"Mein Penis war eine Behinderung"

Susanne* war einmal ein Mann, wehrt sich aber gegen den Begriff Transfrau. Eine aufschlussreiche Begegnung mit einer Leserin.

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Wann ist eine Frau eine Frau? Oder: Muss man als Frau geboren sein, um als solche zu gelten?

Je mehr man über diese Frage nachdenkt, desto schwieriger wird es, eine Antwort darauf zu finden. Ich nahm sie vor Kurzem zum Anlass, einen Kommentar über die zunehmend aggressive Debatte zu schreiben, die – vor allem im Internet – über Transpersonen geführt wird (profil 17/21). Kurz gefasst ging es um die Frage, ob es einen biologischen Unterschied gibt zwischen Personen, die als Frauen geboren wurden, und sogenannten Transfrauen, also als Männern geborenen Menschen, die sich weiblich identifizieren. Einige Prominente, darunter die Harry-Potter-Schöpferin J. K. Rowling, entfachten mit ihren Antworten auf die Frage nach dem Geschlecht heftige Debatten. Rowling hatte sich vor fast einem Jahr in einem Tweet über die Formulierung „Menschen, die menstruieren“ lustig gemacht und damit auf diesen biologischen Unterschied gepocht. Außerdem erklärte sie, sich nicht mit Menschen mit einem Penis eine Umkleidekabine teilen zu wollen. Das hatte einen globalen Shitstorm zur Folge. Selbst die HauptdarstellerInnen der Harry-Potter-Filme, Emma Watson und Daniel Radcliffe, tadelten die Erfinderin ihrer Filmfiguren scharf.

Unter Transaktivistinnen gelten Feministinnen, die einen Unterschied zwischen Frauen und Transfrauen sehen, als TERFs: Trans-Exclusionary Radical Feminists, also im weiteren Sinne als diskriminierende, radikale Feministinnen.

In meinem Kommentar habe ich dennoch auf der Existenz des biologischen Geschlechts beharrt.

Bereits am Tag nach der Veröffentlichung schrieb mir eine Leserin, wir wollen sie hier Susanne nennen, ein Mail. Ich habe ihre Gefühle verletzt, weil ich auch sie als „Transfrau“ klassifizieren würde – ein Begriff, den sie als zutiefst stigmatisierend empfindet.

Susanne ist Ende 30 und lebt seit elf Jahren als Frau. Ihre Vergangenheit sieht man ihr nicht an, nicht einmal ihre Freundinnen wissen, dass sie einmal ein Mann war. Dem ersten E-Mail folgten viele weitere - und die Vereinbarung, sich für ein Interview zu treffen. Am Freitag vergangener Woche besuchte ich Susanne in ihrer kleinen Wohnung in einer Stadt in der Steiermark, wo sie seit einigen Jahren lebt. Am Eingang beim Spiegel hängen Ohrringe und Ketten, im Vorzimmer stehen zahlreiche Schuhe - auch Laufschuhe, denn Susanne trainiert für den Triathlon. Wir setzen uns in die Wohnküche, Susanne trinkt ein Feierabend-Bier. Vor einer Stunde hat ihre Schicht als Facharbeiterin geendet, es geht ins Wochenende.

profil: Wieso hat mein Kommentar Sie gekränkt?

Susanne: Der Begriff "Transfrau" ist für mich verletzend und diskriminierend, weil ich nicht unterscheide. Ich bin eine Frau. Das trifft nicht auf jede zu, die den Weg der Geschlechtsangleichung gegangen ist, das sehe ich auch so. Man sollte nicht nach Belieben seinen Personenstand ändern können, es gehören gewisse Grundvoraussetzungen dazu.

profil: Welche denn?

Susanne: Man muss Hormone nehmen, das ist das Minimum. Auch die geschlechtsangleichende Operation gehört in meinen Augen dazu. Ich kann doch mit Penis keine Frau sein!

profil: Da würden Ihnen wohl die meisten Leute zustimmen.

Susanne: Aber nicht alle. In der Queer-Community ecke ich mit dieser Einstellung an. Ich bin streng - und sehe die Bedingungen für mich erfüllt. Ich habe dank Logopädie eine weibliche Stimme, ich habe keine Körperbehaarung wie ein Mann - und ich habe eine Vagina.

