Mensch & Pferd: Spuren einer jahrhundertealten Beziehung
"Das letzte Jahrhundert der Pferde“, das jüngste Buch des Kulturwissenschafters Ulrich Raulff, 66, der seit 2004 Direktor des Literaturarchivs im baden-württembergischen Marbach ist, porträtiert auf knapp 500 Seiten eine historische Hauptfigur, die sich von der Bühne des Weltgeschehens endgültig verabschiedet hat und dennoch seltsam präsent scheint. Jeder Kreisstadt ihr Reiterdenkmal, jedem Teenagermädchen seine Ponyhof-Fantasterei, jeder Metropole ihre imageträchtige Polizeireiterstaffel. Das Landleben funktioniert dagegen längst ohne Pferdekraft, die Städte sind so gut wie pferdefrei. Nur noch als "Sport- und Therapiegerät, Prestigesymbol und Assistenzfigur der weiblichen Pubertät“ genutzt, sei das stämmige Tier in den "historischen Ruhestand“ getreten, notiert Raulff.
In Wien als Welthauptstadt der Fiaker ist den Pferden der große Aufritt im Stadtkern noch vergönnt. Akustisch, optisch und olfaktorisch hinterlassen sie Spuren. Man muss nicht lange suchen, um Reste jenes "kentaurischen Pakts“ zu finden, von dem Raulff schreibt, jener jahrhundertelangen Arbeitsgemeinschaft von Mensch und Pferd, die es nur noch in der Erinnerung zu geben scheint. Der lange Abschied des Pferdezeitalters datiert laut Raulff vom ausgehenden 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, von Goethe bis zum Zweiten Weltkrieg.
Wenn man über die untergehende Pferdekultur reden will, gibt es kaum bessere Gesprächspartner als Martina Fehervary und Franz Mangelberger, die entgegengesetzte Pole der Pferdeleidenschaft verkörpern. Pferde, Pferde, Pferde - so lautet der Lebensdreiklang von Fehervary, 49, Mitarbeiterin in einem Wiener Fiaker-Betrieb. "Pferdemama“, so nennt sie sich selbst. "Pferde-Mädchen für alles.“ Der Journalist Mangelberger, 62, neigt dagegen eher zum Cowboyhaften. Seine Mustangs, aus den USA importierte Wildpferde, die einzigen in Österreich, sind sein Hobby: "Die Ausritte in froststarrer Kälte mit Seitenwind und vereister Gesichtshälfte - ein Traum.“ In ihrer jeweiligen Pferde-Parallelwelt sind beide verfangen.
Gute Chancen auf Sachbuchpreis
Das Reden über Pferde eröffnet stets auch Räume für Weltanschauungsdebatten. Die Welt ist mit Pferd und Sattel erobert worden. Auf dem Rücken der Pferde führten Menschen Kriege und unterwarfen Kontinente. Raulffs scharfsinnige Analyse der Mensch-Pferd-Beziehung, diese essayistische, mit den Mitteln enzyklopädischen Wissens und nomadisierenden Denkens entworfene Wunderkammer aus Ideen, Gedanken, Einfällen, Notizen, Roman- und Bildanalysen, hat gute Chancen auf den Sachbuchpreis des Jahres, der kommende Woche in Leipzig vergeben wird.
Das Auto mit Kennzeichen "Huf 1“ parkt hinter dem Eisentor, in der Scheune im Schatten der Gasometer-Türme in Wien-Simmering reihen sich die Kutschen aneinander. Die Hausdogge streckt sich und gähnt, als ob sie einen verschlingen wolle. Martina Fehervary, Hose in Tigerstreifenoptik, Steppjacke ohne Ärmel, Turnschuhe, geht an diesem Wintermorgen unter einem Himmel von milchigem Blau entlang einer Reihe von Holzboxen mit Fenstern, Äpfel und Karotten in den Händen. Sie ruft: "Apfi und Karotti.“ Wie auf Kommando recken sich sechs massige Pferdeschädel aus den Ställen. "Meine Kinder“, sagt sie in das Mahlen von Zähnen. "Die Pferde füttern uns, nicht umgekehrt. Wir leben von ihnen.“ Seit acht Jahren hat sie keinen Urlaub gemacht.
