn viele Bürger gar nicht wissen, wie mächtig diese Algorithmen sind? Ingram: Ich halte es dann für gefährlich, wenn Menschen glauben, sie hätten einen ungefilterten Blick auf die Welt, und dem nicht so ist. Das Problem ist: Wir wissen ja alle nicht, was uns nicht eingeblendet wird. Das sagen uns diese Sites nicht. Gewiss, früher wusste man auch nicht, warum ein Zeitungsredakteur eine Geschichte auswählte und eine andere nicht. Doch heute ist die Situation verschärft. Einst gab es Hunderte Zeitungen mit verschiedenen Redakteuren, heute gibt es zwei große Plattformen, deren Algorithmen ein Mysterium sind.
Facebook und Google sind wie ein Magier, der nicht in seine Trickkiste blicken lassen will
profil: Wäre es denn möglich, mehr Transparenz bei diesen Algorithmen einzuführen, ohne gleich alle Firmengeheimnisse offenzulegen? Ingram: Wenn Facebook und Google das wollten, ginge das schon. Allerdings ruht ein großer Teil ihrer Macht auf dem Algorithmus. Sie sind wie ein Magier, der nicht in seine Trickkiste blicken lassen will. Natürlich könnten sie transparenter sein, Facebook könnte etwa dem User erlauben, dass er selbst festlegt, wie seine Beiträge gefiltert werden sollen. Doch eine solche Option fehlt. Facebook zeigt uns stattdessen jene Meldungen an, von denen es glaubt, dass wir sie sehen wollen.
profil: Hierfür beobachtet Facebook unser Verhalten, registriert, wo wir auf „gefällt mir“ klickten, welche Links wir ansteuerten und mit wem wir viele Nachrichten austauschen. Ingram: Genau. Und man weiß oft nicht: Warum zeigen die mir jetzt ausgerechnet diesen Beitrag an? Habe ich da irgendwo mal auf „Like“ gedrückt oder warum? Nehmen wir an, Facebook blendet irgendwann die Beiträge jener Firmen aus, die keine Werbung auf der Seite schalten – wir würden das gar nicht wissen.
profil: Glauben Sie denn, dass das eine realistische Gefahr ist? Ingram: Ich halte es zumindest für ein Risiko, nicht zu wissen, was verborgen bleibt. Insbesondere ist das ein Risiko, wenn diese Plattformen immer bedeutender werden und man statt 100 Zeitungen nur noch eine Informationsquelle hat.
profil: Ist das denn schon der Fall in den USA? Bei österreichischen Medien nicht. Der Großteil der Leser steuert direkt die eigene Website an, viele User kommen auch über Google. Erst an dritter Stelle sind die sozialen Medien, die Zugriffe bringen. Ingram: Bei uns ist das ein riesiges Thema. Die sozialen Medien lösen die Suche ab. Wenn Österreich einem ähnlichen Muster folgt, werden Sie Folgendes erleben: Die direkten Zugriffe sinken, der Traffic über die Suchmaschine steigt zuerst und geht dann zurück. Und Facebook holt auf. Einige Medien, vor allem jene mit starker Onlinepräsenz, kriegen den Großteil ihrer Zugriffe über soziale Medien wie Twitter, Facebook, Instagram, Snapchat. Rechnet man Google und Facebook zusammen, haben die den weitaus größten Einfluss, wie Menschen an Nachrichten herankommen. Das ist so, als hätten Google und Facebook den Großteil der amerikanischen Zeitungsstände und Trafiken gekauft.
profil: Warum sind die Nordamerikaner dann nicht alarmierter? Ingram: Sind wir ja durchaus. Nur gibt es da nicht viel, was man machen kann. Das ist so, wie wenn man sich über das Wetter aufregt. Das Ganze hat ja nicht nur Risiken, sondern auch seinen Nutzen. Der Vorteil für viele Leser ist, dass sie Informationen heute leichter erhalten. Der Nachteil ist, dass man sehr viel Macht an diese Unternehmen abgibt.