In der gemütlichen Wohnküche hängen zahlreiche Bilder, Kunstdrucke, auf einem räkelt sich eine nackte Frau. Vor zehn Jahren hat sich Susanne umoperieren lassen. Bei der sogenannten Neovagina werden Penis und Hoden entfernt, die Eichel wird zum Kitzler, nur die Prostata bleibt erhalten. Steht Susanne nackt vor ihnen, erkennen nicht einmal Ärzte auf den ersten Blick, dass sie einmal ein Mann war. Am Tag der Operation erlebte sie so etwas wie eine Wiedergeburt. "Das war eine Heilung", sagt Susanne, "für mich war das Thema Transsexualität damit abgeschlossen. Ich bin eine Frau."

Für ihre Mutter war das zunächst ein Schock. Auch sie lebt in einer Kleinstadt in der Steiermark, Susannes Verwandlung wird zum Dorftratsch: "Für meine Mutter war das sicher eine Herausforderung." Doch viele, die Susanne schon lange kennen, sind nicht allzu überrascht: "Die haben etwas geahnt und fanden meine Entscheidung gut. Meine Mutter hat überwiegend positives Feedback bekommen." Wenn die Leute ihr die Frage stellten "Wie geht es deinem Sohn?", pflegte die Mutter von da an zu sagen: "Den gibt es nicht mehr. Der ist jetzt die Susanne."

Als die "Stadttratschen" ihr einmal ihr Mitleid ausspricht, meint die Mutter: "Was ist denn, wovon redest du? Ist jemand gestorben? Es passt eh alles, der Susanne geht es blendend."

profil: Sie haben sich verletzt gefühlt, weil ich schrieb, dass es einen Unterschied gibt zwischen als Frauen geborenen Menschen und Transfrauen.

Susanne: Ich bin laut offizieller Nomenklatur eine "Transfrau". Ich sehe aber bis auf meine Chromosomen keinen biologischen Unterschied zwischen Ihnen und mir.

profil: Bis auf die Chromosomen. Es gibt also doch einen Unterschied!

Susanne: Ja, den sieht man aber nicht

profil: Man sieht vieles nicht. Es gibt auch Frauen ohne Gebärmutter.

Susanne: Stimmt. Ich habe einfach mit dem Begriff "Transfrau" ein Riesenproblem. Ich sehe mich nicht als solche, und ich habe ein Problem mit Leuten wie Rowling, also Außenstehenden, die mich in eine Schublade stecken wollen.

profil: Rowling sagt, sie will nicht mit einem Menschen, der einen Penis hat, in der Umkleidekabine sein.

Susanne: Das will ich auch nicht. Ich würde es aber nicht aussprechen.

profil: Wieso nicht? Rowling hat schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht und sagt: Wer einen Penis hat, der ist ein Mann.

Susanne: Das sage ich streng genommen auch. Aber: Rowling hat nicht das Recht zu entscheiden, wer als "Transfrau" gilt. Da sind wir bei der lächerlichen Identitätspolitik. Nur: Wenn man sich selbst in einer solchen Situation befindet, ist es plötzlich nicht mehr so lächerlich. Es fühlt sich schrecklich an, wenn ein Fremder, der meine Geschichte nicht kennt, mich in Schubladen steckt. Wenn wir schon beurteilt werden, dann von Menschen, die etwas Ähnliches erfahren haben. Rowling würde mich nicht als "Transfrau" erkennen, mich aber, würde sie meine Geschichte kennen, so klassifizieren.

Mann zu sein, war für Susanne von Kindheit an eine Qual. Schon im Volksschulalter zog sie heimlich die Kleider und Röcke ihrer Mutter an: "Ich wollte mich nicht als Mädchen verkleiden. Ich wollte eines sein."

Der alleinerziehenden Mutter fällt das auf, sie spricht Susanne darauf an, doch diese leugnet alles: "Später hat sie mir Röcke genäht. Geredet haben wir darüber aber nie."

Prägend ist für Susanne ihre Erstkommunion. Kein schönes Kleid tragen zu dürfen, war "furchtbar", einen Anzug tragen zu müssen, empfand sie stets als Verkleidung. Wenn Susanne über ihre Vergangenheit erzählt, spricht sie von sich als Mädchen und Frau. Den Namen des Mannes, der sie einmal war, nennt sie nicht. Sie sagt stattdessen: "Punkt, Punkt, Punkt."

