Michael Köhlmeier über das Streiten: Laptop statt Guillotine
Am liebsten streiten wir uns mit unseresgleichen. Und gerade das ist am heikelsten. Bin ich ein Schriftsteller, reizt mich nichts mehr, als dem Kollegen oder der Kollegin auszurichten, was sie tun, sei nicht gut. Mit "nicht gut" meine ich natürlich nicht moralisch verwerflich, dieses Urteil steht mir nicht zu und interessiert mich nur wenig, abgesehen davon, dass es die Kollegen nur wenig kümmern würde; ich meine, was er oder sie schreibt, ist nichts wert – Kitsch, Schund, ungelenk, süß oder sauer, zu modisch, zu altmodisch. Und schon setze ich mich dem Verdacht aus, ich neide oder wolle mich erhöhen, indem ich einen anderen niedermache. Das ist das Heikle daran. Dem Schreiner und der Malerin geht es nicht anders, wenn sie ihresgleichen kritisieren – was in der Praxis nur ein anderes Wort für streiten ist. Dabei wäre Streiten nur innerhalb der "Familie" lustvoll und sinnvoll, das heißt unter seinesgleichen. Über den Streit nur zu schreiben oder zu sprechen, ist unbefriedigend wie alle Theorie, grau eben, wie Goethe sagt. Über den Streit nur nachzudenken-was bringt's! Speisekarten kann man nicht essen.
Apropos Goethe: Er war feige. Oder es war gar nicht Feigheit. Oft verwechselt man Feigheit mit Freundlichkeit, Höflichkeit oder mit Respekt. Ich kann ja mit jemandem streiten und ihn trotzdem respektieren. Goethe hat nicht gestritten, und wenn er das Werk eines Kollegen verachtete, hat er ihm das nicht ins Gesicht gesagt, sondern dem Eckermann diktiert. Den Kleist konnte er nicht leiden, und dann hat er doch den "Zerbrochnen Krug" in Weimar uraufgeführt-Regie: Johann Wolfgang von Goethe –, und es wurde ein Reinfall, das Publikum hat gepfiffen, und viele haben den Saal verlassen, und hängen geblieben ist es am Kleist, obwohl Goethe schuld war, er hat – manche sagen boshaft absichtlich-das Stück niederinszeniert. Viel später, lange nach Kleists Selbstmord-für den Kleists Schwester Goethe verantwortlich machte-diktierte er Eckermann: "Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke." Damit meinte er Kleist. Wie es im persönlichen Gespräch zwischen den beiden zuging, weiß ich nicht. Sicher ist es irgendwo vermerkt.
Noch ein Beispiel – am 24. September 1827 notiert Eckermann:
"Ein bekannter deutscher Dichter" – es handelte sich um Wilhelm Müller, den Dichter des lyrischen Zyklus' "Die Winterreise", den Schubert vertont hat – "war dieser Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethe sein Stammbuch gegeben. Was darin für schwaches Zeug steht, glauben Sie nicht, sagte Goethe. Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von dem Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits, und unzufrieden, wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Missbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustand zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller echten Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne. Ich habe ein gutes Wort gefunden, fuhr Goethe fort, um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die Lazarett-Poesie nennen."
Ich zitiere so ausführlich, weil Goethe hier ein Wort prägt, das auf einen großen Teil unserer gegenwärtigen Literatur, jedenfalls der deutschsprachigen Literatur, zutrifft; aber auch das Verlagswesen und vor allem aber die Literaturkritik bestimmt. Lazarett-Poesie. Immerhin war Goethe schon 78 Jahre alt und ein Denkmal, was sollte er sich da noch streiten. Er ärgerte sich. Sich ärgern ist streiten ohne Gegenüber, entweder weil keines sich zeigt oder weil man eben zu feige ist – oder zu freundlich – oder zu höflich – oder zu träge.