Auch wenn eine Firma gar nicht böse ist, folgt sie ihren eigenen Interessen – was zu Problemen für die Gesellschaft führen kann
profil: In Europa haben wir gerade eine ganz andere Debatte: Google ist hier das große Thema, neun von zehn Suchanfragen laufen über Google. Nun prüft dies auch die EU-Kommission als Wettbewerbsbehörde. Was halten Sie davon? Ingram: Vielleicht schaut die EU in die falsche Richtung. Google wird schwächer, Facebook stärker. Mich erinnert das an das Wettbewerbsverfahren gegen Microsoft. Als die Regulatoren zu einem Ergebnis kamen, hatten sich die Marktbedingungen bereits verändert. Die Konkurrenz hatte Microsoft mehr geschwächt als jede Wettbewerbsbehörde. Ich weiß schon: Nicht jeder stimmt mir da zu. Aber ich glaube, es war zu spät, als man da einschritt. Da kamen schon wieder ganz neue Probleme auf. Google wurde gerade groß. Heute ist Google das neue Microsoft, sein Einfluss auf den Markt nimmt ab. Die sozialen Medien sind im Aufschwung. Sie sind auch geschickter beim Einbauen von Onlinewerbung, das macht Facebook potenziell zu einem größeren Risiko.
profil: In Europa sehen das einige wohl anders: Da wird das Microsoft-Verfahren oft als großer Erfolg der Wettbewerbshüter gesehen, weil es auch ein Signal an amerikanische IT-Konzerne war: Sie müssen sich an die Gesetze halten. Ingram: Da ist etwas dran. Auch wenn eine Firma gar nicht böse ist, folgt sie ihren eigenen Interessen – was zu Problemen für die Gesellschaft führen kann. Es hat durchaus seinen Nutzen, wenn man Unternehmen recht streng beäugt. Nur was mir missfällt, wäre eine Art Tunnelblick, bei dem die Regulatoren auf Google fokussieren, während Facebook die soziale Infrastruktur und den Nachrichtenmarkt übernimmt.
profil: Sollte sich die EU-Kommission also auch Facebook ansehen? Ingram: Ich sage nicht, dass ein Wettbewerbsverfahren notwendig ist. Es lohnt sich zumindest, Facebooks Position nicht außer Acht zu lassen.
profil: Nun hat die renommierte „New York Times“ angekündigt, dass sie mit Facebook kooperieren will. Die Artikel der Zeitung sollen auf Facebook-Servern gespeichert werden. Man muss gar nicht mehr die Site der Zeitung aufrufen, sondern liest die Inhalte direkt auf Facebook. Ingram: Mich beunruhigt das. Man gibt dabei sehr viel auf. Facebook erreicht mehr als eine Milliarde Menschen, und die Plattform verspricht nun, dass viele Menschen die Inhalte der „New York Times“ schneller auf den mobilen Geräten angezeigt bekommen. Viele Zeitungen tun sich am mobilen Markt schwer, ihre Websites werden nur sehr langsam geladen. Facebook will das beschleunigen und die Kooperationspartner auch an Werbeeinnahmen beteiligen. Das klingt gut, birgt aber auch ein Risiko. Denn was passiert, wenn Facebook irgendwann nicht mehr so sehr an der eigenen Marke und diesen Inhalten interessiert sind?
profil: Sie fürchten also, dass sich Medien zu sehr dem Facebook-Algorithmus ausliefern – denn heute hilft ihnen Facebook vielleicht noch, viel Aufmerksamkeit zu bekommen, und morgen ebbt das total ab? Ingram: Denken Sie nur an Zynga – das war diese Spielefirma, die mit Facebook zusammenarbeitete.
profil: Die programmierten Spiele wie Farmville? Ingram: Genau. Sie kooperierten mit Facebook und brachten Millionen von Menschen dazu, ihre Games zu spielen. Sie verdienten damit ein Heidengeld. Irgendwann entschied sich Facebook, dass es Spiele nicht mehr so sehr in die Auslage stellen will. Und damit war das Geschäftsmodell dieser Firma fast über Nacht verschwunden. Dieses Risiko sollte man ernstnehmen. Man geht eine symbiotische Beziehung ein, und wenn Facebook daran kein Interesse mehr hat, schaut man durch die Finger.
Zur Person Mathew Ingram, 52, ist einer der renommiertesten nordamerikanischen Technikjournalisten. Der Kanadier arbeitet für das Wirtschaftsmedium „Fortune Magazine“, ist dort als „Senior Writer“ beschäftigt und schreibt über die gesellschaftliche Bedeutung der sozialen Medien. Kürzlich trat er beim „International Journalism Festival“ in Italien auf und wurde dort von profil befragt. Man kann ihm auf Facebook und Twitter folgen (Username: @mathewi).