Medienforscher Edgerton: "Fernsehen ist der Rock´n´Roll der Gegenwart"

Der amerikanische Medienforscher Gary Edgerton erklärt, warum TV-Serien heute provokant sind wie nie zuvor.

Drucken

Schriftgröße

profil: Warum ist die Fernsehunterhaltung gerade jetzt in einer solchen Hochform? Gary Edgerton: Um zu verstehen, warum das so ist, ist ein kurzer historischer Exkurs nötig: In den 1970er-Jahren gab es nur wenige Sender, die sich so breitenwirksam wie möglich aufstellen mussten. Eine typische Serie dieser Zeit ist die "Bill Cosby Show“. Wir Wissenschaftler verwenden für das damalige Fernsehen den Begriff LOP (Anm.: Least Objectionable Program), was heißt, dass der Zuseher beim Durchzappen auswählt, was ihn am ehesten anspricht und ihn nicht sofort weiterschalten lässt. In dieser Zeit ging es mehr um den Konsum des Mediums Fernsehen an sich.

profil: Ist das heute nicht mehr so? Edgerton: Statt einer Breitenwirksamkeit ist die Konzentration auf einzelne Zielgruppen wichtig geworden. Nun gibt es unzählige Sender - ein durchschnittlicher Haushalt in Amerika empfängt 650 - doch jeder Einzelne konsumiert in der Regel nur 15 bis 17. Statt Sendungen werden nun ganze Sender nach den persönlichen Präferenzen ausgewählt. "Breaking Bad“ zum Beispiel ist für junge, urbane und liberale Menschen gemacht. Das sind in den USA nur ein paar Millionen, aber wer den Großteil diese Gruppe gewinnen kann, der hat heute mehr Erfolg als mit einem Mainstream-Programm.

profil: Früher waren US-Serien prüde, heute ist extrem viel Gewalt und Sex zu sehen. Die Hauptfiguren sind brüchig, psychisch gestört und widersprüchlich. Wie kam es zu diesem Wandel? Edgerton: Die strukturellen Veränderungen haben es Drehbuchautoren und Produzenten ermöglicht, endlich Serien kreieren zu können, die ihnen selbst ein Anliegen waren. Und das schlägt sich wiederum auf die Qualität nieder. Durch die Fokussierung auf Zielgruppen musste auch nicht mehr jugendkonform produziert werden. Daher ist das Fernsehen zur sowohl dominantesten wie auch provokantesten Kunstform aufgestiegen. Die Serie "Die Sopranos“ des US-Fernsehprogrammanbieters HBO läutete diese Ära ein. Wer hätte vor 15 Jahren gedacht, dass eine Serie über einen psychisch angeknacksten, depressiven Mafia-Boss erfolgreich sein kann? HBO war übrigens der erste Produzent, der erkannt hat, dass Qualität wichtiger ist als Quantität - und das durchschnittliche Serien-Budget auf zwei Millionen Dollar pro Stunde Sendezeit verdoppelt hat.

profil: Stichwort Netflix: Wird das Internet unser Serien-Konsumverhalten nachhaltig ändern? Edgerton: Ja. Serien werden heute wie Bücher konsumiert: Wer gerade Zeit hat, sieht sich mehrere Episoden hintereinander an, dazwischen können aber auch ein paar Wochen Pause eingelegt werden, ohne dass die Gefahr herrscht, etwas zu versäumen. Der Konsum findet jedoch noch immer hauptsächlich zu Hause statt, da das Smartphone dafür zu unkomfortabel ist.

profil: Ist dieser Serien-Hype nicht auch eine hervorragende Chance für Schauspieler, ihr künstlerisches Image aufzuwerten? Edgerton: Natürlich. Nehmen wir nur Walter White, die Hauptfigur von "Breaking Bad“. Die ganze Serie dauert insgesamt 62 Stunden. Und in diesen durchlebt der biedere Chemielehrer eine 180-Grad Wandlung zu einem kaltblütigen Killer und Kriminellen. Das wäre in einem Film von zwei Stunden kaum möglich. Außerdem sehen wir bereits, dass immer mehr Top-Schauspieler in Serien mitwirken, was vor zehn Jahren noch undenkbar erschien. Nehmen wir nur einmal Matthew McConaughey: Ich glaube, dass seine Rolle in "True Detective“ ihm eigentlich zu seinem Oscar verholfen hat. Er hat zwar für "Dallas Buyers Club“ gewonnen, aber zeitgleich kam "True Detective“ heraus, eine Serie, die viel mehr Menschen gesehen haben. Diese Präsenz hat bestimmt positiv auf seine Gewinnchancen eingewirkt.

profil: Würden Sie also Leonardo DiCaprio raten, auch eine Rolle in einer Serie anzunehmen, um endlich einen Oscar zu gewinnen? Edgerton: Ja, das sollte er vielleicht tun. Das Kino wird überleben, aber die Firewall zwischen Fernsehen und Film wird fallen. Wir werden in Zukunft mehr Schauspieler der A-Liste in Serien sehen. Heutige Blockbuster wie "The Hunger Games“ oder "X-Man“ werden für 19- bis 29-Jährige produziert. Menschen jenseits dieser Altersgruppe sehen immer lieber Serien, da es für sie dort ein passenderes Angebot gibt.

Zur Person:

Gary Edgerton, 62,

ist Dekan des Kommunikationswissenschaftscollege der Butler University in Indianapolis und einer der Herausgeber des "Journal of Popular Film and Television“. Er hat elf Bücher zum Thema Fernsehen und Film verfasst, in seinem Werk "The Columbia History of American Television“ beschreibt er die Geschichte des amerikanischen Fernsehens. garyedgerton.com