Die Schriftsteller heute streiten nicht mehr. Nicht mehr wirklich. Sie schreiben gegen den Kapitalismus an oder gegen die Regierung und gegen den Krieg, den sie nicht kennen, aber über den sie meinen, in gehämmerten Thesen Abschließendes sagen zu können, obwohl ihnen in ihrem eigenen Leben nichts Schlimmeres passierte, als dass der Radiergummi in die Kaffeetasse fiel – aber miteinander streiten tun sie nicht. Dabei hat es so interessante, nicht nur furchtbare, sondern auch fruchtbare Streits gegeben in der Geschichte der Literatur! Denken wir an den Streit zwischen Heinrich Heine und Ludwig Börne – ein typischer Streit innerhalb der "Verwandtschaft". Börne dachte politisch nicht viel anders als Heine, sein reportagehafter Erzählstil war dem Heines nicht unähnlich, siehe dessen "Reisebilder", außerdem waren beiden einmal Freunde gewesen. Oder der Streit zwischen den Brüdern Thomas und Heinrich Mann – so heftig, dass sich Thomas gemüßigt sah, ein ganzes Buch daraus zu machen, "Betrachtungen eines Unpolitischen". Oder der sogenannte "Zürcher Literaturstreit" im Jahr 1966, der im Anschluss an eine Rede des Germanisten Emil Staiger ausbrach, in der er unter anderem sagte: "Man gehe die Gegenstände der neueren Romane und Bühnenstücke durch. Sie wimmeln von Psychopathen, gemeingefährlichen Existenzen, von Scheußlichkeiten großen Stils und ausgeklügelten Perfidien. Sie spielen in lichtscheuen Räumen und beweisen in allem, was niederträchtig ist, blühende Einbildungskraft" – was zu heftigen Attacken Anlass gab, die wortgewaltigste von Max Frisch.
"Cancel Culture" – was für ein schrecklicher Begriff! – ist doch nichts anderes als angewandte Lazarett-Poesie, nichts anderes als Jammern, ein besonders jämmerliches, nämlich scheinheiliges Jammern obendrein, weil da nicht selten einer im Interesse anderer jammert, wobei die anderen, das muss dazugesagt werden, ihn nicht darum gebeten haben. Da jammert ein Schutzengel. Sie haben zwar Brecht nicht gelesen, das tut ja heute niemand mehr, aber jenen berühmten Vers aus seinem Gedicht "An die Nachgeborenen", den haben sie sich innen an die Gehirnschale tätowieren lassen:
Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Und weil sie selbst bekanntlich alles richtig machen, wollen sie alles noch richtiger machen, indem sie ihren lazarett-poetischen Blick schweifen lassen, wo sich einer finde, der da nicht jammert, und den schauen sie an, als würde er über so viele Untaten schweigen. Wer sich freut, ist verdächtig.
Die Literaturkritik der letzten Jahrzehnte hypte das Jammern und das Klagen. Je besser es uns in der Mitte Europas ging – und uns ging es verdammt gut! –, desto vortrefflicher wurde gejammert. Man stelle sich vor, ein zeitgenössischer Dichter würde von der Lieblichkeit der Welt schreiben – ganz im Geiste von Goethes "Ein Gleiches" oder wie Heinrich Heine in seinem "Buch der Lieder" –, nicht auszudenken, wie die Mundwinkel der Kritikerin noch weiter nach unten wandern würden. Die Schönheit ist ausgetrieben worden, an ihre Stelle wurde ein kuchensattes Gejammer gequetscht, das Fette, an dem das Feuilleton zu würgen hat, als ob, wer würgt, recht hätte. So gut konnte es den Dichtern und Dichterinnen gar nicht gehen, dass sie aufs Flennen hätten vergessen wollen. Und wenn's ihnen selber allzu offensichtlich gut ging, dann fanden sie in der weiten Welt, die von Hietzing bis in den Regenwald Brasiliens und in die Slums von Detroit reichte, irgendjemanden, zu