Tiere begleiten sie bereits ihr Leben lang. Als Jugendliche war sie Springreiterin, seit mehr als 20 Jahren führt sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Johann den Pferdebetrieb. Ihre Fiaker parken in der Innenstadt, an den Wänden der Wohnung, die an die Ställe anschließt, sind auf Fotos die Sternstunden ihres Lebens mit den Tieren versammelt. Johann auf dem Kutschbock vor dem Schloss Schönbrunn, sechs weiße Pferde im Geschirr; die Welttournee mit dem Orchesterleiter André Rieu, der auf den Fotos mit verrutschter Frisur Violine spielt; ihre Pferde als Nebendarsteller in einer "Sisi“-Neuverfilmung und in einem Film über Freud. Fehervary führt Felix, den achtjährigen Lipizzaner, in die Koppel, ein bulliges Wesen, als wäre es mit Muskeln ausgestopft. Felix tobt durch das Gatter und wälzt sich im Sand. Ein glückliches Pferdeleben?
Fehervary kennt die öffentlichen Bedenken gegen ihr Gewerbe, die langen Forderungslisten von Tierschützern, die im Appell "Pferde raus aus der Stadt“ gipfeln. Mal werden Fahrverbote bei Glatteis gefordert, mal Hitzefreiheit für die Vierbeiner ab 30 Grad. Kritisiert werden Fellabschürfungen, das lange Stehen bei fehlender Wassergabe, Lärm und Abgase. Sie ist mit den Debatten um Stellplätze, Stand- und Stallzeiten jeden Tag konfrontiert.
Ulrich Raulff widmet in seinem Buch der Pferdequälerei viele Seiten. Er führt aus, dass durch rohe, oftmals besoffene Kutscher, fühllose Passanten und das stumm leidende Lebewesen im 19. Jahrhundert just durch die Figur des gepeinigten Rosses eine Neubestimmung des Humanen eingesetzt habe: "Das geschlagene Pferd, die gemarterte Kreatur ist eine davon. Die anderen sind das arbeitende Kind, der verwundete Soldat und die Waise.“ Raulff zitiert den Schriftsteller Isaak Babel: "Das Pferd ist das ein und alles. Das Pferd ist der Retter, das spürt man jeden Augenblick, auch wenn man es unmenschlich verprügeln kann.“
"Pferde sind mythische Tiere"
Fehervary weiß um die ideologischen Gräben zwischen Tierhaltern und Tierschützern, um die Diskussionen, bei denen sich auf Basis wechselseitiger Fremdheit seit Jahren keine Gespräche ergeben. Wer den Argumenten der jeweiligen Seite folgt, befindet sich bald in einem Dickicht widersprüchlicher Aussagen. Wer sich für Tierschutz einsetzt, ist ein guter Mensch. Dass dafür vielleicht eine jahrhundertealte Pferdekultur geopfert wird, vergisst man leicht. "Pferde sind mythische Tiere, die einem uneingeschränkt Aufmerksamkeit schenken“, schwärmt Fehervary mit Blick auf Felix. "Nur wenn ihre Seelen frei sind, nur wenn sie die beste Pflege erhalten, empfinden sie Glück.“ Sie sagt das so, als wären "Seele“ und "Glück“ feststehende tierheilpraktische Begriffe.
Ulrich Raulff legt in "Das letzte Jahrhundert der Pferde“ einen elegant elegischen Ton über seinen gründlich recherchierten Abgesang, der sich nicht damit zufrieden gibt, Pferdehistorie zu referieren, sondern verblüffende Korrespondenzen zwischen Tier, Literatur, Technik, Geld und Kunst spannt. Sein Buch, das eine Pferdegeschichte der vergangenen 6000 Jahre entfaltet, sei keineswegs ein Werk über die Spezies an sich: "Mein erstes echtes Pferdebuch muss warten bis zu meiner Wiedergeburt als Pferd.“ Er schreibe, so der Autor weiter, mit gutem Grund nicht von Stall und Straße, sondern von der Bibliothek und der Gemäldegalerie her, von der Architektur und der Fotosammlung. Selbst die popkulturellen Archive von Cartoon-, Graffiti-, Mythen- und Witzekultur durchstöbert Raulff auf der Suche nach Hinweisen auf den animalischen Partner des Menschen. Die enorme literarische und ikonografische Karriere, die der Unpaarhufer erlebte, macht er auf grandiose Weise nachvollziehbar.