"Mein Penis war eine Behinderung"

profil: Transpersonen sind nicht mit ihrem biologischen Geschlecht einverstanden, sie identifizieren sich meistens mit dem anderen. Keinesfalls geht es darum, sich vom Konzept der Biologie zu befreien, im Gegenteil. Doch viele Transaktivisten stellen nicht nur das soziale Geschlecht infrage, sondern sehen auch das biologische als sozial konstruiert. Wie lässt sich das auf Transpersonen anwenden, die sich ja im falschen Körper fühlen? Wie passt das alles zusammen?

Susanne: Ja, es geht um eine Angleichung des Geschlechts. Das ist schon widersprüchlich: Wenn es keine Geschlechter gäbe, dann gäbe es auch keine Transsexualität. Es ist aber viel mehr als ein Gefühl. Der Leidensdruck ist eine existenzielle Frage, man muss sich ganz sicher sein, das geht in die tiefste Seele hinein. Mein ganzes Sein war schon immer weiblich, ich war im falschen Körper. Mein Penis war eine Behinderung.

Eine geschlechtsangleichende Operation ist ein schwerer und irreversibler Eingriff. Betroffene müssen davor verpflichtend in Psychotherapie. Bei Susanne hat es eineinhalb Jahre gedauert, um die Therapeutin davon zu überzeugen, dass sie den Schritt nicht bereuen wird.

Heute identifiziert sie sich als lesbisch. Doch bis Ende 20 lebte Susanne als Mann und hatte Beziehungen zu Frauen. "Richtigen Sex hatte ich nie. Ich bin zwei Mal eingedrungen, das war für mich eine Katastrophe. Das hat die Beziehungen extrem belastet. Ich wollte diesen Penis nicht."

profil: Jeder und jede soll das eigene Geschlecht selbst bestimmen dürfen. Man kann aber kaum fordern, dass die ganze Welt der eigenen Sicht auf sich selbst zustimmt. Nehmen wir den Fall Laurel Hubbard: Die Neuseeländerin hat bis 2013 als Mann Schwergewichte gehoben, nun wird sie als erste Transfrau zu den Olympischen Spielen zugelassen - im Frauenbereich. Von Wissenschaftern heißt es, sie habe Vorteile in Bezug auf ihre Knochen- und Muskeldichte. Soll sie als Frau antreten dürfen?

Susanne: Das ist eine sehr spannende Frage. Ich bin selbst im sportlichen Training und könnte mich niemals mit Männern messen. Hormone schlagen Genetik, wenn man sie lange genug nimmt. Ich verstehe es, wenn man den Fall Hubbard als ungerecht empfindet. Es braucht klare Regeln: Man muss so und so lange Hormone nehmen, diesen und jenen Hormonspiegel haben.

profil: Hubbards Testosteronspiegel ist niedrig genug. Es ist dennoch, wenn man den Wissenschaftern glaubt, ein unfairer Vorteil, dass sie einmal ein Mann war.

Susanne: Bei mir sind es jetzt zehn Jahre. Wo zieht man die Grenze? Ab wann dürfen "Transfrauen" im Leistungssport bei den Frauen mitspielen? Das ist schwer zu beantworten.

"Ich will eine stinknormale Frau sein"

profil: Es geht nicht nur um Körper und athletische Wettbewerbe. Viele Feministinnen werfen ein, dass eine Transfrau nicht dieselben Erfahrungen gemacht hat wie jemand, der als Frau geboren wurde.

Susanne: Ich habe in den mehr als elf Jahren, in denen ich als Frau lebe, alle Erfahrungen gemacht, die eine als Frau geborene Person auch macht. Der einzige Unterschied zwischen Ihnen und mir sind die Chromosomen, abgesehen davon, dass Sie ein Kind bekommen haben. Aber wenn wir uns darauf einigen, dass einen die Geburt eines Kindes nicht zur Frau macht, dann gibt es keinen Unterschied zwischen Ihnen und mir. Ich erfahre den gleichen Alltagssexismus. Es gibt einen biologischen Unterschied, aber den sozialen kann man angleichen. Ich bin, auch ganz offiziell, eine Frau und keine "Transfrau". Ich will in der Masse der Frauen untergehen und nicht auffallen. Ich will eine stinknormale Frau sein.

profil: Man erkennt nicht, dass Sie einmal ein Mann waren. Aber ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, einen Penis zu haben.