dessen – ungebetenem-Anwalt sie sich aufschwangen, nur damit der Sauertopf nicht ungenutzt herumstand. Zu keiner Zeit war die Lazarett-Poesie so in Mode wie in den besten Jahren, die jene Dichter und Dichterinnen in der besten Gegend der Welt erlebten. Zufrieden sein schon-aber es nur ja nicht zugeben! Die Worte für die Freude, die Worte für den Unfug, die Worte zur Beschreibung der Idylle – sie scheinen ausgegangen zu sein. Siehst du, siehst du, sagen die Jammerer und fragen mich: Woher, meinst du, kommt das, na? Und sie antworten: Daher, weil uns die Freude ausgetrieben wurde, die Lust am Unfug, die Sehnsucht nach der Idylle, die Hoffnung, der Glaube, die Liebe. Wer hat euch ausgetrieben? Schon schnellt der linke Zeigefinger in die Höhe: Die Umstände, die Gesellschaft – und so weiter, es lässt sich ein Dutzend Synonyme nennen, nur ein Wort ist nicht dabei: Ich. Wie erfrischend wäre es, einen Roman zu lesen, in dem der Held den Grund für all die Scheiße, in der er hockt, bei sich selber findet. Nehmt euch ein Beispiel an Michel Houellebecq! Auch er schreibt Lazarett-Poesie, aber erstens hat er Witz, zweitens ist er autark, und jammern tut er auch nicht.
Wobei ich die Erfahrung gemacht habe, so mancher Lazarett-Poet – wollt ihr auch in diesem Fall darauf bestehen, dass ich gendere? – ist im täglich privaten Umgang gar nicht so miesepetrig, wie seine/ihre Werke wirken, er/sie will nur mithalten. Auch die Jammerer haben nämlich eine Fangemeinde, und die kann zuhauen, wenn jemand ihren Guru auch nur schief anschaut – und sie haut besonders schmerzhaft zu, wenn rauskommt, dass der Guru heimlich Wein trinkt. Thomas Bernhard hat sich sein Plätzchen als Schimpfer gesichert. Man muss dem Fandom Futter geben. Hätte er eines Tages mit dem Schimpfen aufgehört, er würde einen großen Teil seiner Leserschaft verloren haben. Und nun besteht Gefahr, er wird vergehen, wenn seine Gemeinde vergeht.
Manche Autoren und Autorinnen haben sich ein eigenes Lazarett-Poesiealbum abgezirkelt, klein, putzig, aggressiv, und sie verteidigen es eifersüchtig, bewaffnet mit immer neuen Büchern, in denen sie immer wieder und immer wieder das Gleiche in immer wieder dem gleichen Stil auf den Markt bringen. Es scheint, als wollten sie sich entschuldigen, dass der Weltgeist sie nicht einer Katastrophe für würdig hielt. Auf keinem Bild, das für die Öffentlichkeit bestimmt ist, lachen oder lächeln sie. Nichts darf Freude machen und so weiter alles Bunte könnte böse gemeint sein und so weiter Wer streitet, der wünscht sich, dass zurückgestritten wird. In Zeiten, in denen die Lazarett-Poesie den Markt zu beherrschen droht, wird nicht zurückgestritten, sondern ausgeladen – wie die Autorin und Kabarettistin Lisa Eckhart 2020 beim Hamburger Literaturfestival "Harbour Front". Streiten kann nämlich laut sein, und wer jammert, dem tut etwas weh, wer im Lazarett liegt, dem tut etwas weh, da muss man leise treten und ernst schauen, denn wer da lacht, der ist gemein. Gern wären sie Jakobiner – halt mit ihrem Laptop und nicht mit der Guillotine.
Michael Köhlmeier, 72, zählt zu den bekanntesten deutschsprachigen Gegenwartsautoren mit umfangreichem Werk, darunter Essay-und Märchensammlungen, Radiofeatures, Drehbücher, Musikalben und Romanen. Zuletzt erschien der episch angelegte Katzenroman "Matou" und der Gedichtband "Dr. Melchiors lustige Tiere". Köhlmeier lebt und arbeitet in Hohenems und Wien.
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