Raulff lässt diverse Wissenschaften kollidieren, bringt Banales mit Großem zusammen, Alltagsgeschichte mit Sozialhistorie, selbst den Gottvater mit der Vogelwelt. Über Jahrhunderte lebten Pferd und Spatz in idealer Symbiose: Der Haussperling pickte das Ungeziefer aus dem Fell, das Pferd bedankte sich mit Rossäpfeln mit hohem unverdautem Haferanteil. Raulff schreibt: "Im Auge des Spatzen sah der liebe Gott aus wie ein Pferd.“
Raulff geht den Pferde-Splittern in den Werken von Herodot, Flaubert, Kafka, Nietzsche, Schopenhauer, Musil, Rubens, Degas, Franz Marc, Lucian Freud und dem Fotopionier Eadweard Muybridge nach. Herman Melville schwankte in der Frage, ob die große Jagd einem weißen Hengst oder einem weißen Wal gelten sollte. Raulff blickt auf die nachlebenden Bilder des Heroismus, die sich über ganz Europa verteilt in Form von Reiterdenkmälern erhalten haben. Hitler ritt nicht, Mussolini ließ sich gern zu Pferd ablichten; Napoleon auf dem Pferd, den Großen Sankt Bernhard überquerend, gemalt von Jacques Louis David, schrieb Kunstgeschichte. Bill Cody alias Buffalo Bill domestizierte ab 1893 mit seinen Wildwestshows die Tiere für das Spektakel.
Lange Reitausflüge durch Hügellandschaften
Der Sturm pfeift an diesem Mittwochmorgen in mittlerer Orkanstärke. Franz Mangelberger, Cowboystiefel, Drei-Tage-Bart, weiße Lederhandschuhe, Ohrschmuck, stemmt sich im niederösterreichischen Nest Oberpyrat, eine halbe Autostunde von Wien entfernt, 600 Meter Seehöhe, gegen die Wand aus Wind. Mangelberger hat in dem Gehöft, hingewürfelten Gebäuden auf einem Grashügel mit vier Hektar Wald und Wiesen, seine beiden Mustangs Sox und Vienna eingestellt. Er besucht sie oft an den Wochenenden. Sox und Vienna, betont er gern, seien "Wildpferde“. Robuste und widerstandsfähige Tiere, eher nicht für den stadtnahen Kinderreiterhof geeignet. Er hält wenig von der Verniedlichung der Kreatur, er liebkost Sox nur manchmal als "Socke“. Er liebt die langen Reitausflüge durch Hügellandschaften. "Pferde sind Fluchttiere“, sagt er. "Vienna lässt die aufgescheuchten Rehe einfach links liegen. Sie ist die Antilopen im Herzen der Rocky Mountains gewöhnt.“
Mangelbergers Geschichte mit Sox und Vienna erzählt viel vom langen Ende des Pferdezeitalters. Die beiden Tiere stammen aus einer Zucht im amerikanischen Nirgendwo. Das Örtchen namens Oshoto, Bundesstaat Wyoming, eine Kirche, ein Lebensmittelgeschäft, Feuerwehrhaus, sagt Mangelberger, könne man sich durchaus wie im Film vorstellen - staubige Schotterstraßen, durch die Ballen von Steppengras rollen, Kojoten auf Futtersuche streunen. Zu der Adresse des Mustang-Gestüts, das sich als Containerhüttenansammlung in einem Nichts aus Landschaft erweisen sollte, musste er sich 2012 erst langsam durchfragen. Zwei Farmer eröffneten hier vor 100 Jahren mit Wildpferden, die von Reit- und Lasttieren abstammen, die einst Indianerstämmen und den frühen spanischen Siedlern gehört hatten, eine Zucht. Über Dallas und Amsterdam kamen Sox und Vienna in die Umgebung von Wien. "Von Anfang bis Ende ein großes Abenteuer“, sagt Mangelberger.
Ulrich Raulff fusioniert das Universelle der Pferdehistorie ebenfalls mit seinen Erinnerungen an eine Landkindheit Mitte des 20. Jahrhunderts in einem Westfälischen Weiler, dominiert von schweren belgischen Kaltblütlern, starken Trakehnern und Haflingern. "Über den Winterbildern meiner Erinnerung steht der Dampf ihres Atems und ihrer erhitzten Flanken, über den Sommerbildern liegt der Duft ihrer braunen Felle und hellen Mähnen.“ Er erzählt die Geschichte der Trennung von Mensch und Pferd als Lebensabschnittsabenteuer, Wissenschaftskrimi, Trauerstück, Wirtschaftshistorie, Kriegsdrama, als Universalgeschichte im Zeichen eines bestimmten Zeit- und Mentalitätsgeflechts, das in den zeitgenössischen Praktiken, Ideologien, Fach- und Alltagskenntnissen Spuren hinterlassen hat. Das Pferd, schließt er, habe weitaus mehr Deutungen als Knochen.