Susanne: Wenn wir in zehn Jahren noch einmal reden, weiß ich es auch nicht mehr.

profil: In Thailand gibt es "Sao Braphet Song", auf Deutsch "eine andere Art von Frau",auch Ladyboys, seit Jahrhunderten. Männer, die sich im falschen Körper geboren fühlen, können schon lange auf eine Alternative ausweichen. Das gibt es im christlich geprägten Westen nicht. Vielleicht liegt es daran, dass es das eine oder das andere sein muss und man eine TERF ist, wenn man von biologischen Unterschieden spricht?

Susanne: Das ist sehr spannend. Aber Sie sind keine TERF, wenn Sie auf biologische Unterschiede hinweisen, sondern wenn Sie sagen, es gibt einen Unterschied im Gender, also dem sozialen Geschlecht. Ich bin eine Minderheit in der Minderheit: Ich sage, dass es keinen Unterschied zwischen uns gibt, abgesehen von den Chromosomen.

profil: Sie sind noch einmal eine Minderheit in der Minderheit, weil nicht einmal Ihr engstes Umfeld weiß, dass Sie einmal ein Mann waren. Wieso nicht?

Susanne: Das hat mit der Stigmatisierung zu tun. Ich will nicht, dass die Leute ein anderes Bild von mir bekommen. Ich will das Bild von mir auf mein Umfeld übertragen: Ich bin eine stinknormale Frau. Es wäre sicher für keine von meinen Freundinnen ein Problem, aber mir graut vor der Vorstellung, dass eine sagt: "Ja Susanne, du kennst ja die Männer besser als wir." Es stimmt ja nicht, ich war ja nie ein Mann, sondern habe mich nur wie einer verhalten - teils auch sexistisch, aber nie authentisch.

"Man versteht gewisse Frauenanliegen erst, wenn man selbst eine Frau ist"

profil: Sie wurden also erst als Frau zur Feministin?

Susanne: Erst als ich gemerkt habe, wie scheiße das Leben als Frau sein kann. Ich war manchmal ein furchtbarer Macho. Ich hatte mehrere Freundinnen gleichzeitig, nur ohne Sex. Bis ich das Konzept von gendergerechter Sprache verstanden habe, hat es die Hormone gebraucht. Und auch dass ich auf der Straße sexistisch behandelt wurde. Man versteht gewisse Frauenanliegen erst, wenn man selbst eine Frau ist.

profil: Bevor Sie als Frau lebten, waren Sie anders, weil Sie die Erfahrungen nicht hatten. Das sagen auch die Feministinnen der alten Schule: Man wird nicht einfach zur Frau, sondern braucht dafür einen gewissen Erfahrungshorizont.

Susanne: Damit stimme ich überein. Auch ich wurde missbraucht, ich habe diese Erfahrung gemacht. Ich kann also mitreden.

profil: Sie wären aber nicht weniger Frau, wenn das nicht geschehen wäre.

Susanne: In dieser schrecklichen Debatte ist es leider so: Es ist niemand eine Frau, der diese Erfahrungen nicht gemacht hat. Es ist keine eine Frau, die keine Regelblutungen hat, das habe ich auch schon gehört. Man ist hier am Land keine richtig Frau, solange man keine Kinder hat. Aber was macht eine Frau zur Frau? Das ist immer wieder die Diskussion in der Queer-Community.

Susanne war Ende 20, als es in ihrem Leben zur Zäsur kam. Damals, noch als Mann, hatte sie eine Freundin, die genau so war, wie sie selbst sein wollte: "Ich war wahnsinnig eifersüchtig. Da hat sich alles zugespitzt." Susanne kam in eine Nervenklinik. Mit einer Sexualpsychologin sprach sie zum ersten Mal offen über alles. Schnell wurde klar: Die Sache mit den Frauenkleidern war kein Fetisch, es steckte mehr dahinter: "Ich bin draufgekommen, dass ich eine Frau bin und kein Mann - und dass das der Grund ist für meine Probleme, mein schleißiges Sexleben, meine Eifersucht und Depressionen."

Susanne geht nach Wien und beginnt ein neues Leben.

Für ihre Mutter ist das zuerst eine Katastrophe. Doch bald akzeptiert sie Susannes Entscheidung - und näht ihr Kleider und Röcke.

*Auf Wunsch unserer Gesprächspartnerin und zum Schutz ihrer Privatsphäre verzichten wir auf die Nennung ihres echten Namens.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.