"Pathosformel"
Mit den vierbeinigen Lieferanten kinetischer Energie wurde vor dem einsetzenden Sturm der Mechanisierung und Motorisierung der Westen Amerikas erobert, mit dem Western eroberte Hollywood die Welt. Die kentaurische Erzählung hallt in Literatur und Kino in dem Bild der Reiternation nach, die sich in Indianer- und Sezessionskriegen wüste Schlachten im Sattel liefert. Im Leichenzug von Präsident Kennedy trabte im November 1963 auch ein vollständig gesatteltes Pferd. In den Steigbügeln trug es ein Paar Stiefel in umgekehrter Richtung, als wäre der Reiter verkehrt herum gesessen. Das militärische Zeremoniell, schreibt Raulff, habe eine "Pathosformel“ geschaffen, die an "Knappheit und Eindringlichkeit kaum zu überbieten sei: "Der große Umkehrer aller Dinge spricht nicht; einzig das Geklapper von Pferdehufen unterbricht die Stille.“
Die Mobilität in den modernen Metropolen, vom Dung und Urin der Tiere schmutzstarrend und übelriechend, stand gleichfalls früh im Zeichen von Pferdestärke und Zugkraft: ohne Pferdebusse keine Pendler, ohne Pendler keine Industrialisierung, ohne Industrialisierung keine Urbanisierung. "Wie roch eine Stadt“, schreibt Raulff, "auf die, wie auf New York um 1900, die Pferde täglich 1100 Tonnen Mist und 270.000 Liter Urin niedergehen ließen und aus der jeden Tag 20 Pferdekadaver abtransportiert wurden?“ Es sind Fakten und Nachrichten aus ferner Zeit, Geschichten aus den Echokammern des Hörensagens.
Auf den Kriegsschlachtfeldern streckt sich das Pferdejahrhundert von Napoleon bis zu den Weltkriegen mit ihren auch obszön hohen Tieropferzahlen. 16 Millionen Pferde, rechnet Raulff vor, seien in den Materialschlachten bis 1918 eingesetzt worden, gut die Hälfte davon kam in den Giftgaswolken und den Gewittern von Stahl und Schrapnell um. Schätzungen zufolge lebten 1946 in Österreich noch knapp 300.000 dieser Tiere. Gegenwärtig geht man von einem Bestand von rund 90.000 Pferden aus. Das Gesamtaufkommen an Schweinen beläuft sich laut aktueller Statistik-Austria-Bilanz dagegen auf 2,85 Millionen, an Rindern gibt es knapp zwei Millionen Stück, 76.600 Ziegen werden bundesweit gehalten. 170 Konzessionen für je zwei Pferde vergibt die Stadt Wien für das laufende Kutschenfahrtengewerbe.
Felix entspannt sich. Der Hengst pumpt Luft durch die Nüstern. Aus dem weißen Fell am Bauch schiebt sich die dunkle Penisspitze. Er schlaucht aus. "Das Pipi ist draußen“, sagt Martina Fehervary in der Koppel am Fuße der Gasometer-Backsteintürme. In die Pferdewelt kann man ihr nicht immer leicht folgen.
Wenn Franz Mangelberger über seine Mustangs spricht, schwingt die Geschichte des langen Abschieds vom Mensch vom Pferd mit. Er neigt nicht zu Sentimentalität und Schwärmerei. Er sieht eher so aus, als wäre er einmal im Leben gerne John Wayne. Über die "faszinierende Sensibilität“ von Sox und Vienna kann er dennoch Monologe halten. "Die Tiere können ihre Haut punktgenau bewegen, dabei einzelne Fliegen verscheuchen. Pferde sind exakte Beobachter. Sie reagieren auf unsere Stimmungen. Man vergisst den Alltag auf dem Rücken der Pferde.“ Er tätschelt den Hals seines Sox. Dem Bubentraum vom großen Abenteuer ein Stück näher.
Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung. C. H. Beck, 461 S., EUR 30,80